Neubaugebiet Tiefenreute: nachhaltig und klimaneutral?
In der Singener Südstadt wird ein neues Baugebiet „Tiefenreute/Bühl“ mit einer Gesamtfläche von rund 63 Hektar ausgewiesen. So wurde es Ende November 2022 im Gemeinderat mehrheitlich als „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme“ beschlossen. Gut zwei Drittel der Fläche sind heute Acker- oder Grünland sowie Waldfläche, die somit versiegelt werden sollen. Also klimafeindlicher Flächenfraß statt Schonung unserer letzten Ressourcen?
Wachstum und Prosperität
Die Industriestadt Singen will weiter wachsen und prosperieren. An Wohnraum – vor allem an bezahlbarem Wohnraum – fehlt es auch hier, auch wenn in der Innenstadt derzeit immens gebaut und verdichtet wird. Doch auch mehr Gewerbeflächen sollen ausgewiesen werden. Einerseits als Erweiterungsangebot für bereits ansässige Betriebe, aber auch um neue Investoren anzulocken – nicht dass sich der eine oder die andere womöglich für einen Firmenstandort in einer Nachbargemeinde entscheidet! Geeignete Flächen in Stadtbesitz sind allerdings rar. Erweitert werden kann nur noch an Singens äußeren Grenzen. So wurde bereits 2019 das Areal „Tiefenreute “ in den Fokus genommen, das sich südlich der Georg-Fischer-Straße, Richtung Ortsteil Überlingen am Ried befindet. Auf 89 Privateigentümer (inklusive der Stadt Singen selbst) verteilte sich damals das Areal.
Zum Zeitpunkt des ergangenen Gemeinderatsbeschlusses war es der Stadt gelungen, alle Grundstücke bis auf vier zu erwerben und damit in Besitz von 87 Prozent der Fläche zu sein. Bis zum Jahr 2032 könnte das Bauprojekt vollständig abgeschlossen sein, so die vorläufige Prognose. 60 Prozent der Fläche sind für Gewerbe vorgesehen, für Wohnungsbau lediglich etwa 8 Prozent(!) und etwa 23 Prozent für Grün- und Ausgleichsmaßnahmen. Kurz gesagt: Ein enormes Bauvorhaben, bei dem viel Boden für immer versiegelt und inzwischen ohnehin rare landwirtschaftliche Fläche vernichtet wird. Hinzu kommt, dass das Plangebiet in einem Trinkwasserschutzgebiet liegt und wichtig für die Grundwasserbildung des „Singener Beckens“ ist.
Wie ist solch ein Großbauprojekt mit Singens hehrem Ziel der Klimaneutralität bis 2035 zu vereinbaren? – Laut Sitzungsvorlage kein Problem: „Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung des Gebietes soll insbesondere im gewerblichen Bereich ein ökologisches und nachhaltiges Bauen realisiert werden […]“[1] Die Mehrheit der Ratsmitglieder lässt sich anscheinend nur allzu gern in ihrem Glauben bestärken, dass dies auch so verwirklicht werden wird. Auch der eindringliche Appell eines jungen Klimaaktivisten, dass es angesichts der zu befürchtenden Erderhitzung von vier Grad Celsius bis 2100 Wahnsinn sei, ein so großes Bauvorhaben bedenkenlos durchzuwinken, beeindruckte sie kaum. Mit nur einer Gegenstimme (aus der Fraktion der Grünen) und einer Enthaltung wurde die „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme Tiefenreute/Bühl“ abgesegnet: „Damit die Stadt Singen ein aktiver Wirtschaftsstandort bleibt, den Bedarf an Arbeits- und Wohnflächen für alle Preissegmente sicherstellen kann und sozialen Entmischungsprozessen entgegenwirkt, bedarf es einer zeitnahen und strategischen Flächenbereitstellung. […] Die Entwicklungsziele rechtfertigen auch die Zurückstellung der entgegenstehenden öffentlichen Belange, insbesondere des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie der Landwirtschaft“, so die Begründung laut Sitzungsvorlage. [2]
Der BUND-Ortsverband Singen hingegen hat große Bedenken, was die versprochene Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit und Klimaneutralität von solchen Großbauprojekten angeht (Klinikum-Neubau auf Singener oder Radolfzeller Stadtgebiet ist ja ebenfalls noch in der Diskussion). Hier dessen Stellungnahme:
Der exponentiell fortschreitenden Flächenversiegelung entgegentreten – Lebensraum für Pflanzen, Tiere und zukünftige Menschengenerationen erhalten
Die Stadt Singen hat die Erschließung des gigantischen Wohn- und Industriegebiets Tiefenreute und die damit verbundene Versiegelung von knapp 400.000 m² Acker- und Grünland sowie Wald- und Gehölzflächen beschlossen! Der BUND Singen spricht sich gegen dieses Vorhaben aus.
