Leg dich, Zigeuner, oder wir holen dich!
1933 war der Sinto-Boxer Johann Wilhelm Trollmann deutscher Meister im Halbschwergewicht. Dann bekam er im KZ Neuengamme Butterbrote, wenn er sich k.o. schlagen liess.
Am 9. Februar 1943 bellten Gewehrschüsse im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Häftling Nr. 721/1943 brach zusammen und starb. Die Urne wurde zu seiner Familie nach Hannover geschickt. Auf der Sterbeurkunde stand als offizielle Todesursache «Kreislaufversagen». Ein Routinevorgang im Dritten Reich.
Häftling 721/1943 hatte den Namen Johann Wilhelm Trollmann getragen und war Sinto gewesen. Die Schüsse fielen wenige Wochen nach seinem 35. Geburtstag. Zehn Jahre zuvor, im Juni 1933, war Trollmann als Profiboxer für eine Woche Deutscher Meister im Halbschwergewicht. Doch bis heute taucht sein Name in der – ansonsten lückenlosen – offiziellen Titelliste des Bundes deutscher Berufsboxer (BDB) nicht auf. Hätte der Hannoveraner Karikaturist und Hobbyhistoriker Hans Firzlaff nicht vor wenigen Jahren unter dem Buchtitel «knock out» alle verfügbaren Dokumente und Presseberichte über Trollmanns Leben zusammengetragen und veröffentlicht, wäre sein Schicksal heute vergessen.
Johann Wilhelm Trollmann kam am 27. 12. 1907 in Hannover zur Welt. Seine Familie zählte zu den assimilierten Sinti und Roma, die schon lange nichts mehr mit dem fahrenden Volk gemeinsam hatten, das in Wagenlagern an den Stadträndern wohnte. Die Eltern Friederike und Wilhelm Trollmann hatten 1901 protestantisch geheiratet und lebten in einer ärmeren Wohngegend der niedersächsischen Stadt. Die Mutter bekam bis zum Ende des Ersten Weltkriegs neun Kinder, sechs Jungen und drei Mädchen. Obwohl die Familie keinen Hunger litt, waren die finanziellen Verhältnisse bescheiden.
Trollmann – der Box-Showman
Johann Wilhelm Trollmann begann seine Boxkarriere in den frühen 1920ern als Amateur beim Boxclub «Heros» in Hannover. Am 4. 7. 1924 wurde er erstmals in einer Pressevorschau für einen kommenden Kampftag als Mittelgewichtler (bis 72,5 Kilogramm) erwähnt. Der knapp einen Meter achtzig grosse Mann machte schnell auf sich aufmerksam: Bis 1928 errang er viermal die Regionalmeisterschaft, wurde norddeutscher Meister und nahm an der deutschen Meisterschaft teil. Mehr noch als seine Titel erregte sein unkonventioneller Stil Aufmerksamkeit: Mit tief hängenden Fäusten tanzte er durch den Ring, wich den Hieben der Gegner durch blitzschnelle Pendelbewegungen aus und liess sich auf lange Schlagwechsel gar nicht erst ein. Nach Meinung vieler Boxexperten nahm Trollmann bereits in den späten zwanziger Jahren das Frühwerk des jungen Cassius Clay vorweg, der 1964 erstmals Weltmeister im Schwergewicht wurde.
Darüber hinaus wurde Trollmann schnell zum Sexsymbol. Seitdem er mit seinen schwarzen Locken und grossen braunen Augen antrat, hatte «Heros» Hannover die meisten weiblichen Zuschauer weit und breit am Ring. «Aber auch die Kerle kommen gern», wusste der «Hannoversche Anzeiger» zu berichten. Trollmann war ein Showmann, der oft noch während der Kämpfe mit seinen Fans in den ersten Reihen plauderte.
