Lasst uns „aufs Rad setzen – für eine bessere Welt!“

Den „Süden erobern“ – auf einer Route von Singen, entlang des Bodensees, durchs Allgäu, bis nach München – hat sich die „Tour de Natur 2023“ vorgenommen. Ausgangspunkt der 33. Auflage dieser alljährlich stattfindenden Fahrraddemo war die „fahrradfreundliche Kommune“ Singen am Hohentwiel. Im Alltag neuralgische Stellen für Radfahrer:innen wurden bei einer geführten Rundtour in Augenschein genommen, anschließend standen Verkehrspolitik und Mobilitätswende im Mittelpunkt der Auftaktveranstaltung am Rathaus.

Eitel Sonnenschein und blauer Himmel war der Auftaktveranstaltung der „Tour die Natur 2023“ am 29. Juli in Singen leider nicht vergönnt. Bei Gewitterstimmung hatten sich die etwa 30 ersten Radler:innen – angereist u.a. von weit aus dem Norden der Republik (Bremen, Hamburg, Wismar, Potsdam …) klimaschonend und umweltfreundlich mit der Eisenbahn, mit und ohne Verspätung – am Bahnhof eingefunden. Gemeinsam mit den beiden leidenschaftlichen und überzeugten Singener Radlern Torsten Kalb (bei der Stadtverwaltung u.a. auch Leiter des Arbeitskreises Rad- und Fußverkehr) und Benedikt Oexle (adfc-Mitglied, SPD-Gemeinderat, Arzt) konnten sie sich auf einer Rundtour einen Eindruck verschaffen, wie die Mobilitätswende hin zu mehr Radverkehr in einer traditionell autofreundlichen Stadt angegangen wird. Die Verkehrspolitik nicht nur in Singen, sondern auch im Allgemeinen war anschließend Thema dreier Redebeiträge der Auftaktveranstaltung beim Singener Rathaus, zu der sich nochmals weitere inzwischen angekommene Tour-Teilnehmer:innen einfanden. Die Quintessenz der jeweiligen Statements wird hier kurz zusammengefasst wiedergegeben.

Mehr Förderung für den Alltagsradverkehr

Nicht Radtourismus und Vergnügungsfahrten würden für die Mobilitätswende eine wichtige Rolle spielen, sondern der Alltagsradverkehr, hob Benedikt Oexle als Vertreter der Singener adfc-Ortsgruppe anschaulich hervor: „Jeder, der mal Kugelstoßen war, auch jeder, der da nur zugesehen hat, weiß, der Energieaufwand hängt am Gewicht, das da bewegt wird. Ein Fahrrad, davon kann sich jeder überzeugen, wiegt um die 20 kg, ca. ein Viertel eines Erwachsenen; ein Elektro-Kleinwagen – wie z.B. der Renault Zoe – hat ein Leergewicht von ca. 1,6 Tonnen, das ist 80fache des Fahrrads und das 20fache eines Erwachsenen. In Zeiten von Fake News ist der Bezug auf unverrückbare Daten besonders wichtig. Es ist ganz klar, welche Mobilitätsform zu bevorzugen ist aus dem Blickwinkel des Klimaschutzes. Das gilt im Übrigen auch im Vergleich zum ÖPNV, das wird jedem offenbar, der die leeren Busse fahren sieht außerhalb des Berufsverkehrs und des morgendlichen Schulbeginns.“ Radverkehr und generell Verkehr mit leichtgewichtigen Fahrzeugen solle außerordentlich gefördert werden, so seine Überzeugung, die der SPD-Stadtrat auch bei Ratssitzungen seit Jahren konsequent vertritt. „Wir brauchen unterbrechungsfreie Radwege, die fahrsicher sind, witterungssicher, genügend Platz bieten, die weitere Sicherheitsaspekte berücksichtigen (bis zum Unhold aus dem Gebüsch), dazu braucht es auch ausreichende Beleuchtung, z.B. per Bewegungsmelder.“ Lärm und Abgasemissionen hingegen sollten Radwege möglichst nicht beeinträchtigen.

