Kein Blick nach vorn ohne den Blick zurück

Über die Berechtigung von Gedenktagen lässt sich meist streiten, ersticken doch formelhafte Rituale oft die guten Erinnerungsabsichten. Außer jeder Frage steht im ersten Jahr des neuen Jahrzehnts indes die Verpflichtung, jene Geschehnisse ins öffentliche Bewusstsein zu rufen, die vor 75 Jahren einem der düstersten Abschnitte der Menschheitsgeschichte ein Ende setzten. Der Blick zurück auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom deutschen Faschismus muss dabei einem klaren Ziel dienen: Taugliche Konzepte zu entwickeln, die dem Wiederaufleben der braunen Ideologie in Wort und Tat ein Ende setzen. Nicht zuletzt deshalb hat der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar in diesem Jahr 2020 besonderes Gewicht. In Konstanz gibt es dazu zwei Veranstaltungen, denen viel Zuspruch zu wünschen ist.

Im Folgenden die Einladungstexte, nur unwesentlich redigiert:


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Der Nathankomplex

Vorträge über Antisemitismus haben Konjunktur. Gerd Buurmann macht es anders. Ebenso unverhofft wie kurzweilig erzählt er mit glänzender schauspielerischer Leistung über zweitausend Jahre Kulturgeschichte. Der Nathankomplex ist vieles: Er wehrt Fehlinterpretationen von Heine ab, lässt zweifeln, aber auch hoffen. Judenfeindschaft hat Traditionen, weiß Buurmann. Sie setzt jahrhundertealte Gemeinplätze fort, ist in der christlichen Kultur und den Gepflogenheiten der internationalen Staatengemeinschaft zu identifizieren. Nicht zuletzt wühlt der Nathankomplex daher in den Grundfesten der postnazistischen Bundesrepublik, in ihrem Umgang mit der eigenen Geschichte, der Shoah und Israel.

Gerd Buurmann, spielt und inszeniert in diversen freien Theatern von Köln bis Berlin. Seine aktuellen Rollen reichen von Shakespeares Shylock bis Neil Simons Barney. Als Autor verfasst er Theaterstücke sowie Glossen und Artikel für seinen Blog „Tapfer im Nirgendwo“. Mit seinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von ihm entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ ist er alljährlich unterwegs.

Termin: Montag, 27, Januar 2020. Zeit: 19:30 – 21:00 Uhr. Ort: Wolkensteinsaal, Kulturzentrum am Münster. Eintritt: frei

Veranstalter: Deutsch Israelische Gesellschaft Bodensee Region (DIG) in Kooperation mit Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz e.V., Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“, Kulturamt der Stadt Konstanz, Synagogengemeinde Konstanz, Volkshochschule Landkreis Konstanz e.V.


Hannes Heer: „Nacht und Nebel“

Die Mörder sind unter uns oder: Der Film, mit dem alles anfing (1945-1956)

Der Griff Nazideutschlands zur Weltmacht endete mit der totalen Niederlage und der Bilanz von 40 Millionen unschuldig Getöteter. Diese Schuld wurde von den Deutschen nie akzeptiert, sondern einer Bande von Kriminellen zugewiesen – „Hitler war’s“. In der BRD hat sich diese Wahrheit nur in Form ununterbrochener Tabubrüche durchgesetzt. (…)

„Nacht und Nebel“ – das mehrfach preisgekrönte, halbstündige Dokumentarstück war der erste Film über das KZ Auschwitz. Alain Resnais hatte die Reste 1955 vor Ort in Farbe gedreht und die Schwarz-Weiß-Dokumente aus Archiven eingefügt. Aus diesem Material rekonstruierte er den Planeten Auschwitz mit seinen individuellen Toden und dem Massenmord im Gas, die Filiale von Krupp, Siemens, IG Farben zur industriellen Verwertung der Häftlinge und die Leichengebirge mit den letzten Sterbenden bei der Befreiung. Am Ende der Reise und zurück in der Gegenwart blieb eine Frage: „Ich bin nicht schuld, sagt der Kapo. Ich bin nicht schuld, sagt der Offizier. Ich bin nicht schuld. Wer also ist schuld?“ Der Film gab keine Antwort, weil 1945 alle die Antwort wussten und schwiegen.

Aber 10 Jahre später erinnerte Resnais daran, dass die BRD aus dem Schweigen eine lautstarke Rehabilitierung und Amnestierung der Nazi-Eliten gemacht hatte. Weil Nacht und Nebel dieses Konstrukt radikal in Frage stellte, ließ die Bundesregierung den für die Festspiele in Cannes nominierten Film der „deutsch-französischen Aussöhnung“ zuliebe im April 1956 aus dem Programm streichen. Aber anders als früher gab es diesmal einen internationalen Skandal, Proteste in Westdeutschland und die Aufführung des Films bei der Berlinale. Die Regierung ging in die Vorwärtsverteidigung: Der Film konnte ab Januar 1957 nur für nicht-kommerzielle Zwecke von Vereinen, Institutionen und Schulen angefordert werden. Trotz dieser Zensur wurde Nacht und Nebel ein „Wendepunkt“ der Erinnerungspolitik und für 17/18jährige Jugendliche „zur ersten Konfrontation mit den Verbrechen“ des Dritten Reiches (Habbo Knoch).

Hannes Heer, Jg. 1941, Studium der Geschichte und Literatur in Bonn, Freiburg und Köln. Aktivist im SDS.1968 Staatsexamen und sofort Berufsverbot. Rundfunkautor. 1975-1979 Lehrbeauftragter Universität Bremen. 1980-1985 Dramaturg und Regisseur am Deutschen Schauspielhaus und an den städtischen Bühnen Köln. 1985-1992 mehr als 20 Dokumentarfilme für ARD und ZDF. Er leitete u. a. die Ausstellungen „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ und „Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der Juden aus der Oper 1933 bis 1945.“ Heer hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Antisemitismus, Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung verfasst. Er ist Träger der Carl-von-Ossietzky-Medaille und lebt in Hamburg.

Termin: Donnerstag, 30. Januar 2020. Zeit: 19:30 – 21:00 Uhr. Ort: Wolkensteinsaal, Kulturzentrum am Münster. Eintritt: frei

Veranstalter: Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“ in Kooperation mit Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, Deutsch Israelische Gesellschaft Bodensee Region (DIG), Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz e.V., Konstanzer Friedensinitiative, Kulturamt der Stadt Konstanz, seemoz e.V., Synagogengemeinde Konstanz, Volkshochschule Landkreis Konstanz e.V., VVN-BdA Kreisvereinigung Konstanz u.a.


MM/jüg (Bild: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413/Stanislaw Mucha [CC BY-SA 3.0 DE])