Konstanzer Uni-Studie: Wenn alle denken, sie seien Mittelschicht

Eine Studie des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz hat sich mit der Wahrnehmung von Ungleichheit in der Bevölkerung befasst. Basierend auf einer Umfrage kommt sie zur Erkenntnis: Deutsche zählen sich gerne zur Mittelschicht – ungeachtet ihrer tatsächlichen finanziellen Verhältnisse. Denn man möchte möglichst nicht aus dem Raster fallen. Gleichzeitig ist es mit den Aufstiegschancen aber auch nicht weit her.

Pandemie und Gesellschaft

Gerade im Kontext der laufenden Pandemie sind soziale und finanzielle (Un-)Gleichheit vermehrt in den öffentlichen Fokus gerückt. Denn vorher schon – in welche Form auch immer – minderprivilegierte Gruppen kommen bei dieser Pandemie auffällig überdurchschnittlich schlecht weg. Das mögen Schlechtverdienende in Pflege, Einzelhandel & Co. sein, Frauen, die wieder ins Familienmodell der 50er gedrängt werden, Personen, die in prekären Arbeitsverhältnissen in Gastronomie oder Kultur um Job und Lebensunterhalt bangen müssen oder in der Fabrik erheblich stärkeren Ansteckungsrisiken ausgesetzt sind. Dem gegenüber stehen die Profiteure der Pandemie: Florierende Wirtschaftskonzerne, Leute, die sich über Renditenausschüttungen oder Vererbungen freuen können; kurz gesagt jene kleiner werdende privilegierte Gruppe, auf die sich immer größere Vermögen konzentrieren.

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit ist in Deutschland seit jeher ein Problem – die Pandemie fördert hier aber Missstände zutage, die in den letzten Jahren vermehrt verschwiegen oder beiseite getan wurden. Das kaputtgesparte Bildungs- und Gesundheitssystem, der sukzessive rückgebaute Sozialstaat und die Privatisierung öffentlicher Güter – all diese Faktoren machen eine Gesellschaft verwundbar und spalten sie. Diejenigen Teile der Gesellschaft, die aber vorher schon wirtschaftlich die Weichen gestellt haben, profitieren wohl ganzheitlich gesehen von den Entwicklungen der letzten Jahre und bauen ihre Marktmacht weiter aus. Es sei hier nur an das Geheule der Auto- und Luftfahrtindustrie vor gut einem Jahre erinnert. Diese wurden – im Gegensatz zu den Teilen der Gesellschaft, die die Pandemie im Großen und im Kleinen schultern – großzügig bezuschusst, ohne dabei aber für den gesamtgesellschaftlichen Schaden aufkommen zu müssen, den sie anrichten. Eine Regulierung entgegen dieser Entwicklung wäre Aufgabe der Politik.

Deutlich ausgeprägte Ungleichheit in Deutschland

Diese Entwicklungen beeinflussen die Wahrnehmung von Individuen. Entsprechend hat eine Reihe von Forschenden am Exzellenzcluster „The Politics of Inquality“ an der Universität Konstanz in Kooperation mit dem „Progressiven Zentrum“ eine in Deutschland durchgeführte Umfrage zum Thema soziale und wirtschaftliche Ungleichheit ausgewertet. Diese Umfrage wurde von einem professionellen Umfrageunternehmen durchgeführt und ist repräsentativ für die erwachsene Wohnbevölkerung in Deutschland. (Belege für die einzelnen Daten und Quellen sind im unten verlinkten Papier einsehbar und werden deshalb hier nicht noch einmal aufgeschlüsselt.)

Die Studie fördert Erstaunliches zutage: Der Großteil der Befragten sieht deutliche Unterschiede beim Einkommen (72,6 Prozent) und beim Vermögen (65,7 Prozent). Doch obwohl die Einkommensungleichheit bei den Befragten als ausgeprägter wahrgenommen wird als die Vermögensungleichheit, ist letztere in Deutschland etwa dreimal so groß. Die Befragten unterschätzen also die Differenzen beim Vermögen in Deutschland deutlich. Das ist umso auffälliger, da die Vermögensungleichheit in Deutschland – verglichen mit anderen wirtschaftsstarken Ländern –überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist.

Ähnliches gilt für die Wahrnehmung von sozialer Mobilität, also den Chancen für Einzelne, in höhere Sozialschichten aufzusteigen. Durchschnittlich schätzten die Befragten nämlich die Chance für Einzelpersonen von den niederen in die höchsten Gesellschaftsschichten aufzusteigen als eher schlecht ein.

