Kommentar: Kein Gespür für politische Brisanz
In der 2012 einstimmig verabschiedeten Erklärung „FÜR eine Kultur der Anerkennung und GEGEN Rassismus“ verpflichten sich der Gemeinderat, der OB und damit auch die ihm unterstehende Verwaltung, Rassismus „überall entgegen zu treten“. „Wir erklären“, so heißt es dort, „dass rassistisches Handeln und politisch oder religiös motivierte Gewalt von uns nicht akzeptiert werden“.
Gegen Buchstaben und Geist dieser Verpflichtung, deren Einhaltung durch den allgegenwärtigen Rechtsrutsch seither noch dringlicher geworden ist, haben die Verantwortlichen im Bürgeramt nachhaltig verstoßen, als sie den Rechtsradikalen der „Identitären Bewegung“ (IB) am Samstag die Marktstätte zur Verbreitung ihrer menschenverachtenden Propaganda freigaben. Aus den Antworten auf die LLK-Anfrage lässt sich herauslesen, dass die Zuständigen mit Kenntnis der Amtsleitung den Vorgang unter „Business as usual“ abhandelten – ohne das nötige Gespür für die politische Tragweite. Noch nicht einmal, dass den KonstanzerInnen ein weit massiverer Auftritt mit Propaganda-Pavillon und ähnlichem Brimborium erspart blieb, ist vermutlich dem Bürgeramt zu verdanken; die smarten Rechten scheuten offenbar einfach den bürokratischen Aufwand. Völlig inakzeptabel erscheint, dass man selbst nach dem Ausbleiben des angeforderten Flyer-Musters in der Amtsstube untätig blieb.
Strafrechtlich sei dem hetzerischen IB-Flugblatt nichts zu beanstanden gewesen, konstatierte schließlich vor Ort eine Polizeistreife. Das mag sein oder auch nicht (ich bin kein Jurist, ebenso wenig aber vermutlich die prüfenden Streifenbeamten), war allerdings auch nicht zu erwarten, so dumm sind die IB-Leute denn auch nicht. Aber selbst wenn: Das Bürgeramt, nein der Oberbürgermeister hätte politisch Zeichen setzen können – etwa durch die Information des Gemeinderats und der Öffentlichkeit, vor allem der vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich im Geist der „Konstanzer Erklärung“ für eine Kultur der Anerkennung engagieren. Das hätte Möglichkeiten geschaffen, den rechten Gesellen in angemessener Weise öffentlich deutlich zu machen, „dass wir aktiv für ein soziales Miteinander in Konstanz und für eine humane Stadtgesellschaft eintreten“, wie es an anderer Stelle in der „Konstanzer Erklärung“ heißt. Nun aber dürften sich die völkisch-nationalistischen Hetzer ermutigt fühlen, öfter mal vorbeizuschauen.
J. Geiger