Wie oft in dieser Zeit in Deutschland verliefen die politischen Konfliktlinien bei den Trollmanns direkt durch die Familie: Vater Wilhelm war im Ersten Weltkrieg bei der Wasserpolizei in Braunschweig gewesen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1933 fühlte sich der Mann, der für Fotos gern mit Jägerhut und Trachtenjanker posierte, als patriotischer Deutscher, obwohl er die politischen Umwälzungen der Weimarer Zeit und der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht mehr recht begriff. Sein ältester Sohn Wilhelm junior trat 1933 der SA bei und verstand die Welt nicht mehr, als ihn die Machthaber aus rassischen Gründen aus der NS-Organisation entfernten. Der 1917 geborene Heinrich, ein sensibler Violinenspieler, liebäugelte mit den Kommunisten und trug zeitweise eine Hakenkreuzbinde – zum Selbstschutz. In den späten dreissiger Jahren beging er einen Selbstmordversuch und wurde am 13.11.1943 im KZ Auschwitz ermordet.
1928 bekam Trollmann zum ersten Mal Diskriminierung zu spüren. Als die deutsche Nationalstaffel für die Olympischen Spiele in Antwerpen zusammengestellt wurde, zog der Verband den Hamburger Cunow vor, den Trollmann bereits mehrfach besiegt hatte. Den Funktionären und den Journalisten des Fachblattes «Boxsport», der bis heute erscheinenden Verbandszeitung für deutsches Amateur- und Profiboxen, passte weder der lockere Lebenswandel noch der Kampfstil des Hannoveraners. Wie ein deutscher Mann zu kämpfen habe, legte Ludwig Haymann, der deutscher Meister im Schwergewicht und später Sportchef des «Völkischen Beobachters» war, in seinem Buch («Deutscher Faustkampf, nicht prizefight») dar: Flachfüssig in der Mitte des Rings sollte er stehen und so lange Schläge austeilen, bis einer der Kämpfer am Boden lag. Trollmann hingegen, den «Boxsport» bald immer häufiger mit dem diskriminierenden Kampfnamen «Gipsy» bedachte, siege durch «zigeunerhaftes Flitzen».
Aufstieg zum Star-Professional
Trollmann zog seine Konsequenzen: Nach einem kurzen Gastspiel beim linken Arbeitersportverein «Sparta Linden» wechselte er zu den Profis, wo er seinen ersten Kampf am 18.10.1929 austrug. Sein Manager wurde Ernst Zirzow, der später von Trollmann abrücken sollte. Als sein ehemaliger Kämpfer im KZ erschossen wurde, organisierte Zirzow Kampfabende zur Unterhaltung der zurückweichenden deutschen Truppen, bei denen auch Exweltmeister Max Schmeling im Publikum sass.
Als Trollmann seine Profikarriere begann, war Boxen in Köln, Hamburg und vor allem in Berlin beliebt. Die meisten Veranstaltungen fanden in so genannten «ständigen Ringen» statt. Das waren zumeist kleine Hallen mit 300 bis 2000 Plätzen, in denen mehrmals pro Monat Kampfabende stattfanden. Man ging zum Boxen, wie man heute ins Theater geht, und die Veranstalter versuchten sich gegenseitig die Publikumsmagneten abzuwerben. Unter diesen Bedingungen wurde Trollmann schnell zum Star und zum meistbeschäftigten deutschen Profi. 1932 etwa stieg er 19-mal in den Ring – eine heute unvorstellbare Zahl an Kämpfen – und verliess ihn 13-mal als Sieger. Da seine eigentliche Gewichtsklasse, das Mittelgewicht, zu dieser Zeit von dem jüdischen Ausnahmekönner Erich Seelig dominiert wurde, trat er oft im Halbschwergewicht an, der Klasse bis 81 Kilogramm. Dass die schwereren Männer viel härter schlagen konnten als er selbst, kümmerte Trollmann wenig: Da er flinker war als sie, trafen sie ihn kaum einmal. Und da ihm als Sinto niemand eine Titelchance geben wollte, luden die Veranstalter internationale Klassekämpfer nach Berlin ein: Trollmann schlug den argentinischen Weltranglisten-Kämpfer Russo ebenso wie den Schweden Agreen und den Holländer de Boer. Als 1932 die deutschen Anwärter auf den Titel im Halbschwergewicht sich in endlosen Ausscheidungskämpfen gegenseitig verprügelten, mutmasste selbst die NS-nahe «Boxsport», dass irgendwann «der Mittelgewichtler Trollmann kommt und die ganze Gesellschaft schlägt».
