Milliardenloch Stuttgart21 – abgrundtief + bodenlos
So much of the world / is plunged in darkness and chaos […]
Ring the bells (ring the bells) that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything (there is a crack in everything)
That’s how the light gets in […]
Mit diesen Zeilen des Songs von Leonard Cohen „The Anthem“ (Die Hymne) leitet Autor Winfried Wolf jede Präsentation seines Buches „abgrundtief + bodenlos. Stuttgart21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“ ein. So auch am vergangenen Freitag in Singen, genau vier Tage nach der 400. Montagsdemo (seit dem 26. Oktober 2009) in Stuttgart gegen den geplanten Tiefbahnhof und genau eine Woche, bevor am 26. Januar der Aufsichtsrat der Bahn ein weiteres Mal über die drastischen Kostensteigerungen des Projekts abstimmen soll.
„Stuttgart21 ist doch durch“
„Das ist doch alles entschieden“, „wird doch längst gebaut“, „interessiert nicht mehr“ galt als weit verbreitete Meinung außerhalb Stuttgarts, und das Interesse an Deutschlands derzeit größtem Bauprojekt schien allgemein verebbt zu sein. Warum dann eine Lesung zu dem Thema ausgerechnet in Singen? Unsere Stadt zeichnet sich ja nicht gerade durch eine rege politische und gesellschaftskritische Diskussionskultur (sei diese auch nur ein bisschen links von der „Mitte“) aus. Entsprechende Veranstaltungen sind in der Regel leider sehr mäßig besucht. Aber „S21“ zieht doch: Gut 40 Interessenten waren der Einladung zu Vortrag und Diskussion mit Diplompolitologe Dr. phil. Winfried Wolf gefolgt. Er sei überwältigt und hätte nicht mit so vielen gerechnet, begrüßte Andreas Syré (Attac) die Anwesenden im voll besetzten Tagungsraum des Gasthauses „Kreuz“ (GEMS) im Namen des Veranstaltertrios – der Attac-Regionalgruppe Singen, der Gruppe SÖS („Singen ökologisch und sozial“, die aus der BI gegen das ECE hervorgegangen ist und sich im Namen an „SÖS / Die Linke“ in Stuttgart anlehnt) und dem Verein seemoz e.V. Für Holger Reile eine gute Gelegenheit, frisch gedruckte seemoz-Flyer zu verteilen. Dass es online für unsere Region noch andere Lektüre als „Südkurier“ und „Wochenblatt“ gibt, war vermutlich noch nicht allen bekannt gewesen. Es war übrigens auch die erste Veranstaltung von seemoz e.V. als nun als gemeinnützig anerkannter Verein.
Aber was hat Leonard Cohen mit Stuttgart21 zu tun?
Was viele nicht wissen: Der Poet und Songwriter war am 29. September 2010 im Schlossgartenhotel gegenüber dem Bahnhof zu Gast und hatte so den „Schwarzen Donnerstag“ als Augenzeuge miterlebt. Tags darauf, bei seinem Konzert in der Schleyerhalle vor 7.000 Menschen widmete er sein Lied „Anthem“ den Bäumen im Schlossgarten, die in der Nacht nach der massiven Polizeigewalt gegenüber den Demonstranten gefällt worden waren. Dieses Lied spiele in seinem Buch eine wichtige Rolle, erzählt Winfried Wolf. „Der Spalt, durch den das Licht fällt“ („There is a crack in everything … That’s how the light gets in“) lautet auch die Überschrift des Kapitels VII. Diese Zeilen sollen besagen, dass es in allen Apparaten der Repression immer einen Spalt, eine Möglichkeit zur Gegenwehr gebe.
Abgrundtiefe Ignoranz und bodenlose Dummheit – warum Stuttgart21 scheitert
„abgrundtief + bodenlos“ (genau so, klein geschrieben) GmbH & Co. KG sei die Firma, die Stuttgart zerstöre. Dazu gehöre auch der politische Verrat der (Landes-)Grünen Partei, die sich nach der Landtagswahl 2011 von der Anti- zur Pro-S21-Partei gewandelt habe, so Wolf. Aber das Scheitern des Großprojekts sei absehbar, aus vier wesentlichen Gründen, die an dieser Stelle nur angerissen werden sollen.
