„Man will wieder ’ne Mauer bauen? Ein Treppenwitz“
Zäune ziehen, internieren, abschieben: Die Rezepte vieler europäischer Politiker zur Lösung der Flüchtlingsprobleme sind einfach und setzen auf Abschreckung der Flüchtlinge statt auf eine Lösung ihrer existentiellen Probleme. Aus Sicht des seit Jahrzehnten täglich mit Flüchtlingsfragen befassten Konstanzer Anwalts schildert Rudy „Kuki“ Haenel, was sich in Flüchtlingsrecht und -politik ändern muss.
Allerorten wird jetzt die Beschleunigung der Asylverfahren gefordert. Arbeiten Ämter und Gerichte tatsächlich langsamer als möglich?
Das Gerede von der Beschleunigung der Asylverfahren sowohl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch bei den Gerichten geht an der bisherigen Wirklichkeit vorbei. Will man die Verfahren schneller durchführen, braucht es viel mehr fachlich qualifiziertes Personal, vom Sachbearbeiter bis zum Richter, und solches Personal muss erst einmal ausgebildet werden. Vor allem die Ausbildung von Richtern und deren Weg über das Referendariat bis zur Verbeamtung dauert lange und kostet viel Geld. Deshalb wird sich in diesem Bereich nicht viel ändern und eine Verfahrensbeschleunigung kaum zu erreichen sein.
Die Vorstellung, dass schnellere Verfahren Flüchtlinge abschrecken könnten, ist außerdem falsch: Jemanden, der unter großen Gefahren quer durch Europa flüchtet, interessiert die Verfahrensdauer erst mal überhaupt nicht. Flüchtlinge brauchen zunächst Sicherheit und dann möglichst schnell Klarheit, das Schlimmste für sie sind Ungewissheit und Angst. Eine Beschleunigung der Verfahren wäre aus diesem Grunde sogar eine Erleichterung für die Beteiligten.
Was hat sich durch die letzten Asylrechtsänderungen für Flüchtlinge und deren Anwälte verändert?
Die gerade durchgepeitschte Asylrechtsänderung verschlechtert die Situation vieler Flüchtlinge, um sie abzuschrecken. Das gilt sowohl für die, die bereits hier sind, als auch für die, die noch kommen werden. Derzeit erhalten nur Menschen aus Syrien pauschal Flüchtlingsschutz, weil man vor deren Lage die Augen beim besten Willen nicht mehr länger verschließen kann. Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Eritrea, Somalia, Iran oder dem Irak müssen weiterhin das normale Asylverfahren durchlaufen. Ihre Verfahren werden erschwert und der Ausgang bleibt ungewiss. Vor einiger Zeit wurden Sachleistungen zugunsten von Geldleistungen abgeschafft, weil Sachleistungen menschenunwürdig und unökonomisch sind, und jetzt führt man die Sachleistungen zur reinen Abschreckung wieder ein. Es gibt jetzt Abschiebungen ohne Vorwarnung und viele weitere Verschlechterungen. Die Lage dieser Menschen wird damit noch mal ein Stück schwieriger.
Wie steht es mit Sinti und Roma vom Balkan – deren Abschiebung wird öffentlich immer wieder als erstes gefordert?
Diese Menschen haben in Deutschland keine Lobby. Roma werden nach meinen Erfahrungen in ihren Herkunftsländern massiv diskriminiert und sind oft an Leib und Leben gefährdet. Das System der „sicheren Herkunftsländer“ leistet dem Vorschub. Hier missachtet Deutschland die Genfer Flüchtlingskonvention, und gerade mit der Verantwortung aus der deutschen Geschichte im Hintergrund ist dies unerträglich. Auch die geforderten Massenabschiebungen sind rechtsstaatlich nicht zulässig und schrecken niemanden ab.
Völlig hanebüchen würde es, wenn man jetzt auch noch die Türkei zum „sicheren Herkunftsland“ erklärte, denn damit würde man vielen Kurden und anderen türkischen Flüchtlingen die Möglichkeit nehmen, in Deutschland Asyl zu bekommen, obwohl sie in der Türkei Haft, Folter und Schlimmeres erwarten.
Letztlich verstößt das Konzept der sicheren Herkunftsländer meiner Ansicht nach gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und auch gegen unser Grundgesetz.
Spüren auch Sie als Anwalt, der Flüchtlinge vertritt, zunehmenden Druck?
Ja, der Rechtsschutz in Asylverfahren wird seit 20 Jahren schrittweise ausgehöhlt, egal unter welcher Regierung. Das alles dient offensichtlich nicht der Beschleunigung von Verfahren, sondern schränkt die rechtlichen Möglichkeiten von Flüchtlingen zunehmend ein, es verkürzt ihre Rechte. Im sogenannten Dublin-Verfahren beispielsweise, das weiterhin für alle außer die Syrer gilt, gibt es keine Rechtsmittelinstanz mehr. Ein Einzelrichter oder eine Einzelrichterin am Verwaltungsgericht entscheiden letztlich, ob z.B. eine junger Afghane oder eine Irakerin nach Ungarn müssen, um dort beim Scharfmacher Orbán ihr Asylverfahren durchzuführen. Das ist eine Katastrophe für die Menschen – und ein Armutszeugnis für das deutsche und europäische Asylrecht.
