KMDD – eine Zauberformel aus Konstanz

Wie löst man Konflikte durch Diskussion statt durch Gewalt, Betrug oder Machtanwendung? Das ist das Forschungsfeld des Konstanzer Professors Georg Lind, dazu hat er die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) entwickelt. Seemoz sprach mit dem Psychologen über Lernerfolge mit Schülern und Lehrern, über Probleme bei Strafgefangenen und Medizinstudenten und über die Vision von einer Welt, in der Konflikte durch Denken und Diskussion gelöst werden

Wird man durch die von Ihnen entwickelte Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) zum besseren Menschen, Professor Lind?

Mit der KMDD kann man lernen, sich so gut zu verhalten, wie man es selbst eigentlich möchte. Wie schon Sokrates vor zweiundeinhalb Jahrtausenden beobachtet hat, wollen alle Menschen gut sein. Aber uns allen gelingt dieses – mehr oder wenig – schlecht. Das war schon zu Sokrates’ Zeiten so und es wird auch immer so sein. Zwischen Wollen und Können klafft in unserem Verhalten immer eine Kluft. Um diese Kluft zu überbrücken, benötigen wir Moralkompetenz, Ich habe die KMDD entwickelt und immer wieder verbessert, um diese Fähigkeit zu fördern.

Es geht, soviel habe ich verstanden, um moralische Urteilsfähigkeit…

…ja, es geht um moralische Urteils- und Diskursfähigkeit, also um die Fähigkeit, gemäß unserer moralischen Ideale und Prinzipien zu urteilen und zu handeln sowie um die Fähigkeit, Konflikte mit anderen auf der Grundlage gemeinsamer Moralprinzipien (wir wollen ja alle gut sein!) durch Diskussion zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug oder Machtanwendung. Weil das alles so kompliziert klingt und lang auszusprechen ist, reden wir einfach von Moralkompetenz.

Immerhin lässt sich mit dem auch von Ihnen entwickelten Moralischen Urteil-Test (MUT) die KMDD-Wirkung nachweisen. Wie muss man sich das vorstellen – als Hitliste der Konfliktvermeidungsstrategien?

Konflikte lassen sich nicht vermeiden, auch dann nicht, wenn alle gut sein wollen. Es sind gerade moralische Ideale, die uns oft in Konflikte treiben, wenn die Menschen, die hohe Ideale haben, nicht auch gleichzeitig die Fähigkeit haben, diese hohen Ideale durch Denken und Diskussion zu lösen. Sie wissen ja, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, und am schlimmsten sind die Kriege, die beide Seiten für „gerecht“ halten. Wir brauchen beides, moralische Ideale und moralische Kompetenz.

Mit dem von uns entwickelten MUT können wir erstmals diese Fähigkeit testen. In Studien hat sich gezeigt, dass von dieser Fähigkeit vieles abzuhängen scheint: die Einhaltung von Gesetzen und Normen, das Hilfeverhalten, der Einsatz für demokratische Grundwerte, die Fähigkeit zu schnellen Entscheidungen und sogar das allgemeine Lernverhalten. In all diesen Fällen zeigt sich, dass die Fähigkeit für die Lösung von Konflikten notwendig ist. Mit anderen Worten, moralische Ideale sind wichtig, aber sie reichen nicht.

Ihre Methode ist mithin im Großen bei politischen Konflikten wie im Kleinen bei Familien-Streitigkeiten anwendbar?

Die KMDD dient nicht dazu, für andere Konflikte zu lösen. Vielmehr dient sie dazu, die Menschen selbst in die Lage zu versetzen, ihre Konflikte zu lösen. Das ist neu. Es ist vielleicht das Revolutionärste an der KMDD. In der Vergangenheit war demokratische Bildung oft paradox. In der guten Absicht, Menschen mündig zu machen, hat man sie in Wahrheit bevormundet, ihnen vorgeschrieben, was sie zu denken haben und wie sie Konflikte lösen sollen. Etwas Bevormundung steckte auch noch in der Methode von Lawrence Kohlberg, mit der wir zunächst begonnen haben. Dort sollen die Lehrer den Schülern „gute“ Argumente vorsagen, die diese lernen sollen. Bei der KMDD werden die Teilnehmer (ob jung oder alt) dazu ermutigt, selbst zu denken und mit anderen zusammen selbst Lösungen zu erarbeiten. Wenn sie sehen, wie schön das ist, bekommen sie richtig Lust auf demokratisches, respektvolles Umgehen miteinander. Viele Teilnehmer, selbst ältere, sagen, dass sie das bei uns zum ersten Mal erlebt haben.