1) Die Gleisneigung von 15,1 Promille im unterirdischen Bahnhof. Maximal sicherheitstechnisch zulässig wären 2,5 Promille (DB-Norm) oder besser 0 Promille wie in China und in der Schweiz.
2) Die Kapazität: der Tiefbahnhof werde von bestehenden 16 Kopfbahngleisen auf 8 Durchfahrtsgleise verkleinert. Das Projekt sei also eine De-Investition – immer weiter steigende Kosten für einen Bahnhof mit real 30% verringerter Kapazität.
3) Das Geld: 4,5 Mrd. € maximal waren laut Bahn 2011 vor dem Volksentscheid als Gesamtsumme angesetzt, 2013 explodierte diese auf 6,6 Mrd. €. Und 7,9 Mrd. € verkündete zuletzt Ronald Pofalla, der amtierende Infrastrukturvorstand, nach der Bundestagswahl 2017. Über die Genehmigung dieser Summe muss nun der Aufsichtsrat der Bahn entscheiden. Das Gutachten dazu ist aber geheim, dem Aufsichtsrat liegt nur eine „Zusammenfassung“ vor. Der Prüfbericht des Bundesrechnungshofes hingegen hat schon 2016 eine Gesamtsumme von 9,5 Mrd. errechnet. Und die Skala nach oben bleibt offen. Stimmt der Aufsichtsrat der erneuten Kostensteigerung zu, könnten Klagen wegen Untreue folgen.
4) Anhydrit (Gipskeuper) befindet sich in hohen Anteilen im Baugrund. Verbindet sich dieses Material mit Wasser, quillt es auf. So geschehen in Staufen nach Geothermie-Bohrungen auf gerademal ein paar 100 Metern, seitdem habe sich dort der Boden um 60 cm angehoben. Für die 16,7-km-S21-Tunnel mit 8 m Durchmesser in Anhydrit-haltigen Schichten ein unkalkulierbares Risiko, was auch ein 2016 gegen den Widerstand aller Pro-S21-Beteiligten bekannt gewordenes, streng geheimes Gutachten bestätigt.
Und warum wird weitergebaut?
Winfried Wolfs wesentlichste drei Thesen dazu:
1) Der aktuelle Kapitalismus: Neben den Verlierern bei diesem Großprojekt (nämlich Schienenverkehr, Stuttgarts Bevölkerung und Klima) gibt es bekanntlich auch Gewinner, zu denen vor allem die Autoindustrie, der Flugverkehr und die Immobilienbranche gehören. Für kritische Geister, Globalisierungsgegner, Kapitalismuskritiker nichts Neues: Gigantische Geldmassen fließen in parasitär-spekulative Projekte, das Ergebnis sind „grandi opere inutili“ wie es im Italienischen heißt: große unnütze (Bau)Werke.
2) Die subjektive Seite: Machbarkeitswahn, männliche Machtphantasien, also „Tunnelmania“, würden hier eine irrationale, aber nicht unwichtige Rolle spielen, frei nach der Bibel: „Macht Euch die Erde untertan“.
3) Staatsräson: Stuttgart21 müsse kommen, sonst „sei Deutschland unregierbar“, so Kanzlerin Angela Merkel. Was im Klartext heiße, der Tiefbahnhof ist längst ein Politikum. Scheitere er, so werde auch der Widerstand gegen andere zerstörerische Großprojekte gestärkt.
Oben bleiben
Winfried Wolf brachte in nur einer guten Stunde überzeugend rüber, dass, so abgrundtief und bodenlos S21 auch ist, es doch „einen Spalt gibt, durch den ein Licht fällt“ – dank des Durchhaltewillens einer breiten, aktiven und kreativen Bürgerbewegung und ihrer bislang 400 beeindruckenden Montagsdemos, die eine neue Kultur des Widerstands hervorbrachte und die längst auch eine Alternative zu S21 parat hat: den Umstieg auf K21!