Die Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 hatte auch für das Profiboxen gravierende Folgen: An die Spitze des damaligen «Verbandes deutscher Faustkämpfer» (VdF) rückte das NSDAP-Mitglied Georg Radamm. Bereits im April wurden Juden vom Wettkampfsport ausgeschlossen. Erich Seelig – der mittlerweile neben dem Mittel- auch den Halbschwergewichtstitel innehatte – musste emigrieren. Die Situation der Sinti und Roma war diffuser: Die Rassenforscher prüften noch, ob es sich bei den Zigeunern um Arier handelte oder nicht. Als der vakante Titel im Halbschwergewicht neu vergeben werden sollte, führte an Trollmann kein Weg mehr vorbei. Am 9.6.1933 trat er gegen den Kieler Adolf Witt in der Bockbierbrauerei Berlin Kreuzberg an. Vor den Augen des versteinert dasitzenden Georg Radamm tanzte Trollmann den unbeweglichen Schläger Witt aus. Als der Kieler nach sechs Runden klar nach Punkten zurücklag, liess Radamm den Meisterkranz aus der Halle bringen. Nach dem Kampf lautete das Urteil: Kein Urteil, ein Meistertitel wird nicht vergeben.
Doch nach diesem skandalösen Schiedsspruch meuterte das Publikum. Manager Zirzow sprang in den Ring und dirigierte den Protest. «Hätte der Garten der Brauerei Wände gehabt, wäre der Kalk von den Wänden gerieselt», berichtete «Boxsport». Die um ihr Leben fürchtenden Nazi-Funktionäre warfen dem vor Freude weinenden Trollmann den Meisterkranz um den Hals. Sechs Tage später bekam er Post vom Verband. Wegen seines «armseligen Verhaltens» – gemeint waren die Freudentränen – wurde ihm der Titel wieder aberkannt. «Flitzen und Punkten sind eines Meisters nicht würdig», assistierte «Boxsport».
Das Einzige, was Zirzow für seinen Schützling tun konnte, war die Ansetzung eines neuen Kampfes am 21. Juli 1933. Doch diesmal war der Verband besser vorbereitet. Als Gegner stellte man Gustav «Meister» Eder auf, den späteren Europameister im Weltergewicht und einer der besten Nahkämpfer der Welt. Dazu wurde Trollmann mitgeteilt: Wenn er so kämpfte wie immer – also tanzend, aus der Distanz punktend –, würde ihm die Lizenz entzogen und er könne nie mehr als Boxer sein Geld verdienen. Im Nahkampf aber war Eder kaum zu besiegen.
Als der Kampftag kam, trat Trollmann an «mit der Grandezza eines grossen Tragöden», wie der Sportjournalist Michael Quasthoff 1996 schrieb. Die Haare hatte er sich wasserstoffblond gefärbt, den Körper mit Mehl bestäubt – die Karikatur eines arischen Kämpfers. Vor dem betreten schweigenden Publikum in der Bockbierbrauerei stellte er sich breitbeinig in den Ring und liess Eder angreifen. Fünf Runden lang nahm er die Schläge des Kleineren, den er leicht hätte austanzen können, bis er zusammenbrach. Selbst der Kommentator der «Boxsport» kam nicht umhin, seinen Bericht mit dem Satz zu beginnen: «Er kam aus der Ecke, um zu kämpfen.» Was das Blatt nicht hinderte, in der gleichen Ausgabe ein Spottgedicht zu veröffentlichen: «War einmal ein Zigeuner / jetzt ist er nämlich koiner.»
