Der Klimablog (110): Negative Emissionen – Option oder Wunschdenken?
Vergangene Woche hat er wieder gewarnt: Sofortige und weitreichende Klimaschutzmaßnahmen seien dringlicher denn je, schreibt der Weltklimarat IPCC in seinem neuesten Bericht – es komme auf jedes Zehntel Grad an. Aber hört überhaupt noch jemand hin? Denn nicht nur die Betonpolitiker*innen der Ampelkoalition stecken lieber den Kopf in den Sand – und träumen von technischen Lösungen. Aber funktionieren die überhaupt?
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Teil 1: Aufforstung und Landwirtschaft
541 verschiedene Modellpfade listet der Weltklimarat IPCC auf, mit denen es möglich wäre, die Temperaturerwärmung auf zwischen 1,5 und 2 Grad Celsius zu begrenzen. Alle diese Modelle vertrauen in unterschiedlichem Maße auf negative Emissionen – also darauf, dass es uns in Zukunft mit diversen Techniken gelingt, große Mengen an CO2 aus der Atmosphäre zu holen und sicher zu speichern.
Gemeint sind damit Techniken, die bislang meist zurecht aus der Diskussion verbannt waren mit dem Argument, dass es höchst riskant sei, das Überleben der Menschheit auf noch nicht marktreife Technologien zu verwetten. Doch angesichts des Versagens der Politik enthalten immer mehr Klimaschutzmodelle solche Techniken. Aber können die Negativemissionstechnologien (NET) tatsächlich einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz leisten?
Zuerst eine Klarstellung: Dass der IPCC Szenarien auflistet, die NET enthalten, heißt zwar, dass es eine große Wahrscheinlichkeit gibt, dass wir diese Techniken benötigen. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Denn alle Szenarien des IPCC gehen davon aus, dass die weltweite Wirtschaft immer weiter wächst. In vielen Studien wurde gezeigt, dass weiteres Wirtschaftswachstum Klimaschutzbemühungen deutlich erschwert (siehe beispielsweise hier) und dass das gute Leben für alle mit etwa 40 Prozent unseres heutigen weltweiten Energieverbrauchs möglich ist. Solche Ansätze würden es der Menschheit ermöglichen, deutlich schneller und sicherer Klimaschutzziele einzuhalten und zudem einen großen Teil der Bevölkerung aus der Armut holen. Aber sie scheitern momentan an großen politischen Hürden.
Wie viel CO2 aus der Atmosphäre wieder entfernt werden muss, schwankt stark je nach Szenario. In den drei prominentesten 1,5-Grad-Szenarien reicht die Schätzung von jährlich etwa 4,5 Milliarden bis zu etwa 10 Milliarden Tonnen CO2. In anderen Szenarien wird mit deutlich höheren Werten gerechnet – bis hin zu 30 Milliarden Tonnen pro Jahr.
Um diese Mengen zu bewältigen, müssen bereits ab 2030 Entnahmekapazitäten von mehreren Milliarden Tonnen zur Verfügung stehen, die danach (bis 2050) hochskaliert werden und dann auf Dauer die beschriebenen Mengen aus der Atmosphäre holen.
Mondstaub im All verteilen?
Welche Möglichkeiten gibt es nun, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen?
In der Regel werden im Zusammenhang mit NET ein Dutzend verschiedene Techniken diskutiert, die sich zum Teil sehr voneinander unterscheiden. Hinzu kommen Konzepte, die nicht CO2 aus der Atmosphäre ziehen, sondern die einfallende Sonnenstrahlung blockieren wollen. Das wäre eventuell dann möglich, wenn eine riesige Flugzeugflotte Schwefeldioxid in der Atmosphäre verstreut oder indem Mondstaub im All verteilt wird. Diese Ideen sind jedoch meist hochriskant, verursachen weitreichende Veränderungen im Erdsystem und werden daher in der Regel nicht zu den NETs gezählt.