Folgende Einwände werden geltend gemacht: Der dramatische, weltweite Schwund der Artenvielfalt ist Fakt und schreitet fort. Einer der entscheidenden Gründe dafür ist die Zerstörung der Lebensräume von Flora und Fauna durch den Menschen. Die Singener Ortsgruppe des BUND sucht dem entgegenzuwirken, indem u.a. schon über 100 Nistkästen aufgehängt, Wildbienennisthilfen aufgestellt, Flächen im Stadtbereich mit heimischer Flora bepflanzt und Blühwiesen angelegt wurden, zudem wird eine Streuobstwiese bewirtschaftet, mit Pflanzenständen, Flyern und Vorträgen wird Aufklärungs- und Informationsarbeit geleistet. Das hat aber alles überhaupt keinen Sinn, wenn an anderer Stelle tausende Quadratmeter Lebensraum für Industrie, Wohnen und möglicherweise für ein neues Krankenhaus versiegelt werden.
Es dürfte mittlerweile auch kein Geheimnis mehr sein, dass der fortschreitende Klimawandel und die gefährliche Anreicherung von Kohlendioxid in unserer Atmosphäre – sprich somit auch der Atemluft – eine der größten Herausforderungen zukünftigen Lebens auf unserem Planeten darstellt. Die Bau- und Gebäudeindustrie ist für 38 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Der Erhalt der Atmosphäre für zukünftige Generationen kann nur unterstützt werden durch Erhalt der Sauerstoff produzierenden Fauna, von Wäldern und Grünland, durch Aufforstung, und Entsiegelung – Tiefenreute bewirkt jedoch genau das Gegenteil: Eine CO2-Speicherung im Boden kann bei versiegelten Flächen nicht mehr stattfinden. Die von der Stadt doch eigentlich laut offiziellen Verlautbarungen angestrebte Klimaneutralität rückt damit in unerreichbare Ferne. Ebenso wenig können die Flächensparziele der Landes- und Bundesregierung erreicht werden!
In dem Zusammenhang erwähnenswert: Die Stadtverwaltung Singen hat kürzlich die Bäume im Stadtbereich gelistet – die Gehölze auf dem Areal Tiefenreute gehören zu diesem Bestand!
Der Krieg in der Ukraine hat uns vor Augen geführt, dass der Erhalt der Selbstversorgung im Bereich der Nahrungsmittelproduktion für die Freiheit und Unabhängigkeit einer Gesellschaft fundamental ist. Fruchtbares Ackerland oder wichtiges Grünland darf auf keinen Fall weiterhin kurzfristig kalkulierten Bauprojekten zum Opfer fallen – wir brauchen keine weitere Plastikfabrik oder einen neuen Baustoffmarkt, sondern fruchtbare Böden!
Für die Ausweisung neuen Baulands müssen laut Gesetz Ausgleichsflächen ausgewiesen werden. Nimmt man z.B. den Flächenbedarf für ein neues Krankenhaus auf der Gemarkung Singen hinzu, sprechen wir von weiteren 450.000 m² Versiegelungsfläche! Woher sollen diese „Ausgleichsflächen“ genommen werden? Die Gemarkungsgröße kann ja nicht einfach ausgedehnt oder erweitert werden! Wir fordern deshalb eine bedarfsorientierte Ausweisung statt einer angebotsorientierten Ausweisung auf Verdacht und Vorrat. Und eine Unterstützung der inhabergeführten Läden im Innenstadtbereich statt weitere Ketten-Märkte im Gewerbegebiet, die noch dazu ihren Sitz woanders haben, also nur ein Teil von deren Gewerbesteuer in Singen ankommt.
Jede Versiegelung solchen Ausmaßes raubt Lebensraum und führt unwiederbringlich zu Verlusten der Artenvielfalt!
Text: UP/MM BUND-Ortsverband Singen, Foto: Archiv seemoz
[1] & [2]: Zur Vorlage für die Gemeinderatssitzung vom 29.11.2023
Flächenversiegelung, die Umwandlung von Acker- in Bauland, daraus resultierende Abholzung des Waldrandes, um den vorgegebenen Mindestabstand zum Wald einhalten zu können — da machen sich Kommunalpolitiker/innen rund um den See in Sachen ökologisch bauen etwas vor. Einige wohl schon lange übliche Praktiken grenzen für mich an Betrug: Grosse Teile des Waldes abzuholzen, damit der aus Sicherheitsgründen geforderte Abstand zum Wald stimmt? Hambacher Forst am Bodensee? Ich bin gespannt, wie die lokale Klimabewegung damit umgehen wird. Die Partei Die Linke zeigt nach wie vor wenig bis kein Interesse daran, solange nur das „soziale Klima“ stimmt, und stimmt im Gemeinderat grundsätzlich für das Ausweisen neuer Baugebiete.
Das Soziale muss auch stimmen, aber das Ausweisen von Neubaugebieten zeugt eher von Hilflosigkeit, als von der klaren Erkenntnis, was für die Zukunft auf dem Spiel steht. Schon die Frage, wo das „ökologische Baumaterial“ dafür herkommen soll, solange nur marginal recycelt wird, bleibt unbeantwortet. Wie soll sich der marode, hitzegestresste Wald erholen, wenn er weiterhin so bewirtschaftet wird und plötzlich alle mit Holz bauen. Allein die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien oder von Urwald in Rumänien zu kritisieren, während wir hier weiter fuhrwerken – damit muss Schluss sein!