Nirgendwo einheimisch

Jochen Kelter Schriftsteller (c) Privatbesitz

Seine Gedichte haben viel Altersbitteres – das gilt auch für jene Auswahl, die Jochen Kelter in seinem jüngsten Buch präsentiert. Es trägt den Titel Im Grauschlaf stürzt Emil Zátopek, ist wie der Vorgängerband Fremd bin ich eingezogen (2020) im jungen Thurgauer Verlag Caracol erschienen und wird mit einem pandemiegeprägten Vers eröffnet. Dessen Schlusszeilen lauten: «ihr seid abgeräumt euer / Jahrhundert sagt good-bye / nichts wird sein mehr wie zuvor».

Kelter, Jahrgang 1946 und seit ewigen Zeiten im Thurgau lebend, weicht der eigenen Vergänglichkeit nicht aus, dem Altern und dem «vergehenden Tag», er spürt die Zugluft Tod und vermisst die Gefährten am Wegrand. Aber, wie es in einem Gedicht mit dem Titel Persönliches Notat programmatisch heißt: Privater will der Dichter nicht werden, «Privates verbietet sich der Literatur».

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Umso intensiver verhandelt Kelter Politisches und Historisches, die Verbrechen der Nazis und deren Nachkriegskarrieren, Kriegstreibereien und Bombengeschäfte von Vietnam bis Israel, von Kuba bis Sibirien, von Danzig bis Belgrad. Er kritisiert die «Financiers» und ihren «Würgegriff», prangert politische Correctness und kleingeistiges «Gegröle» seiner Zeitgenossen an, beklagt verlorene Ideale und neue Dummheiten.

«Wir leben in keiner Zeit / wir leben alleine dazwischen», bilanziert ein Gedicht von 2018, hier gemünzt auf Wahlen in Deutschland und den Abstimmungssonntag in der Schweiz, aber gültig wohl über die Tagesaktualität hinaus für einen Dichter, der sich hier wie dort im Exil sieht und «doppelt Grund» hat, «nirgendwo einheimisch zu werden».

Gelegentlich schimmert doch noch ein unerwartet heiteres Abendlicht durch die Zeilen. Am stärksten in der Abteilung «Sagt der Engel». Kelters Engel taucht zum Beispiel an einem «grossen Sommerabend» auf und schweigt wissend zur Frage des Dichters, wie es mit dem «Übergang von hier in die Zukunft» stehe. Er ermuntert im Abendgarten das lyrische Ich, die eigenen «Tönungen» zu entdecken gegenüber dem «kantenscharfen» Leben, oder kritisiert zwei Seiten weiter ungnädig sein «rachsüchtiges» Gegenüber. Dem lebensklugen Engel würde man gern wieder begegnen.

Jochen Kelter: Im Grauschlaf stürzt Emil Zátopek, Caracol Verlag Warth 2021, Fr. 20.-

Lesungen:
– 21. Oktober, 19.30 Uhr, Literaturhaus Thurgau, Am Dorfplatz 1, Gottlieben, weitere Informationen hier.
– 1. November, 18.30 Uhr, Frauenfelder Lesegesellschaft, Promenadenstrasse 16, Frauenfeld, weitere Informationen per Mail.

Text: Peter Surber, Foto: Privatarchiv
Dieser Text erschien zuerst im Ostschweizer Kulturmagazin „Saiten“