Auf der anderen Seite der Debatte steht eine Reihe von Ansätzen, die erst einmal gar nicht nach Negativ-Emissions-Technik klingen. Das sind Ansätze wie die der Aufforstung, der klimaschonenderen Waldwirtschaft oder einem Humusaufbau durch bodenfreundlichere landwirtschaftliche Praktiken. Das Potenzial dieser Methoden ist vorhanden, hängt aber stark davon ab, in welchem Umfang sie umgesetzt werden.
Großzügige Prognosen
Vor drei Jahren erregte eine Publikation großes Aufsehen, die sich mit dem Konzept Wiederaufforstung beschäftigte. Der Studie zufolge gäbe es auf der Erde Platz für weitere 900 Millionen Hektar Wald (Siedlungen und Landwirtschaft blieben davon unberührt). Diese Bäume würden dann im Laufe der kommenden Jahrzehnte fast 800 Milliarden Tonnen CO2 speichern – also fast vier Mal so viel, wie die Menschheit jetzt noch emittieren darf, um im 1,5-Grad-Bereich zu bleiben.
Die Publikation löste eine kontroverse Debatte aus. Sind die Zahlen realistisch? Schließlich gehen die meisten Studien von deutlich niedrigeren Werten aus. Auch der IPCC nennt in seinem neuesten Bericht deutlich geringere Zahlen.
Eine ähnliche Geschichte finden wir beim Thema Boden: Eine kürzlich erschienene Studie bezifferte das Potenzial zur CO2-Speicherung bei verbesserter Landnutzung auf 13 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr. Allerdings geht der IPCC auch hier etwas konservativer vor (siehe seinen neuesten Bericht AR6 WG3, Technical Summary, Seite115).
Erholung durch Vernichtung
Dass Aufforstung große Mengen CO2 aus der Atmosphäre entfernen kann, wurde übrigens in der Vergangenheit schon öfters bewiesen – zuletzt mit dem Beginn des frühen Kapitalismus im 16. Jarhrhundert. Im Zuge der europäischen Eroberung des amerikanischen Kontinents wurde die dortige Bevölkerung von etwa 60 Millionen auf 4 Millionen Menschen dezimiert, also nahezu vollig durch Krieg, Hunger, Minenarbeit und vor allem Krankheiten ausgelöscht.
Und obwohl sich die europäischen Kolonialisten ganz und gar nicht nachhaltig verhielten, sorgte diese Vernichtung der indigenen Bevölkerung zu einer großen Wiederbewaldung ehemals besiedelter und bewirtschafteter Gebiete. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden so über 50 Millionen Hektar Land bewaldet, die aus der Atmosphäre fast 30 Milliarden Tonnen CO2 entfernten und so in Kombination mit anderen Effekten zu einer kleineren Abkühlung am Beginn der frühen Neuzeit führte.
Diese kleinere Eiszeit wird übrigens häufig von Klimawandel-Leugner:innen ins Feld geführt um zu beweisen, dass sich das Klima schon immer gewandelt hat. Wäre sie nicht so tragisch, hätte diese Geschichte sogar einen komischen Aspekt: Denn sie illustriert, dass der menschliche Einfluss eben gerade nicht vernachlässigbar ist. Sondern dass rücksichtsloses Verhalten bereits zu Beginn des Kapitalismus, noch vor der industriellen Revolution, das Klima veränderte – wenn auch in deutlich geringerem Maß als heutzutage.
Festzuhalten wäre also: Aufforstung und Bodenaufbau bieten theoretisch ein großes Potenzial. Allerdings müssen sie dafür in weltweitem Maßstab umgesetzt werden.
Zwei Haken
Es gibt aber zwei große Haken an der Geschichte, weshalb die Diskussion meistens um riskantere und mit mehr Nachteilen verbundene Techniken erweitert wird (siehe dazu Teil 2 in dieser Artikelreihe).
