Nicht Unwort, sondern Untat
Jüngst wurde die bestehende Liste der Unworte des Jahres um den Begriff „Pushback“ ergänzt, der nun in einer erlauchten Reihe mit Gutmensch, Volksverräter, alternative Fakten und Anti-Abschiebe-Industrie steht. Zwar ist die Motivation der Jury letztendlich unbestreitbar richtig, gleichwohl passen Pushbacks nicht in die Ordnung des Registers. Kurzum ist nicht das Wort problematisch, sondern seine Praxis.
Die bisherigen Begriffe wie Corona-Diktatur haben gemeinsam, eine gesellschaftlich aufgeladene Debatte mit einer semantischen Verschiebung und einer diskursiven Polarisierung zu verknüpfen: Als Beschreibung der Pandemiepolitik verweist die Corona-Diktatur auf die zeitweise Aussetzung gewisser Grundrechte (besser: ihre kurzzeitige Unterordnung unter andere Grundrechte) und den Vorrang der Exe- vor der Legislative in den Hochzeiten der pandemischen Situation. Auch wenn das Wort also durchaus einen realen Gegenstand hat, so wird die geregelte Ausnahmesituation einer „epidemischen Notlage nationaler Tragweite“ mit dem Bild der Diktatur historisch verzerrt, normativ aufgeladen und politisch delegitimiert. Zuletzt fällt mit dieser Abwertung eine Polarisierung zusammen, eine Einteilung in Gut und Böse, Freund und Feind, die nicht mehr in Gespräche eintreten können. Die Unworte sind also oftmals auch die Extrempunkte der Debatten, an denen diese nicht mehr weitergeführt werden können.
Es handelt sich bei den Unwörtern also in der Regel um verzerrende Begriffe, und gerade diese Verzerrung scheint das Wort Pushback eben nicht aufzuweisen. Weder wird hier ein Vorgang verniedlicht oder eine Personengruppe dämonisiert. Im Gegenteil bezeichnet er eine konkrete politische Praxis der Festung Europa, die flüchtende Menschen an ihren Außengrenzen wider dem Recht und wider allen Geboten der Menschlichkeit und der Solidarität zurückweist. Mit den Pushbacks küren wir also weniger das Unwort, sondern die Untat des Jahres. Und diese Praxis hält nicht nur an, sondern bleibt auch, sofern sie überhaupt bemerkt wird, für die verantwortlichen Regierungen wie jene Griechenlands, Italiens und Ungarns und selbst EU-eigene Behörden wie Frontex ohne Konsequenzen.
Die Eskalation an der polnisch-belarussischen Grenze führte nicht nur zu einer Vergegenständlichung der Flüchtenden auf beiden Seiten, sie normalisierte auch gewaltsame Pushbacks sowie die Einschränkung medialer Berichterstattung über die Vorgänge.
Auf dem Rücken der Schwächsten will die Außenpolitik der Europäischen Union offenbar ihre Handlungsfähigkeit beweisen. Sichere Grenzen haben aber nur dann einen wirklichen Sinn, wenn das, was im Inneren liegt, überhaupt wert ist, geschützt zu werden. Hieran muss der Zweifel wachsen: Aus Angst vor Menschen schotten wir uns ab, und errichten im Mittelmeer und in den Lagern Libyens Friedhöfe. So ist die Wahl des Unwortes schlussendlich zwar mangelhaft, anerkennenswerterweise macht sie aber einen Missstand deutlich, nämlich die Diskrepanz zwischen dem Projekt Europa und der Politik der Europäischen Union.
Text und Bild: Tobias Braun