Außerdem ist die sonst in allen anderen Verfahren übliche Prozesskostenhilfe in den Asylverfahren faktisch abgeschafft. Bei anderen Prozessen schaut das Gericht zu Anfang des Verfahrens: Ist die Person a) arm und hat sie b) Erfolgsaussichten – und entscheidet dann über die Prozesskostenhilfe. In Asylverfahren wendet man einen juristischen Trick an, indem man erst am Ende des Verfahrens über die Erfolgsaussichten befindet: Die Flüchtlinge müssen von ihrem bisschen Geld den Anwalt erst mal selbst bezahlen, da hat man als Anwalt regelrecht ein schlechtes Gewissen, wenn man ihnen eine Rechnung stellt. Haben die Flüchtlinge Erfolg, brauchen sie die Prozesskostenhilfe nicht, haben sie keinen, spricht man ihnen die Prozesskostenhilfe ab, weil sie keine Erfolgsaussicht hatten. In allen sonstigen Verfahren wird Prozesskostenhilfe in der Regel vorher gewährt, auch wenn das Verfahren am Ende verloren gehen könnte, das ist bei Flüchtlingen anders, die kriegen auf keinen Fall Prozesskostenhilfe.
Sie als Anwalt haben aber doch sehr weit reichende Rechte?
Nein, wie sehr auch wir Anwälte eingeschränkt werden, zeigt etwa die Einsicht in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, die auf Berichten der Botschaften basieren. Den Verwaltungsgerichten liegen diese Lageberichte vor und sie stützen ihre Entscheidungen, ob jemand Asyl bekommt, maßgeblich auf diese Berichte. Diese stehen aber „unter Verschluss“, ich bekomme sie nicht in die Hände, ich muss sie im Verwaltungsgericht 100 km weiter in Freiburg einsehen und darf nichts daraus kopieren, ich kann mir für die Verhandlung allenfalls ein paar Stellen rausschreiben – und die Fahrt dorthin und meine Zeit bekomme ich natürlich auch nicht bezahlt. Diese Lageberichte der Botschaften vor Ort sind außerdem immer diplomatisch geschönt und bilden nicht die Realität ab; als Anwalt verbringe ich daher viel unbezahlte Zeit damit, die aktuelle Lage in einzelnen Ländern im Internet zu recherchieren.
Was sind die Perspektiven?
Schnellschüsse á la Seehofer bringen überhaupt nichts. Deutschland will wieder eine Mauer bauen? Das ist ein Treppenwitz! Wir müssen als Tatsache akzeptieren, dass es große Flüchtlingsströme gibt und müssen eine europa- oder gar weltweite Lösung finden. Eigentlich wissen wir alle längst, was passieren muss: Die erste Ursache für Massenflucht sind Kriege, daher verbieten sich auch Waffenexporte, vor allem in Krisengebiete und damit auch an Länder wie Saudi-Arabien. Die zweite Ursache ist die sich ständig weltweit steigernde wirtschaftliche und soziale Ungleichheit durch Globalisierung, Kapitalismus und teils auch sich verschlechternde Umweltbedingungen.
Was muss ganz konkret geschehen?
Flüchtlinge in Deutschland brauchen dringend praktische Verbesserungen: Sie müssen 1. sofort arbeiten dürfen. 2. brauchen sie kostenlose Deutschkurse von Anfang an und nicht erst nach der Anerkennung. Und 3. muss es für Flüchtlinge schnell Rechtssicherheit und einen Familiennachzug geben.
Am wichtigsten ist es in der momentanen Situation, Familien und Kinder unbürokratisch nachkommen zu lassen. Bis jetzt läuft es so, dass eine ganze Familie beispielsweise in die Türkei oder den Libanon flüchtet und dort im Lager haust, und dann macht sich der Widerstandsfähigste, das kann der Vater oder auch der manchmal noch minderjährige Sohn sein, auf die gefährliche Reise nach Deutschland, teils auch, weil man nur für einen den Schlepper bezahlen kann. Eine solche Flucht durch Europa ist nicht so, als wenn wir mit dem Auto oder dem Zug von Istanbul nach München fahren, sondern eine fürchterlich anstrengende und gefährliche Angelegenheit.
Wenn dieser Eine dann hier ist, hat er nur noch einen einzigen Gedanken: Nämlich, wie es seiner Familie geht. Wie soll jemand Deutsch lernen oder sich gar integrieren, wenn er vor Angst um seine Familienangehörigen, um seine Eltern, seine Frau, um seine Kinder, die irgendwo im Lager sitzen, kaum schlafen kann? Bisher wird ein schneller Familiennachzug von der Bürokratie blockiert, auch wenn ein Flüchtling in Deutschland längst anerkannt ist. Vor allem Syrer müssen Angst um ihre Angehörigen haben, hier müsste ein sofortiger, offizieller Familiennachzug ohne Schlepper innerhalb der EU und darüber hinaus möglich sein.
All das kann sich Deutschland allemal leisten. Nach mehreren Jahrzehnten als Flüchtlingsanwalt weiß ich: Ich habe viel Glück, dass ich zufällig in Deutschland und in einen Zeitabschnitt hinein geboren wurde, in dem ich nicht gezwungen bin, mein Land zu verlassen. Meine Mutter und ihre Familie wurde in Frankreich von den Nazis verfolgt. Ich möchte deshalb dazu beitragen, Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, hier aufzunehmen, damit auch sie ein menschenwürdiges Leben führen können.
Das Gespräch führte Harald Borges