Fiese, miese Leiharbeit am Bodensee

Leiharbeit ist die Kunst, sich von drei Herren gleichzeitig ausbeuten zu lassen – von der Verleihfirma, von der Entleihfirma und von Papa Staat. Gesetzlich geregelt wurde die Leiharbeit durch das Arbeitnehmer­über­lassungs­gesetz schon 1972. Aber es war das Verdienst von Rot-Grün unter Schröder-Fischer, mit einer Gesetzesänderung zum 1. Januar 2003 die Leiharbeit zu einer Massenerscheinung zu machen, die auch im sonnigen Süden Fuß fasst.

Nun konnten auch „seriöse Unternehmen“ aus gut verdienenden Branchen wie Pharma und Chemie dazu übergehen, Arbeitnehmer billig von Verleihfirmen auszuleihen und je nach Bedarf wieder an die Luft zu setzen. Bis dahin mussten sie die Arbeitnehmer zu guten Löhnen mit befristeten Verträgen direkt anstellen und mussten sich bei der dritten Verlängerung entscheiden, ob sie den Arbeitnehmer loswerden oder unbefristet weiter beschäftigen wollten.

Die Tricks der Leiharbeitsfirmen

Mit was für Methoden die Leiharbeitsfirmen arbeiten, sei am konkreten Beispiel einer solchen Firma aus Singen geschildert, deren Namen zur Vermeidung kostspieliger Gerichtskosten für seemoz hier nicht genannt wird. Diese Firma hatte eine Arbeitnehmerin aus dem europäischen Ausland, die am Bodensee wohnhaft ist und über eine abgeschlossene Ausbildung als Chemielaborantin sowie Berufserfahrung verfügt, der Reihe nach an mehrere Chemieunternehmen verliehen.

Nach jedem Arbeitseinsatz wurde der Frau gekündigt, später wieder ein Vertrag angeboten, mit der Folge, dass sie jedes Mal wieder auf der untersten Stufe der Lohngruppen anfing, die im Tarifvertrag zwischen Gewerkschaft und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ), dem auch die Singener Leiharbeitsfirma angehört, festgelegt sind. Mit zunehmender Dauer des Arbeitsverhältnisses sollte der Lohn sich in etwa an den eines fest angestellten Arbeitnehmers des Ausleihbetriebs angleichen, aber durch die laufenden Kündigungen kommt es nie dazu.

Im Arbeitsvertrag der Frau ist eine monatliche Arbeitszeit von 143 Stunden festgelegt. Das ist deutlich weniger als die Arbeitszeiten in den Unternehmen, in denen sie tatsächlich eingesetzt wird. Zugleich bestimmt der Arbeitsvertrag, dass der Arbeitgeber (also die Verleihfirma) Überstunden anordnen kann, wenn Bedarf besteht. Der besteht in aller Regel, weil die Entleihfirma deutlich mehr als eine 35-Stunden-Woche einfordert. Der Arbeitnehmer bekommt die Überstunden aber nicht ausgezahlt, sondern die landen auf einem Stundenkonto. Wenn das Ausleihunternehmen die Person vorzeitig zurückgibt, weil der Bedarf nicht mehr vorhanden ist, nutzt die Verleihfirma dieses Stundenkonto zur Fortsetzung der Lohnzahlung.

Sprich: Das Risiko für den Fall einer kürzeren Beschäftigung als ursprünglich vorgesehen, wird auf den Arbeitnehmer abgewälzt. Man kann gegen die Rückhaltung des Überstundenlohns vor dem Arbeitsgericht klagen und hat dann auch gute Chancen, im Rahmen einer gütlichen Einigung (eines Vergleichs) das Geld ausgezahlt zu bekommen. Denn die Leiharbeitsfirmen wollen es unbedingt vermeiden, dass rechtskräftige Urteile diese Praxis für illegal erklären.

Fristlose Kündigung nach Erkrankung

Nach einer schweren Erkrankung wurde der Frau von der Leiharbeitsfirma fristlos gekündigt. Sie war aufgrund der Erkrankung nicht in der Lage gewesen, den Krankenschein rechtzeitig abzugeben, hat es aber nach eigener Versicherung getan. Sie ist auch im Besitz des Durchschlags für den Arbeitnehmer, so dass kein Anlass besteht, an ihrer Darstellung zu zweifeln. Die Frau klagte gegen die fristlose Kündigung. Die Entlassung und die unvollständige Auszahlung des zustehenden Lohns hatten sie in akute Armut gestürzt, so dass sie auf Prozesskostenhilfe angewiesen war, um überhaupt einen Anwalt hinzuziehen zu können. Eine Rechtsschutzversicherung hatte sie nicht, bei der Gewerkschaft war sie wie viele andere auch nicht Mitglied.

Vor dem Arbeitsgericht in Radolfzell

Im September wurde der Fall vor dem Arbeitsgericht verhandelt. Von der Verleihfirma war ein Anwalt anwesend, außerdem die gekündigte Frau und ihr Anwalt, geleitet wurde die Verhandlung von einer erfahrenen Richterin. Der Sitzungssaal war voll – eine seltene Erscheinung, weil an diesem Tag Rechtsreferendarinnen ihren Anschauungsunterricht hatten.

