Jenseits der Menschlichkeit

Die Europäische Union plant eine weitere erhebliche Einschränkung des Asylrechts. Dabei sind die bestehenden Bedingungen für Flüchtlinge schon schlimm genug – wie ein Blick auf die jüngsten Abschiebungen und die Zustände während der Abschiebehaft zeigen.

„So was hätte ich in einem demokratischen Land wie Deutschland nicht für möglich gehalten“, sagt die 37-jährige K. am Telefon, und ihre Stimme zittert ein bisschen, als sie erzählt, was ihr passierte. Sie war vor fünf Jahren aus dem Kosovo nach Singen gekommen, um wieder bei ihrem Ehemann zu leben, der seit vielen Jahren am Hohentwiel für eine Baufirma arbeitet. Das ging auch zwei Jahre lang ganz gut – bis eines morgens Polizisten die kleine Mietwohnung der beiden stürmten, die Frau verhafteten und in Abschiebehaft sperrten.

Weshalb diese Aktion? Nun, ganz legal war die schlanke Frau mit den blauen Augen nicht eingereist. Sie wollte mit ihrem Mann zusammen sein und hatte gehofft, dass sich ihr Status im Zuge eines Familiennachzugverfahrens schon irgendwie regeln lassen würde. Doch es gab ein Problem: K. hatte zuvor die Deutschprüfung in Pristina vermasselt. Es gab Gründe dafür, die aber die Behörden nicht gelten ließen. „Ich kann mich nicht gut konzentrieren“, erläutert sie. Als 13-Jährige hatte sie mit ihrer Familie während des Kriegs vor serbischen Truppen fliehen müssen; die schrecklichen Geschehnisse, die sie damals erlebte, konnte sie bis heute nicht verarbeiten – auch weil es keine Hilfe für die in bitterarmen (und bildungsfernen) Verhältnissen aufgewachsene junge Frau gab.

In Singen gab es die Chance, dass sie sich von den Traumata erholt. Sie hatte zwar keine Papiere, aber ihr Mann verdiente genug. Zudem fand sie nach einiger Zeit Arbeit als Putzfrau, lag also niemandem auf der Tasche.  Und dann der nächste Schock: Die Festnahme, der Abtransport und die wochenlange Inhaftierung in einem bayrischen Abschiebegefängnis.

„Ich zittere noch heute, wenn ich daran denke“, sagt K. beim Telefonat  – sie lebt jetzt wieder in Ferizaj, einer Stadt im Südosten des Kosovo. „Wir durften nur einmal am Tag in den Hof und ein bisschen den Himmel sehen, sonst sah ich nur Mauern.“ Die Wärterinnen hätten sie geschubst, manchmal auch ein Bein gestellt und Unverständliches auf sie eingeredet. „Ich habe nur ‚gefälschte Papiere, gefälschte Papiere’ verstanden und nie gewusst, was als nächstes passieren wird.“ Es sei eine schlimme Zeit gewesen, „ich wurde behandelt, als wäre ich eine Kriminelle“, und das Essen war miserabel. Vier Wochen ging das so. „Als meine Mutter und meine Schwester mich nach der Abschiebung im Kosovo sahen, weinten sie, weil ich so dünn war und so schlecht aussah.“

1650 allein aus Baden-Württemberg

Der baden-württembergische Abschiebeknast in Pforzheim. Bild: Wikipedia

Was die Kosovarin K. in Abschiebehaft erlebte, ist kein Einzelfall. Jährlich werden hierzulande Tausende in eins der bundesweit dreizehn Abschiebegefängnisse verschleppt (fünf weitere sind in Planung); die meisten von ihnen können sich gegen den Freiheitsentzug kaum wehren, weil sie die Sprache nicht sprechen und das System zu wenig kennen. Insgesamt wurden 2022 laut Regierungsangaben 12.945 Menschen abgeschoben, davon 1650 aus Baden-Württemberg; 26.500 sollen Deutschland „freiwillig“ verlassen haben.

Wie es dabei zugeht, kann Peter Fahlbusch berichten. Der Anwalt aus Hannover arbeitet seit zwanzig Jahren mit Menschen in Abschiebehaft; insgesamt hat er bisher nach eigenen Angaben 2365 Abschiebehäftlinge vertreten. Davon sind, so seine Erhebung, 1243 Menschen – knapp 53 Prozent – rechtswidrig inhaftiert worden, manche für einen Tag, andere monatelang. Im Durchschnitt, so Fahlbusch, befanden sich seine Mandant:innen 25,8 Tage (fast vier Wochen) zu Unrecht in Haft.