Detailliert und noch viel spannender lässt sich die Gesamtgeschichte dieses brisanten Wahn-Projekts in Wolfs Buch nachlesen, das nach einem halben Jahr just letzte Woche schon in zweiter und erweiterter Auflage erschienen ist. Und am Donnerstag, 25.1., 19.30 Uhr, wird der Autor sein Buch auch in Konstanz, im Treffpunkt Petershausen präsentieren und sich der Diskussion stellen.
ECE – Milaneo – Cano oder was hat Singen mit Stuttgart zu tun?
Ganz einfach: einer der Hauptprofiteure bei Stuttgart21 ist der Immobilienriese ECE mit der Familie Otto als Eigentümerin. Die Shoppingmall Milaneo ist aber nur der Anfang. Dass diese einen gigantischen Verdrängungswettbewerb und weiteres Ladensterben im gesamten Stuttgarter Großraum auslöste, lässt sich bei Wolf nachlesen. Außerdem würde ECE mit der Einebnung der Gleisflächen des Kopfbahnhofs mit weiteren Immobilienprojekten profitieren. Das „Cano“ steht noch nicht. Aber diese Shoppingmall ist unsere „grande opera inutile“.
Gescheitert ist der Volksentscheid gegen Stuttgart21, gescheitert ist auch die Singener Bürgerinitiative gegen das Kapitalprojekt Cano. Die Größe der Projekte mag nicht vergleichbar sein. Aber in beiden Fällen trug zum Scheitern die Ungleichheit der finanziellen Möglichkeiten der Akteure bei. Die Befürwortung von Stuttgart21 wäre 2011 auch nicht ohne die Unterstützung einer von Großkonzernen gelenkten Medien-Lobby möglich gewesen, so eine These Wolfs. Und in den hiesigen Printmedien erschienen großformatige, mehrseitige Anzeigen und Werbebeilagen der ECE-Befürworter und vom Großkonzern Otto-Group.
Und hier schließt sich der Kreis: Der Stuttgart21-Protest ist zu einer Bewegung für die Demokratie geworden und für das Recht auf Stadt. „Weil die Stadt uns allen gehört“ – das gilt auch für Singen, Konstanz etc.
Uta Preimesser
Das Buch: Winfried Wolf, „abgrundtief + bodenlos. Stuttgart21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“. PapyRossa Verlag, Köln, 2. vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage 2018
Weitere Informationen zu Stuttgart21 können unter kontextwochenzeitung.de/dossiers/das-jahrhundertloch-stuttgart-21.html nachgelesen werden. Und zum Autor siehe auch seemoz.de/lokal_regional/stuttgart-21-und-sein-absehbares-scheitern/
Der newsletter „Heute im Bundestag“ meldet eben:
Die Linke-Fraktion fordert die Offenlegung der von der Deutschen Bahn AG beauftragten Gutachten zum Projekt „Stuttgart 21“. In einem Antrag wird von der Bundesregierung „in ihrer Rolle als Vertreterin des Eigentümers der DB AG“ konkret verlangt, für eine Veröffentlichung des jüngsten Gutachtens des Unternehmens PWC und Emch + Berger, das vom Vorstand der DB AG im Oktober 2017 in Auftrag gegeben worden sei, zu sorgen. Veröffentlicht werden sollen auch das von der Beratungsgesellschaft KPMG sowie dem Ingenieurbüro Ernst Basler + Partner AG erstellte Gutachten „Überprüfung des Berichtes zur aktuellen Termin- und Kostensituation Projekt Stuttgart 21“ sowie die beiden Prüfberichte des Bundesrechnungshofs an den Vorsitzenden des Bundesfinanzierungsgremium vom 8. September 2016 und an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses mit dem gleichen Datum.
Widersprüche und unterschiedliche Gewichtungen in den Untersuchungen seien für die Öffentlichkeit und die Parlamentarier nicht aufzulösen, da die Gutachten nicht öffentlich beziehungsweise für sie derzeit nicht einsehbar seien.
Der ausführliche Antragstext kann hier nachgelesen werden:
https://deref-gmx.net/mail/client/stnWgmcCl5Y/dereferrer/?redirectUrl=http%3A%2F%2Fdip21.bundestag.de%2Fdip21%2Fbtd%2F19%2F004%2F1900481.pdf