Nur eine Notlösung für Geflüchtete

Karin Becker wird ab 2020 neue Intendantin des Konstanzer Stadttheaters, so hat es der Gemeinderat gestern entschieden. Außerdem gab es in der Sitzung eine erfreulich lebhafte Debatte über die künftige Anschluss­unter­kunft für Flüchtlinge im Atrium an der Luisen­straße, die quer durch fast alle Frak­tio­nen als unzureichend kritisiert wurde. Das Schicksal geflüchteter Menschen wird, so wurde wieder einmal klar, auch die Kommu­nen noch sehr, sehr lange beschäftigen.

Zum August 2020 wird Karin Becker (Foto) neue Intendantin am Theater Konstanz. Sie wird in die Fußstapfen von Christoph Nix treten (oder auch nicht treten), der sich sowohl durch seine Person als auch durch sein künstlerisches Wirken schon jetzt einen festen Platz in der Konstanzer Theatergeschichte gesichert haben dürfte. Karin Becker wurde 1968 in Stuttgart geboren und begann ihre Theaterlaufbahn 1988 als Dramaturgie- und Regieassistentin an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen. Sie ist seit 2015 Künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater in Hamburg und arbeitete in den vergangenen Jahren u.a. mit den Intendanten Lars-Ole Walburg (Hannover), Joachim Lux (Hamburg) und Friedrich Schirmer (Stuttgart/Hamburg) zusammen. Böse Zungen, an denen es auch in dieser idyllischen Stadt nicht fehlt, behaupten, dass so manche/r in der Verwaltung die Tage bis zum August 2020 erwartungsvoll zählt.

Eine Notlösung für Flüchtlinge

Es ist selten, dass in Fragen der Flüchtlingsunterbringung derart einvernehmliche Kritik aus (fast) allen Fraktionen des Gemeinderates zu hören ist wie gestern. Das Atrium in der Luisenstraße ist ein Gebäude, das sich im Besitz der Spitalstiftung (also faktisch der Stadt) befindet. Es wird derzeit vom Landkreis als Erstunterbringung genutzt, soll aber ab September von der Stadt Konstanz als Anschlussunterbringung, also als (relativ) dauerhafte Unterkunft, verwendet werden. Das Gebäude ist eigentlich eher „auf Abbruch“, wie es wohl fachgerecht heißt, und daran entzündeten sich die Gemüter.

Von der Grünen Christiane Kreitmeier über Gabriele Weiner (JFK) bis hin zu Jan Welsch und Zahide Sarikas (SPD) und Joachim Filleböck (CDU) reichte die Einschätzung, dass diese Immobilie für die dauerhafte Unterbringung von Flüchtlingen nicht geeignet sei. Schon als Erstunterkunft sei der Bau nicht ideal gewesen, aber als dauerhafte Unterkunft sei er eine Zumutung. Zumindest aber müsse man das Gebäude erst einmal gründlich sanieren.

Etikettenschwindel?

Anke Schwede (LLK), die das Gebäude aus eigener Anschauung kennt, nannte die Umwidmung von einer (gemeinhin schlechteren) Erstunterkunft in eine Anschlussunterbringung einen Etikettenschwindel. Sie (wie auch andere) erinnerte daran, dass es Ziel der Stadt Konstanz war, geflohene Menschen über das gesamte Stadtgebiet zu verteilen und nicht an einem Ort zu konzentrieren und so einer Gettobildung Vorschub zu leisten.

Die Zahlen sprechen dafür, dass hier bereits erreichte Standards unterschritten werden. Derzeit leben nach Angaben von Bürgermeister Andreas Osner etwa 67 Menschen in der Anschlussunterbringung Zergle, 42 in jener in Egg und 32 in der Schottenstraße. Insgesamt sind das rund 140 Menschen, die relativ erträgliche Wohnverhältnisse genießen, denn ihnen stehen pro Kopf zehn Quadratmeter Wohnfläche oder mehr zur Verfügung, und diese Neubauten haben durchaus Wohnqualität. Wer das aber für üppig hält, sei eines Besseren belehrt: „Die Wohnfläche pro Einwohner nahm in Deutschland zwischen 2000 und 2014 von 39,5 Quadratmeter auf 46,5 Quadratmeter, also um sieben Quadratmeter, zu“ (1). Zehn Quadratmeter entsprechen etwa drei marktüblichen Doppelbetten, und zu dieser Fläche zählen auch sanitäre Anlagen, Küche usw. Privatsphäre ist da nicht zu erwarten, der Durchschnittsdeutsche erwartet für sich (zurecht) ein Mehrfaches.