Allerdings scheitere dieses Ziel bislang fast überall am Thema Finanzen: „Ein Aufwand für den Radverkehr von 1 bis 2 Prozent des Gesamtaufwands für Personenverkehr ist typisch für deutsche Kommunen und natürlich krass am Ziel vorbei. Tübingen ist da übrigens eine löbliche Ausnahme: Dort wird ca. 20mal mehr investiert für diesen Zweck. Fordern und fördern könne man zum Beispiel Radwege mit Solardächern.“ Als Beispiel hierfür wies er auf eine in Südkorea bereits 2015 realisierte 30 km lange „Fahrradautobahn“ mit Solarpanelen hin sowie auf den in Freiburg Ende April eröffneten ersten Solardachweg Deutschlands. [Anm.: Letzter ist zwar nur 300 Meter lang, erzeugt aber mit 900 Solarmodulen rund 280.000 Kilowattstunden Ökostrom, was etwa dem jährlichen Strombedarf von 180 Menschen entspricht.] Finanzieren könnte man solche Projekte aus den „beiden Töpfen für Radwege und für regenerative Energieerzeugung, aber – ich sage es als Arzt – auch aus dem Topf für Sportstättenbau! Derjenige, der regelmäßig Ausdauersport betreibt, zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit, tut etwas für seine Gesundheit.“ Eine Pull-Strategie fürs Fahrrad sei nötig – so Benedikt Oexle weiter – um weg vom Autoverkehr zu kommen. Diejenigen, die sich das bislang nicht vorstellen können, weil sie Angst haben, auf Rad umzusteigen, und die ihr „Lebenselixier nicht daraus ziehen, widrigen Umständen zu trotzen“, müssten mit dem Ausbau von Radinfrastruktur überzeugt werden.

Kritik übte er an der aktuellen Politik der Ampelregierung, deren Fokus zu einseitig auf der Wärmewende liege – „zwar ebenso bedeutsam, aber voller schwieriger inhaltlicher Abwägungen. Der Mobilitätssektor wird hingegen gar nicht mehr separat betrachtet. Dabei drängt die Zeit, das wissen wir alle. Das erfüllt den Tatbestand der Rede und des Handelns wider besseren Wissens! Dadurch erfahren Parteien Rückenwind, die wir hier wirklich nicht haben sollten“, so die Warnung des überzeugten Radverkehrs-Aktivisten.

Die beiden Redner Benedikt Oexle vom adfc (li.) und Torsten Kalb, Leiter des AK-Radverkehr (re.)

Radverkehrspolitik in der „Auto-Meilen-Stadt“

Über die Mühen der zu leistenden Überzeugungsarbeit innerhalb einer Kommune, informierte anschließend Torsten Kalb in seiner Funktion als Leiter des Arbeitskreises (AK) Rad- und Fußverkehr. Mit Unterstützung des Arbeitskreises habe Singens Radverkehrsbeauftragte, Petra Jacobi, schon viel bewegt und viele Ideen gehabt: „Es sind manchmal auch kleine Maßnahmen, die man hinkriegen muss, und wir müssen ja immer auch Gremien mitnehmen und überzeugen.“ [Anm.: Dem seit 2010 in Singen bestehenden Arbeitskreis gehören Vertreter:innen der Verwaltung und der sieben Gemeinderatsfraktionen an sowie je ein Vertreter des Polizeipräsidiums Konstanz, Sachbereich Verkehr, und in beratender Funktion ein Mitglied des adfc-Ortsverbandes]. Alle Mitglieder des Arbeitskreises seien auch begeisterte (Alltags)-Radfahrer:innen, betonte Kalb. Pläne müssten eben gut ausgearbeitet werden, damit Geld bereitgestellt werden könne. Zudem gebe es eine Verkehrskommission, die mindestens einmal alle zwei Wochen unterwegs sei und dabei auch nach Verbesserungsmöglichkeiten für den Radverkehr schaue. Sicherheit auf Radwegen sieht er – wie sein Vorredner – genauso als „ ganz wichtiges Thema. Denn nur wer sich sicher fühlt auf den Radwegen, der nimmt das Fahrrad auch jeden Tag.“ Insbesondere die Sicherheit von Schüler:innen und jungen Menschen müsse beachtet werden. „In Studentenstädten ist dies was fast Selbstverständliches, in einer Auto-(Meilen)-Stadt wie Singen nicht unbedingt.“ [Anm.: Der Begriff „Automeile“ wurde von Singens Luxuskarossen-Händlern entlang der Georg-Fischer-Straße geprägt und auf diesen legen sie nach wie vor Wert. Wer die teils überdimensioniert breiten Straßenzüge der Südstadt kennt, versteht weshalb Singen das Prädikat oder treffender der Makel „Autostadt“ weiter anhängt]. „Aber auch hier fahren immer mehr Leute mit dem Rad, einfach weil man die Ziele in der Innenstadt viel besser erreicht, keine Parkplatzprobleme hat, keinen Ärger mit Knöllchen, keinen Ärger mit Geschwindigkeitsmessungen usw.“, ist Torsten Kalb überzeugt. Aber es sei auch schon Vieles geschafft worden. Als jüngstes positives Beispiel, wie man der Autolobby die Stirn bieten kann, nannte er die Einführung von ganztägig Tempo 30 auf den beiden innerörtlichen zweispurigen Bundesstraßen [gegenläufige Einbahnstraßen, Freiheits- und Ekkehardstraße]. Als Lärmschutzmaßnahme im Interesse der Anwohner:innen konnte dies umgesetzt werden, aber auch Radfahrer:innen profitieren. „Da gab es viel Kritik und Beschimpfungen, aber wir haben das durchgehalten – auch in der Politik und im Gemeinderat und beim Oberbürgermeister – und so machen wir weiter.“ Die Anregungen der Stadtrundfahrt-Teilnehmer:innen wolle er gern weitergeben, versprach er und zeigte sich beeindruckt, wie viele Kenntnisse und wie viel Sachverständnis zum Thema Radverkehr hier vorhanden sei.