Sterilisiert, untergetaucht, ermordet
Mit dieser Niederlage war Trollmanns Karriere faktisch beendet. Zwar kämpfte er noch einige Male, konnte aber keinen Fight mehr gewinnen. Wann immer er nach Punkten vorne lag, kam ein Braunhemd in seine Ecke und zischte ihm zu: «Leg dich, Zigeuner, oder wir holen dich und deine Familie!» Seine eigene Familie in Berlin – über die äusserst wenig bekannt ist – verliess er, um seine Frau und seine Tochter nicht rassistischer Verfolgung auszuliefern.
In den nächsten Jahren verschärfte sich die Lage für Sinti und Roma in Deutschland dramatisch. Nachdem sie von den Rassenforschern als Nichtarier eingestuft worden waren, begannen 1938 die so genannten «Asozialenaktionen»: Jeder der nichtsesshaften Zigeuner konnte von der Kriminalpolizei ins KZ gebracht werden, am Rande mehrerer Grossstädte – unter anderem in Hannover und Berlin – wurden spezielle Internierungslager eingerichtet. Wie der Berliner Ziganismusforscher Wolfgang Wippermann betont, konnten die sesshaften Sinti und Roma der Verfolgung zumeist entgehen, indem sie sich sterilisieren liessen. Auch Trollmann unterzog sich dieser Operation. Er tauchte unter, lagerte monatelang im Teutoburger Wald, schlug sich als Rummelboxer auf Jahrmärkten durch.
1939 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, wo er bis zum Arisierungsgesetz im November 1941 an der Ostfront in Russland kämpfte. Im Juni 1942 holte die Gestapo Trollmann aus der Hannoveraner Wohnung seines Bruders Wilhelm und brachte ihn ins KZ Neuengamme, wo regelmässig Transporte nach Auschwitz abfuhren. Warum er trotz der Sterilisierung interniert wurde, ist unbekannt.
Als in Neuengamme bekannt wurde, dass der ehemalige deutsche Meister im Halbschwergewicht eingeliefert worden war, begannen die SS-Männer ein grausames Spiel: Wann immer sie sich langweilten, zogen sie dem Häftling 721/1943 Boxhandschuhe über. Wer gerade Lust hatte, schlug den ausgemergelten Mann bewusstlos. Damit dieses Spiel möglichst lange währen konnte, bekam er für jeden erlittenen K.o. ein Butterbrot. Ob Trollmann am 9.2.1943, dem Tag seiner Erschießung, so geschwächt war, dass er nicht mehr als Gegner taugte, ob er sich ein letztes Mal gewehrt hat oder ob es andere Gründe gab, auch das ist nicht bekannt. Seine Urne wurde auf dem Hannoveraner Friedhof Ricklinger Anger beigesetzt. 1970 wurde das Grab eingeebnet.
Quelle: WoZ (Die Wochenzeitung)-Online
Späte, verschämte Erinnerung
(hr). Erst siebzig Jahre später kam Wilhelm Trollmann zu seinem Recht. Aber ohne Öffentlichkeit, die der Geschichte gut zu Gesicht gestanden hätte. Im Dezember 2003 erinnerte sich man an den Deutschen Meister im Halbschwergewicht von 1933. In einem Box-Gymnasium in Berlin-Köpenick wurde der Meistergürtel Trollmanns seinen noch lebenden Verwandten übergeben. Mitglieder des Vorstands des Bundes deutscher Berufsboxer (BDB) waren nicht erschienen. „Aus der Personalie Trollmann“, so war zu hören, wollte man „keine große Sache“ machen.
Buchtipp: Gerade erschienen: „Leg dich, Zigeuner“, Piper-Verlag, 360 Seiten, ISBN: 9783492049023
Links:
Webseite der Familie Trollmann
Autor/In: Knud Kohr