Sie haben Ihre Methode an Schulen, Hochschulen, im Justizvollzug und in der Sozialarbeit, aber auch in anderen Ländern wie Polen, Kolumbien, Brasilien, Chile und Mexiko unterrichtet. Bei der Bundeswehr haben Sie Offiziere, Truppenpsychologen und Militärgeistliche zu KMDD-Lehrern geschult. Mit welchem Erfolg?

Erfolg misst sich an vielem. Fast alle Teilnehmer reagieren positiv auf die KMDD-Sitzungen. Sie sagen, dass sie dadurch sehr viel gelernt haben. Schüler, die ihre Lehrer sonst als desinteressiert und als Störer erleben, beteiligen sich plötzlich an den Diskussionen, liefern oft gute Beiträge. Lehrer, die bei uns die KMDD gelernt haben, berichten von guten – manchmal sogar spektakulären – Auswirkungen auf die Lernatmosphäre in der Klasse. Obwohl es bei der KMDD „nur“ um die Bearbeitung moralischer Dilemmas geht, entwickeln die Schüler ein stärkeres Interesse am Unterricht. Vielleicht hören sie jetzt Lehrern deswegen richtig zu, weil diese (in der KMDD) auch ihnen einmal richtig zugehört haben. Lehrer und Schüler berichten von einem Rückgang an Störungen und anderen Vergehen.

Schließlich messen wir regelmäßig die Wirksamkeit der KMDD durch Vor- und Nachtests. Das machen wir immer anonym (damit keiner Grund zum Betrügen hat). Da der MUT kurz ist und auch online ausgefüllt werden kann, belastet er kaum. Die Messungen zeigen, dass der Zuwachs an Moralkompetenz schon nach einer KMDD-Sitzung von 90 Minuten höher ist als im ganzen Schuljahr – wenn sie da überhaupt steigt.

Georg Lind (* 1947 in Gleisweiler, s. Foto) studierte nach dem Abitur am Gymnasium Weierhof 1967 Psychologie in Mannheim, Braunschweig und Heidelberg. Der Abschluss zum Diplompsychologen war 1973, die Promotion in Sozialwissenschaften 1984 in Konstanz nach einer Tätigkeit im Sonderforschungsbereich 23 „Bildungsforschung“. Die Habilitation erfolgte an der katholischen Universität Eichstätt 1992. Seine Lehrtätigkeit nahm er 1993 in Konstanz auf, wo er 2001 zum Professor ernannt wurde. Lehraufträge nahm er an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der University of Illinois in Chicago und an der Universität Monterrey wahr. Er ist Gutachter der Hans-Böckler-Stiftung (lt. Wikipedia).

Eine Fähigkeit muss nämlich angewandt werden, wenn sie nicht abnehmen soll. Die Moralkompetenz steigt kaum, wenn wenige Möglichkeiten vorhanden sind, sie anzuwenden. Sie nimmt ab (wie Muskeln, die zu lange im Gipsverband liegen), wenn Denken und Diskurs lange Zeit unterbunden werden, wie zwei Beispiele zeigen, die wenig miteinander zu tun haben scheinen, nämlich Gefängnisse und Medizinstudium. Strafgefangene und Medizinstudierende haben gemeinsam, dass bei den meisten die Moralkompetenz zurückgeht. Das lässt sicher aber ändern. In einem Gefängnis konnten wir wissenschaftlich nachweisen, dass sich der Negativtrend durch wenige KMDD-Sitzungen umkehren lässt. Die Gefangenen hatten Freude an den KMDD-Sitzungen. Es nahmen immer mehr teil. Auch einige Medizinische Hochschulen in Mexiko, Chile und Brasilien wurden durch unsere Forschungsergebnisse aufgerüttelt. Sie setzen jetzt die KMDD ein.

Schließlich kann man den Erfolg daran messen, dass das Interesse an der KMDD weltweit zunimmt. Der chinesische Kollege, der mich an die Guangdong Universität für Auslandsstudien eingeladen hatte, machte der KMDD ein großes Kompliment. Er sagte, die KMDD habe bei seinen Studenten in wenigen Tagen erreicht, worum er sich in Jahren vergeblich bemühte, sie nämlich zum Fragen und Diskutieren zu bringen.

Wenn, was ich ja gerne glauben mag, Ihre Methode so erfolgreich unterrichtet werden kann – warum stirbt dann die Streitlust – die bösartige, nicht die wissenschaftliche – nicht endgültig aus?