Viel Applaus gab es von den Zuhörer:innen für beide Redner. Und einen extra Beifall gab es auch für die Stadtverwaltung Singen, dafür dass sie als Quartier für die erste Übernachtung auf der 14-tägigen Demo-Tour ein städtisches Gebäude (das Kinderhaus Münchried) zur Verfügung gestellt hat. Andere Kommunen auf der Wegstrecke – wie Überlingen und Friedrichshafen – hätten dies kategorisch ausgeschlossen, teilte Paul Kappler mit, einer der Organisatoren der Tour de Natur 2023: „Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass man eine Kommune anfragen kann und die Leute sich erwärmen und sagen, ‚ja wir finden dies ist ein berechtigtes Interesse, was ihr habt, und unterstützen es‘!“

Bahnhof Stuttgart 21, die Gäubahn und Singen

Markus Mezger, Teilnehmer der Tour de Natur und Stuttgart 21-Gegner

Nicht nur die fahrradfreundliche Kommune mit „reichlich Luft nach oben“ machte Singen als Ausgangspunkt für die Tour de Natur interessant. Auch die Eisenbahn (ohne die es diese Industriestadt so heute nicht gäbe), ohne die eine Verkehrswende schlicht nicht möglich sein wird, gehört zu den stets brennenden Themen der Initiative. Dass „dank Stuttgart 21“ die bisher bestehende durchgehende Gäubahn-Verbindung Stuttgart – Singen – Zürich auf lange Jahre oder gar für immer gekappt sein wird, ist für Baden-Württemberger:innen nichts Neues. Für so manche Tour-Aktive von weiter weg hingegen schon. Mit Staunen vernahmen sie daher die Erläuterungen Markus Mezgers – eines Stuttgart 21-Gegners der ersten Stunde –, was es mit diesem Bahnhof-Debakel auf sich hat und welche Bedeutung Singen dabei zukommt:

„Das Projekt [Stuttgart 21] stammt ja eigentlich aus dem letzten Jahrtausend – ist also schon vorsintflutlich wie viele Verkehrsprojekte. Jetzt wird seit über zehn Jahren gebaut, die Kosten steigen ins Unermessliche. Und ursprünglich sollte es mal gar nichts kosten, sich selbst finanzieren aus Grundstücksverkäufen aus dem Gleisvorfeld, dann sollte es mal 2,5 Millionen D-Mark kosten, und inzwischen sind wir – wir reden nur vom Bahnhof in Stuttgart – bei 10 Mrd. Euro. Und warum hat dies hier für Singen eine Bedeutung? Es gibt Kannibalisierungseffekte: Also einmal wird ganz viel Infrastruktur, die eben notwendig ist, nicht gebaut, weil alles Geld dort in Stuttgart in die Grube geworfen wird.“ Und Singen sei deswegen erwähnenswert, weil die Stuttgart 21-Gegner auch auf die Anrainerstädte der Gäubahnstrecke [von Konstanz, Singen bis Böblingen] Hoffnung gesetzt hätten, dass diese dem Widerstand ebenfalls beitreten. Aber über zehn Jahre sei hier wenig zu spüren gewesen. Das habe sich auch in der Volksabstimmung, bei der es um die Finanzierung ging, manifestiert. „Und jetzt, so langsam, wacht Singen auf und reiht sich ein in den Widerstand – etwas ziemlich spät, nachdem schon viele Milliarden verbuddelt sind, aber zu etwas Gutem ist es ja nie ganz zu spät. Und warum wacht Singen jetzt auf? Weil Singen befürchtet über viele Jahre abgehängt zu werden vom direkten Zugang zu einer ganz wichtigen Schienenverbindung.“ Hinzu komme noch als für Singen bedeutend der im Jahr 2070 [Anm.: kein Schreibfehler, dies ist das derzeit angegebene Datum] einzuführende, minutengenaue Deutschlandtakt: So bestehe die reale Gefahr, dass die Verbindung Stuttgart – Zürich künftig an Singen vorbeigeführt werde [Anm. „Singener Kurve“], um nochmals ein paar Minuten Fahrzeit einzusparen.

In den Genuss einer Kostprobe, wie es in den kommenden Jahren an der Gäubahnstrecke weitergehen wird, kamen schon mal die via Stuttgart Angereisten: Nur wer viel Glück hatte, dessen Fahrrad wurde kulanterweise in einem der Schienenersatz-Reisebusse mitgenommen, in den eingesetzten Schienenersatz-Linienbussen gab es keinen Platz dafür …  – Aber Fahrrad und Bahn ist bekanntlich ohnehin ein Kapitel für sich.

Protest gegen unsinniges Verkehrsprojekt

Eigentlicher Tourstart war am Sonntag, 30. Juli. Bei schönstem Wetter ging die erste Etappe mit mehreren Infostopps – u.a. in Bodman beim Skulpturengarten von Peter Lenk – bis Überlingen. Dass es bei Kundgebungen nicht immer so viel Konsens wie in Singen gibt, sollte sich bereits am folgenden Montag zeigen. Der inzwischen auf ca. 100 Radler:innen angewachsene Protestzug sprach sich auf einer Kundgebung in Immenstaad gegen den geplanten vierspurigen Bau der B31 neu zwischen Meersburg und Immenstaad aus. Zusammen mit der „Arbeitsgemeinschaft Ausbau vor Neubau“ [Anm.: gemeint ist Ausbau der alten B 31] lieferten sie sich kontroverse und teils hitzige Wortgefechte mit den Vertretern des Bündnisses „Pro B 31 neu“.

Dunkle Wolken am Horizont

Viel Erfolg auch für ihre künftigen Touren mit den vielen Mitstreiter:innen, die sich „aufs Rad setzen für eine bessere Welt“ kann man dieser beeindruckenden Initiative „Tour de Natur“ nur wünschen. Auch für alle Alltagsradler:innen vor Ort gilt: nicht entmutigen lassen und sich vehement weiter für das klimafreundlichste Verkehrsmittel einsetzen, um mit diesem auf sicheren Radwegeverbindungen unterwegs zu sein. Das wird bitter nötig sein, denn FDP-Finanzminister Christian Lindner plant Fürchterliches: Hatte die alte GroKo für 2022 noch 750 Millionen für den Radverkehr veranschlagt, so sollen es im kommenden Haushalt 350 Millionen weniger sein. Auf Lindners Streichliste stehen u.a. Radwege entlang an Bundesstraßen, Radschnellwege abseits von Autostraßen und der Umbau von Kreuzungen für mehr Sicherheit von Radfahrenden. Ausgebaut werden soll bekanntlich stattdessen die Infrastruktur für Autos. Die Bahn dagegen wird wohl ebenfalls weiter auf der Strecke (liegen)bleiben. – Sollten die dunklen Gewitterwolken beim Tour-Auftakt in Singen vielleicht ein Omen gewesen sein, für das, was uns weiter erwartet?

Text: Uta Preimesser
Fotos: Dieter Heise, Uta Preimesser

Weitere Informationen

Fahrradprotest in Immenstaad
Solar-Bike-Highway in Südkorea
– Solarradweg in Freiburg: ADFC und SWR