Kulturpreis 2022 der Stadt Lindau: Wer, wenn nicht Charly! (I)

Karl „Charly“ Schweizer, der politisch engagierte Historiker, der über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus vor allem durch sein Engagement für den Erhalt des Lindauer Inselbahnhofs bekannt wurde, erhält den Kulturpreis 2022 der Stadt Lindau. Hier eine Würdigung aus der Feder seines Weggefährten Winfried Wolf.

Teil II lesen Sie hier.

Seit vielen Jahren erhalte ich alle paar Monate eine Werbe-E-Mail des Fünf-Sterne-Hotels Bayerischer Hof in Lindau. In der letzten, datiert auf den 20. Januar 2022, erklärt das Hotel-Management, man habe im Corona-Jahr „das Beste aus einer schwierigen Zeit gemacht“ und dies „verdanken wir Ihnen und Ihrer treuen Verbundenheit“. Nun habe ich zwar am 1. Oktober 2021 im – dann noch outgesourcten – Café dieses Hotels einen Espresso bestellt (und diesen dankend bzw. bezahlend erhalten). Und Vergleichbares – mal um eine Schwarzwälder-Kirsch-Torte ergänzt – mag sich in den Jahren zuvor bei meinen regelmäßigen Besuchen am Bodensee abgespielt haben. Doch mehr trug ich zum Gedeih des First-Class-Hotels mit First-Class-Blick auf Hafen, Bodensee, Bahnhof und Alpen nicht bei. Und doch gibt es einen tieferen Grund für die regelmäßigen Werbe-E-Mails des Hotels. Und der hat – ohne dass das Hotel-Management davon Kenntnis hat – viel mit einem Menschen zu tun, der in diesen Tagen mit dem Kulturpreis der Stadt Lindau geehrt wird.

Mensch, Charly, wer, wenn nicht Du!?

Karl – Charly – Schweizer ist seit den 1970er Jahren in den Regionen Oberschwaben, Bodensee, Allgäu und insbesondere Lindau als kämpferischer linker Geist und geistreicher linker Kämpfer präsent. Er war Teil eines Teams, das 1981 das alternative, linke Blatt „Südschwäbische Nachrichten“ gründete; er blieb dieser für die linke und für die Antifa-Szene der Region wichtigen Publikation bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1991 eng verbunden.[1] Er ist seit den 1970er Jahren aktiv in der Friedensbewegung, in DGB und GEW. Er engagiert sich seit rund vierzig Jahren in unterschiedlichen fortschrittlichen Projekten, Zusammenhängen und bei diversen Antifa-Aktivitäten. Charly war bis 2016 Lehrer, überwiegend tätig an der Pestalozzi-Werkrealschule in Friedrichshafen. Spaziert man mit ihm durch diese Bodensee-Stadt, dann gibt es fast immer freundschaftliche Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem ehemaligen Lehrerkollegium und vor allem mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, nicht wenige mit migrantischem Hintergrund.

Lokalhistoriker

Nun gelten Antifa-Aktivitäten, Antikriegsengagement und klassenkämpferische Gewerkschaftsarbeit nicht nur im bayerischen Lindau den Oberen als eher nicht salonfähig. Und schon gar nicht als kulturpreiswürdig. Was dennoch dazu geführt haben dürfte, dass die Verantwortlichen in der Stadt Lindau über den einen und anderen Schatten sprangen und Karl Schweizer den Kulturpreis 2022 der Stadt verliehen, dürften dessen Tätigkeiten als Autor von Büchern und von Zeitungsartikeln gewesen sein und seine vielfachen Arbeiten als Regional- und Stadthistoriker. Schweizer ist Verfasser von rund einem Dutzend Broschüren und Büchern zur Geschichte von Lindau und der Bodensee-Region – beispielhaft genannt seien „Lindau und der Erste Weltkrieg“, „Lindau und die Zeit der Bürgerrevolution von 1848/49“, „Jakobiner am Bodensee“, „Novemberrevolution 1918 und Räterepublik 1919 – Sozialisten und Kommunisten in Lindau und Umgebung“, „Lindauer Frauengeschichten“ und – erst 2021 erschienen und bereits wieder vergriffen – „170 Jahre Eisenbahn in Stadt und Landkreis Lindau. 100 Jahre Bahnhofsgebäude Lindau-Insel“.[2] Oft waren diese Bücher damit verbunden, dass Teile daraus – meist im Vorfeld der Verarbeitung zu einem Buch – als Artikel in der „Lindauer Zeitung“, einem Ableger der „Schwäbischen Zeitung“, erschienen.