Ein jede:r zum Mittelmaß! – Die Wahrnehmung von Ungleichheit

Doch im Gegensatz dazu hat fast die Hälfte der Befragten eine positive Wahrnehmung hinsichtlich ihrer eigenen sozialen Mobilität und sieht sich in einer besseren Position als ihre jeweiligen Eltern. Analog dazu schätzen die einzelnen Befragten ihr eigenes Einkommen häufig falsch ein: Wohlhabendere ordnen sich grundsätzlich niedriger auf der Einkommensleiter ein, während weniger Wohlhabende ihre eigene wirtschaftliche Position für besser halten, als sie es eigentlich ist.

Quelle: Das progressive Zentrum/Cluster of Excellence. The Politics of Inequality

Eine Graphik aus der Studie veranschaulicht dieses Phänomen. Links sind die tatsächlichen Positionen auf der Einkommensleiter dargestellt, rechts die persönlich wahrgenommenen. Die Zahlen auf den Verbindungslinien geben an, um wie viele Dezilen (10-Prozent-Schritte) die Befragten daneben liegen.

Obwohl die Befragten deutliche Unterschiede bei der Verteilung von Vermögen und Einkommen in Deutschland sahen, schätzen sie sich selbst eher falsch ein: Und zwar so, dass sie möglichst zur Mitte hin tendieren. Besonders ausgeprägt ist das bei den 10 Prozent mit dem höchsten Einkommen. Diese sortieren sich selbst um über 30 Prozent falsch auf der Karriereleiter ein. Ganz nach Friedrich Merz, der sich ja selbst auch zur oberen Mittelschicht zählt – und Multimillionär ist.

Doch das Ganze funktioniert auch in die andere Richtung: Die Befragten mit verhältnismäßig wenig Vermögen bewerteten ihre wirtschaftlich-soziale Situation um bis zu 17 Prozent besser als sie es tatsächlich ist. Je näher dann das Einkommen der Befragten am Mittelwert lag, desto präziser wurden auch ihre persönlichen Einschätzungen.

Deutschland tendiert also zum Mittelmaß. Oder würde es zumindest gern. Offensichtlich nimmt der Großteil der Befragten nämlich die steigende Ungleichheit in Deutschland durchaus wahr – bezieht sie aber möglichst nicht auf die eigene Situation. Man will nicht als extrem gelten, sich als Randerscheinung oder Ausnahme zählen, sondern eben als gemäßigte Mitte. Und blendet deswegen wohl manchmal auch die eigene Situation und Verhältnismäßigkeit aus. Damit unterschätzen die Befragten aber nicht nur, wie erwähnt, die Ungleichheit der Vermögensverteilung in Deutschland, sondern auch die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit generell.

Politik am Zug

Gleichzeitig wünscht sich die Mehrheit der Befragten eine egalitärere Verteilung von Ressourcen, bringt damit also eine indirekte Unterstützung für eine egalitäre Politik zum Ausdruck. Allerdings folgert die Studie: Auch wenn es in der Bevölkerung eine Tendenz dazu gibt, egalitärere Politik zu unterstützen, kann eine schlechte Informiertheit über die tatsächlichen Vermögens- und Einkommensverhältnisse diese potenzielle Unterstützung wieder untergraben. Der verzerrten Wahrnehmung in der Bevölkerung müssen also breite Informationen zur Sachlage entgegengehalten werden.

Das gilt auch für latente Ungleichheiten in anderen Bereichen, wie Bildung, Gesundheit, Mobilität und Wohnen. Die Studie fordert hier insbesondere für die weniger privilegierten Teile der Gesellschaft eine breitere Informationspolitik. Denn Menschen lebten häufig in ihrer sozialen Blase, in der sich alle in ähnlichen Verhältnissen bewegen. Damit verlören sie aber den Blick fürs große Ganze. Es brauche entsprechend Angebote zur Aufklärung in der Öffentlichkeit, die den Austausch der einzelnen Bevölkerungsgruppen verbesserten.

Was lernen wir also aus solchen Studien? Solche weltfremden Spinner:innen wie Friedrich Merz muss man mitteilen, dass sie mit mehreren geschätzten Millionen nicht mehr Mittelschicht sind, und dass man nicht sparen kann, wenn es nichts zum Sparen hat. Denn die Ungleichheit in Deutschland lässt sich nicht damit beheben, dass man sie schönredet. Oder dass man ebensolche weltfremden Spinner:innen wie Friedrich Merz in ein Wahlkampfteam einer Partei holt, die Regierungsverantwortung übernehmen möchte. Lassen wir es nicht so weit kommen! Diese Leute müssen doch informiert werden, dass sie keine Ahnung haben, worüber sie da reden! Denn ihre Arbeit macht dieses Land und diese Welt mit jedem Tag ein bisschen ungleicher. Davon profitieren Leute wie Merz; und schaden damit den meisten Leuten um sie herum.

MM/jh (Bild: Aga Maszota auf Pixabay)

Quellen:
Studie Wenn alle denken sie seien Teil der Mittelschicht
Seite des Exzellensclusters „The Politics of Inequality“