Abschiebungen aus der Region

Beim Flüchtlingsgipfel der Ministerpräsident:innen am 10. Mai und beim Gipfeltreffen der EU-Innenminister:innen am 8. Juni einigten sich die deutschen und europäischen Politiker:innen auf umfassende Rechtsverschärfungen. Vorgesehen sind dabei unter anderem Internierungszentren an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dies sei „ein menschenrechtlicher Dammbruch“, kritisiert die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Zudem verlangen viele Politiker:innen, dass nun endlich die Abschiebungen von geduldeten Geflüchteten intensiviert werden müssten.

Dabei haben Abschiebungen in den letzten Monaten bereits zugenommen – auch wenn dies die Öffentlichkeit kaum wahrnimmt. Drei aktuelle Beispiele:

– So wurde Lamin, ein gut integrierter Schüler und Mitglied der Konstanzer Theatergruppe „Colourful Minds“ bei Nacht und Nebel nach Gambia abgeschoben.
– Malamine, ein Flüchtling in Biberach, wurde im April um 2 Uhr morgens nach Spanien abgeschoben, obwohl er am 9. Mai noch einen Termin vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart gehabt hätte (bei dem es um sein Aufenthaltsrecht ging).
– Der junge Tijam wurde am 28. Februar von der Polizei von der Berufsschule abgeholt und nach Gambia abgeschoben, obwohl er in Konstanz einen Ausbildungsplatz hatte und die Zeppelin-Gewerbeschule besuchte. Seine Lehrer:innen und Mitschüler:innen waren entsetzt – und wollen ihn zurückholen.

Ähnliches erzählte auch Sebastian Nitschke, als er Ende März auf einer Veranstaltung der seebrücke in Konstanz zu Gast war. Er stellte sein Buch „Die Würde des Menschen ist abschiebbar“ vor. Darin schildert er unter anderem den Fall eines Flüchtlings, der einen Asylantrag stellte, im Camp lebte, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und nach einer Woche die Ablehnung zugeschickt bekam: „Das Datum des Briefs war nur einen Tag nach dem Interview. Wie können sie innerhalb eines Tages entscheiden? Das ging so schnell, die können das gar nicht richtig überprüft haben. Die Ablehnung war ausführlich auf deutsch geschrieben, aber nur ein kleiner Teil ins Arabische übersetzt.“

Meistens ohne Rechtsbeistand

Der Betroffene reichte innerhalb einer Woche Klage ein, obwohl er keinerlei Unterstützung oder Beratung im Camp bekam; sie wurde ebenfalls im Eilverfahren abgelehnt.

Im Klageverfahren gibt es für die Betroffenen keine anwaltliche Vertretung und auch keine Beratung. Dabei hatten im Oktober letzten Jahres die Hilfsorganisation Pro Asyl und fünfzig weitere Initiativen und Verbände den Bundestag sowie die Bundesminister*innen dazu aufgefordert, Menschen die sich in Abschiebehaft befinden, Anwält*innen zur Seite zu stellen und das gesetzlich vorzuschreiben. Menschen ohne anwaltschaftlichen Schutz in Haft zu nehmen sei eines Rechtstaates unwürdig, heißt es im Positionspapier. Johanna Schmidt-Räntsch, von 2002 bis 2021 Richterin am Bundesgerichtshof, sprach sich ebenfalls für eine Pflichtverteidigung aus . Bereits im Jahre 2014 schrieb sie, dass „geschätzt 85 bis 90 Prozent“ aller Haftanordnungen für die Abschiebehaft „rechtswidrig“ seien. Geschehen ist seither aber: nichts.

Diese (absichtliche) Gesetzeslücke hat für die Betroffenen fatale Folgen. Da sie nicht arbeiten dürfen, können sie sich keine anwaltschaftliche Vertretung leisten. Laut Nitschke können die Verhafteten zwar meistens eine Stellungnahme abgeben, äußern sich jedoch nicht zu den juristisch relevanten Punkten. Dies sei ihrer Unkenntnis über das Abschiebehaftrecht und dem Mangel einer anwaltlichen Pflichtverteidigung geschuldet. Zudem sind die Anhörungen in der Regel sehr kurz: Eine Initiative für Gefangene in Bühren berichtete zum Beispiel von einer Anhörung von sieben Personen, die insgesamt 24 Minuten dauerte: Das entspricht weniger als dreieinhalb Minuten pro Person.

Nur Brot für den Herzpatienten

Dabei lägen – so Nitschke, der manchmal selber Menschen vor Gericht begleitet – die Haftbeschlüsse den Richter*innen meist schon länger vor, die sie dann per Copy-and-paste einfach übertragen, „was die Ausländerbehörde geschrieben hat. Manche Richter sagen sogar, sie sollen den Antrag auch noch als PDF-Dokument schicken, damit sie weniger Arbeit haben, das zu übertragen.“ Auch sei es üblich, nicht den gesamten Asylbescheid in einer für die Asylsuchenden verständlichen Sprache zu übersetzen, sondern lediglich wenige Auszüge.