Politik lokal und regional

Charly gehörte lange Zeit zum inneren Kreis der Bunten Liste Lindau, die seit 1982 existiert, die seit 1984 im Lindauer Stadtrat vertreten ist und die inzwischen dort die stärkste Fraktion stellt. Er ist weiter mit den Aktiven und Stadtratsmitgliedern der Bunten Liste freundschaftlich verbunden. Seit einigen Jahren vertritt er als Mitglied im Kreisrat Lindau die Partei DIE LINKE. Und es sind immer wieder Großprojekte der Oberen in Stadt und Kreis, der Bau- und Beton- und Spekulationslobby, die von der LINKEN und von der Bunten Liste bekämpft werden – wobei Charly bei diesen Aktivitäten so gut wie immer eine vorantreibende Rolle spielt. Wenn man diese Kämpfe auf einen Nenner bringen will, dann geht es fast immer um Widerstand gegen die Zerstörung von Urbanität, von Lebensqualität, von Natur und Umwelt – und um die Zurichtung von Stadt und Umland entsprechend den Interessen der Autogesellschaft, der Immobilienspekulation und der Yuppie-Spaßgesellschaft.

Das betrifft ganz aktuell den geplanten Bau eines großen neuen Parkhauses für 500 Autos direkt vor der Insel, am Karl-Bever-Platz. Als ob die wunderbare Insel mit ihren schönen alten Bauten und engen Gassen nicht schon genug unter der Blechlawine zu leiden hätte. Das betrifft das Engagement, auf der „Hinteren Insel“ neben einem Bürgerpark ein Quartier für „finanziell erschwingliches Wohnen“ zu errichten. Das betrifft den langjährigen Kampf gegen die Aufgabe eines bestehenden Hallenbades in der Bregenzer Straße und eines Freibads am Eichwald direkt am Bodensee-Ufer, wobei an dessen Stelle eine sündhaft teure, die Stadtfinanzen massiv belastende Therme gebaut werden sollte – und inzwischen gebaut wurde.[3] Was, wie unschwer zu erwarten war, zu Weiterungen führt und inzwischen um das Vorhaben eines großen Pkw-Stellplatzes in direkter Umgebung der Therme ergänzt wird, womit die Vernichtung von mehreren Dutzend Kleingärten verbunden wäre.

Und wie das bundesweit fast überall der Fall ist, so handelt es sich bei all diesen Aktivitäten überwiegend um Verteidigungskämpfe, um Rückzugsgefechte, um Hier-steh-ich-und-ich-kann-nicht-anders-Engagements. Doch auch diese müssen mit Energie, mit Witz und nicht zuletzt mit Würde geführt werden. Und Charly gehört zu jenen, die auch diese Defensiv-Kämpfe nach dem Motto führen: Man muss sich am nächsten Tag im Spiegel doch noch ansehen – und erkennen! – können.

Und: Man muss – so sieht das jedenfalls Charly fast immer – all das immer auch in einem großen und historischen Zusammenhang sehen. Nehmen wir das Beispiel drohende Demo-Verbote wegen der Pandemie-Auflagen. Als die Gewerkschaft der Polizei ein solches allgemeines Verbot von Kundgebungen und Demonstrationen Anfang 2021 forderte, veröffentlichte Karl Schweizer am 5. Januar 2021 eine Presseerklärung, in der es heißt, er widerspreche „diesem Ansinnen der Polizeigewerkschaft, da dies ‚die Gefährdung des seit dem Bauernkrieg vor rund 500 Jahren über Jahrhunderte hinweg mühselig erkämpften Volksrechts auf öffentliche Versammlung und gemeinsame Bekundung oppositioneller Meinungen beschädigen würde‘. Es dürfe nicht sein, „dass […] der Zynismus, die Demagogie und die Rücksichtlosigkeit“ der Querdenker und Schwurbler zu „diesem antidemokratischen Sieg“ führen würde. Mal ehrlich: Einen derart großen 500-Jahre-plus-x-Bogen zu schlagen, gewissermaßen von der Covid-19-Pandemie ins Pest-Zeitalter zurückzublenden, darauf kommt kaum ein anderer als Comrade Charly himself.