Der Anwalt der Leiharbeitsfirma behauptete, die Frau habe unentschuldigt gefehlt und sei deshalb auch schon öfters abgemahnt worden. Aber sie habe keine Lehre daraus gezogen und sich wieder nicht ordnungsgemäß krank gemeldet. Auch sonst war er ohne Kenntnis von Fakten stets bemüht, die Klägerin als unzuverlässige Person darzustellen, wohl wissend, dass er eine kranke Ausländerin vor sich hatte. Der Firmen-Anwalt ist als Mensch durchaus ansprechbar und lässt mit sich reden, trotzdem hat er keine Hemmung, hier Rufmord zu betreiben. Das wirft kein gutes Licht auf die Ausbildung und Menschlichkeit hiesiger Juristen.

Schon zur Eröffnung der Verhandlung wies die Richterin darauf hin, dass der Arbeitgeber kurz hintereinander zwei Schreiben an die Klägerin gerichtet habe. Im ersten sprach er die fristlose Kündigung aus, im zweiten eine Abmahnung. Beides aufgrund der selben angeblichen Fehlzeit. Der Anwalt der Firma versuchte das schönzureden, seine Mandantin (die Firma) habe ja zum Glück die fristlose Kündigung zuerst verschickt, da habe die Abmahnung keinen Einfluss mehr. Die Richterin sah das anders und meinte, die Reihenfolge hänge wohl eher mit den Zufällen des Postausgangs zusammen. Sie ging dann weiter und meinte, es sei kaum zu erwarten, dass die Klägerin angesichts der zerrütteten Beziehung zum Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit ihm bis zur Rente fortführen wolle, und riet auf einen Vergleich mit ordentlicher Kündigung – die vom Arbeitgeber ersatzweise auch ausgesprochen worden war – und Abfindung.

Abfindung als Brosamen

Bei der Abfindung ist es üblich, pro Arbeitsjahr einen halben Monatslohn zu zahlen. Da die Klägerin nur ein halbes Jahr bei der Verleihfirma gearbeitet habe, entspreche dies einem Viertel eines Monatslohns. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben dürften das nicht weit über 200 Euro sein. Das Gemeine: Die Frau hat insgesamt sicher schon ein Jahr für die Verleihfirma gearbeitet, aber da danach jedes Mal die Kündigung ausgesprochen wurde, kam kein volles Jahr zustande und musste nicht berücksichtigt werden.

Beim Einsatz in der chemischen Industrie sind laut Tarifvertrag Branchenzuschläge fällig, auch im Urlaubs- und Krankheitsfall. Der Anwalt der Verleihfirma sagte, er könne nicht zusagen, dass der noch zustehende Lohn inklusive Branchenzuschlag gezahlt werde, er wisse nicht, was bei seiner Mandantin üblich sei. Die Richterin diktierte dann in den Vergleichstext die Formel, dass der Lohn und gegebenenfalls der Branchenzuschlag zu zahlen sei. Aus anderen Fällen ist bekannt, dass eben diese Verleihfirma anderen Arbeitern die Zahlung des Branchenzuschlags verweigerte und sich erst bequemte, als ihr mit einem Prozess gedroht wurde.

Was nicht zur Sprache kam

Verfahren vor dem Arbeitsgericht sind nicht der Ort, wo alle Hinterhältigkeiten des Arbeitgebers abgehandelt werden, es fehlt die Zeit und mitunter auch die Sprachkenntnis, denn Juristen haben Ausdrucksweisen und Begriffe, die schon für Deutschsprachige nicht unbedingt verständlich sind, für Ausländer noch weniger. Fakt ist jedenfalls, dass der Anwalt der Leiharbeiterin zwei Tage vor dem Gerichtstermin von der Verleihfirma Kopien von zwei angeblich früher ausgesprochenen Abmahnungen per Fax zugeschickt bekam und ihr vor der Gerichtsverhandlung vorlegte. Sie hatte diese Abmahnungen noch nie gesehen, wusste aber sofort, auf welchen Sachverhalt sie sich bezogen. In beiden Fällen hatte sie in den Briefkasten der Verleihfirma die Atteste eingeworfen, in einem Fall handelte es sich um eine Krankenhausbescheinigung, die ihr später wieder per Post zurückgeschickt wurde.

Soweit zu den „einschlägigen Abmahnungen“, von denen der Anwalt der Firma sprach. Und besonders frappierend. Nur wenige Tage nach der fristlosen Kündigung erhielt die Leiharbeiterin von der selben Leihfirma eine Anfrage, ob sie wieder einen Vertrag bei der Firma unterschreiben wolle. Da erweckt den Eindruck, als ob die Firma nachträglich „Beweise“ für das Gericht fabriziert habe, um die Kündigung durchzukriegen und erneut bei Stunde Null, am untersten Ende der Lohnskala anzufangen. Aber diesmal ist die Leiharbeiterin nicht auf das Angebot eingegangen. Sie ist noch zu krank.