Der eine Haken an der Geschichte ist der Status quo. Zwar zeigen Studien ein großes Potenzial, aber bisher bewegen wir uns in die entgegengesetzte Richtung. In den letzten 20 Jahren ist der gesamte Baumbestand nicht gestiegen, sondern um zwei Prozent gesunken; gerade die großen Regenwälder schrumpfen rapide. Besondere Sorge bereitet der Amazonas-Regenwald: Wissenschaftler:innen befürchten, dass weitere Rodungen zu einer Überschreitung des Kipppunkts führen, wonach sich nahezu die gesamte Regenwaldfläche in eine Savanne verwandelt.
Gleichzeitig schreitet die Bodenerosion in der Landwirtschaft fort. Vor fünf Jahren warnte die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO, dass der Menschheit nur noch 60 Ernten bleiben, wenn es so weiter geht. Danach gibt es keinen fruchtbaren Boden mehr.
Der andere große Haken an der Geschichte ist, dass durch die Klimakrise Wälder verbrennen, Pflanzen schlechter wachsen und Starkregen humushaltigen Boden abträgt. Das bedeutet, dass – wenn es so weiter geht – die potenzielle Fläche für Aufforstungen schrumpft. Diese könnte 2050 ein Fünftel kleiner sein, schätzt die oben erwähnte Studie, die von 900 Millionen Hektar ausging.
Mehr statt weniger?
Zusätzlich gibt es Bedenken hinsichtich der Wirksamkeit von Aufforstungen. Beispielsweise könnte Aufforstung in nördlichen Gefilden kleinere Büsche und Graslandschaften verdrängen. Während Büsche im Winter schneebedeckt sind, sind es Bäume meistens nicht. Schnee hingegen reflektiert sehr viel Sonnenlicht, während die dunklen Bäume sich durch die Sonne erwärmen. Dieser Effekt kann lokal so groß sein, dass er die Klimawirkung der Baumpflanzungen umkehrt. Andere Bedenken liegen im Einfluss auf den Wasserkreislauf bei weltweiter Aufforstung, insbesondere wenn die falschen Bäume gepflanzt werden.
So gesehen gibt es zwar ein großes Potenzial, das wir unbedingt nutzen sollten (auch um, bei richtiger Anwendung, die Biodiversität zu erhalten). Auf der einen Seite braucht es aber einen Systemwandel, um dieses Potenzial auszuschöpfen. Zudem ist die Nutzung selbst mit dem Risiko verbunden, dass die erwartete CO2-Einsparung geringer sein könnte. Im schlimmsten Fall könnten sich die Wälder und Äcker sogar in eine CO2-Quelle umwandeln.
Dies ist bereits teilweise im Amazonas-Regenwald zu beobachten. Allerdings liegt dies noch großteils daran, dass der Wald nicht nur Wasser- und Hitzestress ausgesetzt ist, sondern auch noch abgeholzt wird. Berücksichtigt werden muss auch, dass im Zuge einer so gewaltigen Aufforstung keine neuen Landnutzungskonflikte entstehen. Die neokolonialen Ausbeutungsmuster dürfen nicht fortzusetzt werden, wie es im Zuge von CO2-Kompensationsmaßnahmen manchmal geschieht.
Da Aufforstung und Landnutzungsemissionen das Risiko haben, das gespeicherte CO2 wieder in die Atmosphäre abzugeben und ihr Potenzial je nach Szenario nicht reicht, werden zunehmend auch andere Möglichkeiten diskutiert, die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt zu einer zentralen Strategie wurden, die Erde für Menschen bewohnbar zu halten. Welche Methoden das sind und ob sie unseren Erwartungen gerecht werden, steht im zweiten Teil dieser Artikelserie; er erscheint am kommenden Montag.
Text und Audiobeitrag: Manuel Oesteringer von der Konstanzer Klimablog-Redaktion
Illustrationen: Amazonas-Regenwald: © Greenpeace-Brasil); Manuel Oestringer am Megaphon: © pw; Aufforstungsfoto: Pixabay