Ein bisschen Weltpolitik

Und wenn ich schon mal bei diesen höheren Ebenen der Politik bin, dann sei an ein Ereignis erinnert, bei dem Lindau hoch auf die Ebene der Weltpolitik, naja, zumindest auf das Hochplateau der EU-Politik rückte – und wo Charly Sand ins Getriebe der Großkotz-Politik streute. Anfang September 1994 hatte der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel die EU-Finanzminister nach Lindau geladen. Auf der Tagesordnung standen die geplante Einführung der EU-Einheitswährung, der – damals noch – umstrittene Name einer solchen Währung („Ecu“ oder „Euro“?) und die EU-weite Sparpolitik auf dem Rücken der kleinen Leute, die mit dem zwei Jahre zuvor beschlossenen Maastricht-Vertrag verschärft werden sollte. Und wo trafen sich damals die Herren (und nix da mit gendern: es gab in echt keine Frau in dieser Runde)? Natürlich im Bayerischen Hof! Und was mussten die Herren EU-Finanzminister bei geweitetem Blick auf den See, auf das Hafenbecken und auf die Kai-Mauern sehen? Auf der Balustrade des Neuen Leuchtturms an der Hafenausfahrt, 139 Stufen oder 25 Meter hoch und rund 200 Meter von der Terrasse des „Bayerischen Hofs“ entfernt, wurde ein riesiges Transparent entrollt, auf dem mit großen Lettern zu lesen war: Gegen „das Europa der Banken und Konzerne.“ Charly hatte die Aktion generalstabsmäßig geplant, ich durfte dabei sein.

Text: Winfried Wolf, Bilder: Privatbesitz

Winfried Wolf ist aktiv bei Bahn für Alle und Bürgerbahn statt Börsenbahn. Er ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Er ist auch verantwortlich für die Publikationen ZeroCovid und Zeitung gegen den Krieg. Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net. Kontakt: redmole@gmx.net

Jüngste Veröffentlichung: Tempowahn. Vom Fetischismus Geschwindigkeit zur Notwendigkeit der Entschleunigung, Promedia Wien 2021 (220 Seiten, 16 Euro).

Anmerkungen

[1] Charly war in den ersten Jahren Mitglied der SN-Redaktion. Später schrieb er des Öfteren für das Blatt. Charly holte mich zu dem Blatt als jemand, der rund zwei Jahre lang Gastkommentare schrieb. Wir veröffentlichten in den „Südschwäbischen Nachrichten“ auch Größeres – so den ausgefeilten, umfassenden „Alternativen Verkehrsplan Mittleres Schussental“ mit der Wiedereinführung der Straßenbahn in Ravensburg/Weingarten („s´ Bähnle“). Später in Buchform veröffentlicht in: Winfried Wolf, Sackgasse Autogesellschaft – Höchste Eisenbahn für die Alternative, Frankfurt/M. 1988 und 1989, S. 69ff.

[2] Siehe ausführlich die Literaturangaben auf der Website von Karl Schweizer: http://www.edition-inseltor-lindau.de/

[3] „Um Bürgern, Vereinen, Schulen ihr Grundversorgungsbad zu erhalten, hätte die Stadt 2014 „nur“ 1,75 Mio € investieren müssen, um den Sanierungsstau im [damals noch bestehenden Hallenbad; W.W.] Limare zu beseitigen. Stattdessen forcierten Verwaltung und Stadtratsmehrheit die Therme im Landschaftsschutzgebiet auf risikobehaftetem Baugrund. Für Beratungs- und Planungskosten der Therme hat die Stadt inzwischen 1,6 Mio € bezahlt. Dahin ist auch die Hoffnung, ein Privatinvestor würde der Stadt ein neues, preiswertes Grundversorgungsbad bauen. 2017 erhöhte sich der Preis von 11,5 Mio € auf 12,45 Mio € und jetzt liegt er bei 14,4 Mio €. – Das ist der Preis der Maßlosigkeit.“ Alexander Kiss, Bunte Liste, Pressemitteilung vom 20. Februar 2018.