Und noch etwas verstört: der Umgang der Behörden mit gesundheitlich angeschlagenen Abschiebehäftlingen. In seinem Buch zitiert er den offenen Brief eines inhaftierten, in Deutschland geborenen, herzkranken Türken, der schildert, wie mit ihm umgesprungen wurde.

Hier Auszüge aus dem Schreiben von Adem K. (auf Seite 54ff des Buchs): „Meine Herzpumpfunktion ist bei 28 Prozent. Laut den Ärzten habe ich eine Lebensdauer zwischen neun und dreizehn Jahren. (…) Die Ernährung ist eine Katastrophe. Man bekommt morgens Brot, mittags um 12 Uhr warmes Dampfessen und abends Brot (…) Es gibt kein Obst und Gemüse. (…) Man sieht es den Leuten an, dass dieses Essensproblem sie fertig macht. (…) Die Menschen, die hier auf ihre Abschiebung oder Entlassung warten, haben alle eine lange Reise hinter sich mit vielen Qualen und Verlusten. Mit enormen Kosten. Das sind Menschen, die keine Straftat begangen haben (…) Es macht alle hier fertig. Die, die sich auf ihre Art beschweren, weil sie nicht die deutsche Sprache beherrschen, bekommen Schlaftabletten und Beruhigungstabletten. Bis zu drei Stück am Tag. Jeden Tag. (…) Bitte helfen Sie uns. Nach mir werden noch viel mehr Menschen kommen, die eventuell auch starke Erkrankungen haben. Keiner hat das verdient.“

93 Tage verbrachte Adem K. in Haft, dann wurde er in die Türkei abgeschoben. Und er hat recht: Die Menschen in den Abschiebegefängnissen haben keine Straftat begangen. Als Haftgrund dienen zumeist drei Vergehen: Erstens die sogenannte Identitätstäuschung, der Vorwurf, falsche Angaben zu ihrer Person gemacht zu haben. Zweitens: Sie waren mehr als drei Tage nicht in den ihnen zugewiesenen Unterkünften, hatten sich nicht ordnungsgemäß abgemeldet oder sonst einen Fehler begangen. Oder sie hatten sich, drittens, bereits in der Vergangenheit einer Abschiebung entzogen.

Kein Buch, kein Besuch – nichts

Auch andere Betroffene berichten von einer schlechten medizinischen Versorgung. Man bekomme nur Schmerz- oder Schlaftabletten, Bandscheibenvorfälle würden ignoriert, spezielle Arzneimittel seien kaum zu bekommen. Dazu immer wieder Isolationshaft – auch im baden-württembergischen Abschiebegefängnis Pforzheim. Darüber schrieb die Aktion Bleiberecht 2019 in einem Demoaufruf: „Die Isolierten haben keinen Kontakt mit anderen Gefangenen. Sie müssen Anstaltskleidung tragen, dürfen weder duschen noch die Wäsche wechseln. Während der Isolation bekommen sie nichts, um die Zeit zu verkürzen, kein Buch, keine Zeitschriften, keine Gebetskette, kein Radio – nichts. Und sie wissen nicht, wie lange sie in Isolationshaft bleiben müssen.“

Mitunter kommt es auch vor, dass EU-Staatsbürger*innen aus Südosteuropa in Abschiebehaft kommen, so Nitschke. Darunter auch Arbeitsmigrant*innen, die im Billiglohnsektor tätig sind (etwa der Fleischindustrie) und leicht gekündigt werden, manchmal vor Ablauf des Arbeitsvertrags. Dann stehen sie auf der Straße, sind mittellos, und wenn sie dann wegen eines geklauten Brotes im Supermarkt erwischt und verurteilt werden, landen sie ebenfalls in Abschiebehaft.

Und Frau K.? Sie lebt mittlerweile bei ihrer Mutter im Kosovo. Ihr Mann ist in Singen geblieben, weil er Geld verdienen muss; auf das ist die Familie im Kosovo angewiesen. Wie ihre Zukunft aussieht, weiß K. nicht. Aber sie weiß, dass Deutschland bei weitem nicht so ist, wie viele glauben. „Die Menschen sagen, dass man da frei leben könne“, sagt sie im Verlauf des Gesprächs. „Aber das gilt nur für privilegierte Leute, nicht für uns Arme.“

Text: Vjollca Veliqi / Kastentext: Doris Künzel
Fotos: Symbolbild oben: unsplash.com / Abschiebegefängnis Pforzheim: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12634790) / Kundgebungen für Flüchtlinge auf der Konstanzer Marktstätte (August und Dezember 2021): Pit Wuhrer