Was sagen die Parteien?

Dieses Elend ist direkte Folge dessen, was die Parteien im Bundestag beschlossen haben. Aus dem Grund ist es interessant, was denn in den Wahlprogrammen der größeren Parteien dazu steht.

CDU (Seite 14 von 76): „Befristete Arbeitsverhältnisse dürfen unbefristete Arbeitsverhältnisse nicht einfach ersetzen. Deshalb werden wir offenkundige Missbräuche abstellen. Gerade Berufsanfänger, die eine Familie haben oder gründen wollen, brauchen verlässliche Perspektiven. Durch die Neuregelung von Zeit-, Leiharbeit und Werkverträgen haben wir bereits wichtige Verbesserungen für die Arbeitnehmer erzielt.“

Von Plänen für die Zukunft ist hier nicht die Rede, man ruht sich auf den „Lorbeeren“ aus.

FDP (Seite 66 von 158): „Wir Freie Demokraten wollen überflüssige Regulierungen bei der Zeitarbeit bauen. (…) Missbrauch ist in den vergangenen Jahren erfolgreich unterbunden worden: Die Tarifpartner haben bereits Lösungen gefunden, damit der Lohn der Zeitarbeitenden bei längeren Einsätzen an den der Stammbelegschaft angeglichen wird (Equal Pay). Trotzdem hat die Große Koalition hier bürokratisiert. Die unnötigen gesetzlichen Vorschriften zur Überlassungsdauer und Entlohnung führen zu Unsicherheiten und Aufwand. Dies wollen wir ändern.“

Klare Worte von der Partei der Ausbeuter.

SPD (Seite 21 von 116): „Wir wollen existenzsichernde Arbeit anstelle prekärer Beschäftigung ermöglichen. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter (…) brauchen besseren Schutz. Mit der Einführung einer Höchstüberlassungsdauer und dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ haben wir bereits viel erreicht. Diesen Weg werden wir weitergehen. Unser Ziel ist, dass Leiharbeit vom ersten Tag an genauso vergütet wird, wie in der Stammbelegschaft. Davon darf nur durch repräsentative Tarifverträge abgewichen werden. Die Koppelung eines Leiharbeitsverhältnisses an einen Arbeitseinsatz (Synchronisation) soll unzulässig sein.“

Schöne Worte von einer Partei, die die heutige Praxis überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Parteiführung weiß selbst, dass sie nur noch in einer großen Koalition an die Regierung kommt, und folglich Dinge verspricht, die sie gar nicht einhalten kann.

Grüne (im 248 Seiten dicken Programm taucht das Wort Leiharbeit mehrmals auf, inhaltlich werden allerdings nur zwei Punkte angesprochen): S.107: „Außerdem wollen wir die Beschränkungen aussetzen, die für Geflüchtete bei der Leiharbeit gelten.“ S.220: „Wir wollen die Arbeitswelt gerechter gestalten. Leiharbeitskräfte bekommen den gleichen Lohn wie die Stammbeschäftigten und eine Flexibilitätsprämie.“

Typischer Gedächtnisverlust einer Ex-Regierungspartei, die 2003 zusammen mit der SPD diese Leiharbeit überhaupt eingeführt hat. Und jetzt, wo sie nicht mit einer Regierungsbeteiligung rechnen müssen, können sie den Mund mal wieder voll nehmen. Wie rührend, dass auch die Geflüchteten in den „Genuss“ der Leiharbeit kommen sollen.

AfD (Seite 52 von 76): „Die AfD fordert deshalb auch eine gesetzliche Obergrenze von 15 Prozent Beschäftigten mit Leih- oder Werkverträgen in Unternehmen. Leiharbeit muss nach einer sechsmonatigen Beschäftigungszeit einer festen Anstellung gleichgestellt werden. Zeitarbeitsverträge dürfen nur einmal verlängert werden. Sie dürfen nur unter festgelegten Bedingungen abgeschlossen werden.“

Bei 44 Millionen Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland entsprechen 15 Prozent einer Zahl von 6,6 Millionen Menschen. Die Frage: Sind derzeit schon so viele Menschen mit Werkvertrag oder als Leiharbeiter beschäftigt? Ist diese Obergrenze de facto ein Programm zur Ausweitung dieser Praxis? Die Agentur für Arbeit gibt eine Zahl von 900 000 Menschen an, die als Leiharbeiter beschäftigt sind.

Linke (Seite 10 von 144): „Wir wollen prekäre Arbeit abschaffen: Befristungen ohne sachlichen Grund, Minijobs und Leiharbeit werden ausgeschlossen.“

Von den sechs betrachteten Parteien die einzige mit einem klaren Nein zur Leiharbeit.

Jörg Gugelhofer

Quelle: https://www.ig-zeitarbeit.de/system/files/2017/2017-02-01_igz-dgb-tarifwerk_2017-2019_einzelseiten.PDF, dort Seite 18, S.34 (Krankheitsregelung)