Im Atrium, in dem derzeit bis zu 140 Flüchtlinge untergebracht sind, sollen nach der Umwandlung in eine Anschlussunterkunft 103 Menschen wohnen, denen statistisch pro Kopf ganze sieben Quadratmeter zur Verfügung stehen. Stellen Sie sich einfach einen Hasenstall vor, in dem Menschen in einem Stockbett übernachten – und das auf lange Zeit, während sie eine Sprache lernen sollen, eine Lehre machen, sich in einer komplett fremden Umwelt zurechtfinden müssen etc.

Insgesamt, so Thomas Stegmann, Leiter des Hochbauamtes, sei das Gebäude aber von außen schlimmer als von innen. Immerhin, und das sei ein großer Vorteil, habe jedes der Zimmer ein eigenes Klo (das haben übrigens die meisten Gefängniszellen auch), und sowohl Bewohner als auch Betreuer seien mit dem Atrium bisher relativ zufrieden.

Die Anregung von Wolfgang Müller-Fehrenbach (CDU), im Atrium doch auch 20 Studenten unterzubringen, um eine soziale Mischung zu gewährleisten, wies Bürgermeister Osner zurück: Die dortigen Wohnverhältnisse könne man StudentInnen nicht zumuten. Was durchaus einiges darüber sagt, wie es dort aussieht.

Ja, ein Etikettenschwindel

Es ist Andreas Osner hoch anzurechnen, dass er die Situation nicht zu beschönigen suchte. Er gab offen zu, dass es sich hier um einen Etikettenschwindel handele: Man mache eine Erstunterbringung zur Anschlussunterkunft, weil es einfach an anderen Unterbringungsmöglichkeiten fehlt. „Alternativlos“ dürfte wohl von Sprachforschern eines Tages als das meistbenutzte Wort der 2010er Jahre ausgemacht werden, früher mal hieß das „Sachzwang“. Ist aber ein Sachzwang gottgegeben, oder hat man sich dort hineinmanövriert?

Konstanz ist im Zugzwang. Laut Uli Burchardt ist die Rechtslage für Städte wie Konstanz, die einen Landkreis haben, so wörtlich „Käse“. Die Stadt Konstanz sei bei ihren Unterbringungspflichten gegenüber den Gemeinden des Landkreises im Rückstand. 400 Flüchtlinge, die eigentlich von der Stadt Konstanz untergebracht werden müssten, lebten in anderen Gemeinden des Landkreises, und das seien juristisch Fehlbelegungen. Das Land Baden-Württemberg sei zwar bereit, leerstehende Flüchtlingsunterkünfte zu finanzieren, aber Landesgelder für Fehlbelegungen werde es in Zukunft nicht mehr geben. Will wohl sagen: Wenn die OrtsbürgermeisterInnen im Landkreis keine Landeskohle mehr kriegen, werden sie der Stadt Konstanz diese 400 Flüchtlinge aufs Auge drücken, oder die Stadt muss für deren Unterbringung zahlen.

Zahide Sarikas erinnerte mit Recht daran, dass die Flüchtlinge nicht vom Himmel gefallen sind und die Nachfrage nach Anschlussunterbringungen seit Jahren absehbar gewesen sei. Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn hingegen beschrieb die derzeitige Situation als eine Talsohle und skizzierte anstehende Bauprojekte für Flüchtlinge wie etwa 70-80 Wohnungen im Pfeiferhölzle, die in zwei Jahren fertiggestellt sein könnten. Will sagen: Derzeit sieht es für Flüchtlinge in der geplanten Anschlussunterbringung im Atrium übel aus, aber in den nächsten Jahren soll es besser werden. „2018 ist das schlechteste Jahr,“ prognostizierte er. Das Vertrauen in die Abschottungspolitik der EU und Erdoğans Diktatur als Rückhaltebecken für Flüchtlinge scheint ungebrochen.

Der Antrag von Anke Schwede, eine Ortsbesichtigung vorzunehmen, fand breite Zustimmung. Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse die Augenscheinnahme ergibt.

Gratulation

Der Oberbürgermeister gratulierte Wolfgang Müller-Fehrenbach (CDU) zu seinem gestrigen 77. Geburtstag, den er, wie Uli Burchardt liebevoll anmerkte, „im Kreise seiner Lieben“, also im Gemeinderat, verbrachte. Eine scheint’s etwas harthörige Person aus dem Publikum fragte bei uns von der Pressebank nach, ob MüFe, wie er allgemein genannt wird, wirklich schon 77 Jahre im Gemeinderat sei. Wir Pressevertreter wussten darauf einfach keine Antwort.

O. Pugliese

(Foto: Walter Rügert, Stadt Konstanz. Bürgermeister Dr. Andreas Osner [links] und Oberbürgermeister Uli Burchardt gratulieren Karin Becker zur Wahl zur neuen Intendantin am Theater Konstanz.)

Anmerkungen:
(1) https://www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/wohnflaeche#textpart-6