Von nix kommt nix, sagt das Sprichwort. Denkfaulheit (die Hauptursache des Bösen, wie Hannah Arendt sagt) ist eine Mangelerscheinung, und Mangel geht leider nicht von allein weg. Man muss etwas tun. Konflikte sind, wie bereits gesagt, unvermeidbar und damit auch der Streit. Aber die Art, wie man streitet, ob unter Einsatz von Gewalt, Betrug und Macht, oder unter Einsatz von Denken und Diskussion, lässt sich durch entsprechende Ausbildung sehr effektiv und nachhaltig beeinflussen. Das weiß ich auf der Grundlage meiner Forschung und meiner Erfahrungen mit dem Einsatz der KMDD in über zwanzig Jahren in vielen Ländern und mit ganz unterschiedlichen Menschen von acht bis über achtzig Jahren. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die KMDD nur effektiv ist, wenn sie von gründlich ausgebildeten Lehrkräften eingesetzt wird.

Sie werben unermüdlich für KMDD. Dieser Tage auf einem Workshop in Zürich, im Februar in einem vhs-Seminar in Konstanz…

Ja, weil es nicht genügt, über dieses Thema viel zu wissen. Wir mussten auch herausfinden, wie wir dieses Wissen für unser Bildungssystem nutzbar machen können. Ich habe fast 40 Jahre über Moral- und Demokratiekompetenz geforscht, forsche noch heute darüber und betreue sehr viele Forschungsprojekte weltweit. Wir wissen jetzt, wie wir Moralkompetenz effektiv fördern können. Die KMDD funktioniert so ähnlich wie Impfen: Die Teilnehmer werden mit schwierigen moralischen Aufgaben konfrontiert, durch die ihre Fähigkeit gefordert und stimuliert wird, solche Aufgaben zu bewältigen. Wie beim Impfen sind die Aufgaben in der KMDD „semi-real“, das heißt, sie sind so abgeschwächt, dass sie niemanden überfordern oder verletzen können.

Ihr Ziel ist der zertifizierte KMDD-Lehrer auch in Deutschland, auch in Konstanz?

Richtig, doch wir stehen erst am Anfang. Außer mir gibt erst einen zertifzierten KMDD-Lehrer. Ich hoffe, dass es bald mehr werden. Ich versuche daher, möglichst viele Lehrer fortzubilden. Ich biete einwöchige Workshop-Seminare und ein mehrmonatiges „Training on the Job“ (mit ca. 80 Stunden Zeitaufwand). Der Abschluss bildet die Zertifzierung als „KMDD-Lehrer “. Meine KMDD-Kurse stehen für alle offen, die in Schulen (ab der 5. Klasse), in Berufs- und Hochschulen und in der Erwachsenenbildung unterrichten. Die KMDD kann in allen Fächern eingesetzt werden.

Im Kurs im Februar sind noch Plätze frei. Informieren und anmelden kann man sich auf derselben Webseite: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/ Anmeldeschluss ist der 28.1.13. Auch zukünftige Veranstaltungen werden dort angekündigt. So planen wir eine „lange Nacht der Demokratie“ im Juni und ein internationales Symposium über Moralkompetenz und Verhalten im Juli.

Aber all‘ das reicht natürlich nicht. Damit alle Menschen lernen, wie man Konflikte durch Denken und Diskurs löst, müssen solche Lerngelegenheiten allen geboten werden. Ein bis zwei KMDD-Sitzungen pro Jahr scheinen zu genügen, um die Moralkompetenz deutlich zu fördern. Aber selbst dafür brauchen wir sehr viel mehr zertifizierte KMDD-Lehrer. In Kolumbien, wo das Bildungsministerium die KMDD allen Lehrern landesweit empfiehlt, hat mich vor einem Jahr eine Universität gebeten, einen Masterstudiengang zur Ausbildung von KMDD-Trainern zu entwickeln. Das Konzept steht inzwischen. Das stelle ich natürlich auch gern Hochschulen bei uns und in anderen Ländern zur Verfügung.

Also doch: Mit Demokratiekompetenz zum besseren Menschen?

Ich bin überzeugt, dass wir es mit der KMDD schaffen können, in der Zukunft Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und dann nicht mehr darauf angewiesen sind, Menschen zu betrügen, ihnen Gewalt anzutun oder sie zu benachteiligen. Mit wachsender Moral- und Demokratiekompetenz wird den Menschen diese Art der Konfliktlösung als archaisch, dumm und sinnlos vorkommen. Das wird nicht über Nacht gehen. Aber es ist keine Utopie mehr.

Autor: hpk

Wer mehr über den MUT und die KMDD wissen will, kann sich auf dieser Webseite umschauen: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/