Obdachlose frieren – und wir reden vom Soli?

Welche Themen kümmern Wähler wirklich? Darüber macht sich unser Gastautor Dennis Riehle so seine Gedanken. Und findet Antworten, die jeden ins Grübeln bringen sollten. Denn nicht nur die ignoranten Politiker sind das Problem …

Dreikönigstreffen, Sondierungsverhandlungen, Wahlkampfvorbereitungen – die Parteien sind dabei, sich an verschiedenen Brennpunkten mit politischen Themen dieser Tage zu befassen. Und wir hören dabei viel: Von der Abschaffung des Solis, von einer „Bildungsrevolution“, vom Anschluss an die Digitalisierung, von einer neuen Europäisierung und von nicht erreichten Klimazielen bis 2020.

Nein, ich möchte keinesfalls unterstellen, dass diese wichtigen Komplexe der politischen Auseinandersetzung keine Bedeutung hätten. Und natürlich sind sie einer Erwähnung wert, aber keinesfalls mehr als das, was die Menschen nach aktuellen Umfragen wohl viel stärker bewegt: Da geht es darum, wie wir künftig unser Gesundheitswesen finanzieren, ob gesetzlich und privat Versicherte auch weiterhin unterschiedlich behandelt werden. Da fragen sich die Bürger ganz konkret, wer denn fortan ihre Pflege übernimmt, woher die Fachkräfte für dieses Berufsbild kommen sollen, wenn wir doch unter dem demografischen Wandel stöhnen. Und da wollen die Langzeitarbeitslosen, die unter den „Hartz IV“-Sanktio­nen leiden, endlich wissen, wie sie es zurück in den Arbeitsmarkt schaffen sollen, statt ständig weiter verwaltet zu werden.

Was kümmert Wähler wirklich?

Solche Probleme sind nah am Menschen. Und offenbar befassen sie die Wähler mehr als die abstrakten Themen, die zwar wichtig erscheinen, die aber ganz akut keine Auswirkung auf das persönliche Dasein haben. Auch die „innere Sicherheit“, die lange weit vorne in den Präferenzen der Anliegen zu finden war, die die Politik zuerst angehen sollte, findet nur noch eine nachrangige Erwähnung. Denn oberflächlich gesehen scheinen wir es zu schaffen mit den Problemen in unserem Land, auch die „Flüchtlingskrise“ scheint weniger Menschen Sorge zu bereiten. Doch was ist es dann, was uns im Musterland Deutschland tatsächlich berührt? Es sind die Geschichten vor unserer Haustür, die das Leben schreiben.

Und so wird auch im „reichen Konstanz“ die ganze Dramatik unseres ach so wohlhabenden Staates sichtbar: Wir haben nicht mehr genug Wohnungen, um schwerkranken Obdachlosen eine Unterkunft zu bieten. Für die, die auf der Straße „wohnen“, reichen die Notplätze nicht mehr aus. So schlagen selbst Fachleute mittlerweile Alarm, dass der Fachverband AGJ, aber auch die Stadt die Zahl an Obdachlosen, die zu Recht einen Anspruch auf ein Dach über dem Kopf formulieren, nicht mehr aufnehmen können.

Wem gehört Konstanz?

Derzeit fragt DIE LINKE (Liste), wem Konstanz gehört. Offenbar nicht allen. Dass Wohnungsknappheit herrscht, das dürfte mittlerweile jeder mitbekommen haben. Dass die Mietpreise für Wohnraum kaum noch aus dem normalen Geldbeutel zu bezahlen sind – auch das ist keine Nachricht mehr wert. Doch was tun wir, wenn selbst diejenigen, die keine großen Ansprüche an eine Bleibe stellen, nicht einmal mehr ein paar Quadratmeter für sich haben? Wenn es selbst im Gefängnis gemütlicher scheint als auf der Straße?

Nein, ich habe keine schnellen Lösungen parat. Dafür ist das Thema auch zu tiefgehend. Mich beschämt, auf was uns Experten da aufmerksam machen. Denn im Umgang mit den Schwächsten, daran erkennt man den Charakter einer Gesellschaft. Bekommen wir es wirklich nicht hin, dass jeder in Konstanz zumindest Platz für die eigene Existenz, ein paar persönliche Dinge findet, in der Kälte des Winters, in der sich Andere Gedanken darüber machen, wo man die Steuerlast der Reichen weiter kürzen könnte, um den angeblichen Wirtschaftserfolg für unser Land auch in die kommenden Jahre zu tragen?

Eigentlich fehlen die Worte ob der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich. Und ja, irgendwie fühle auch ich mich mitverantwortlich, weil ich vielleicht selbst ab und zu auf zu großem Fuß lebe, anstatt mich mit denen zu solidarisieren, denen wirklich das Wesentliche fehlt. Angesichts der Meldungen über die Not in der Obdachlosen­unterbringung gehe ich mit anderen Augen durch die Stadt – und richte sie vor allem an die Verantwortlichen, die ich selbst noch nicht ausmachen kann: Hätte man nicht bereits vor Jahren absehen können, dass bei immer weiter steigenden Mietpreisen der Bedarf an sozialen Unterkünften steigt?

Wo ist eine Wohnung frei?

Heute ist das Thema brisant – und wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen. Dabei wäre es zumindest jetzt an der Zeit, uns selbst zu prüfen: Wo steht vielleicht eine Wohnung frei, die einem raumsuchenden Menschen angeboten werden könnte? Wo könnten neue Notunterkünfte für Obdachlose entstehen – auch wenn das nicht die adäquate Antwort auf ein Problem, sondern eher das Hinnehmen, das Zementieren eines unhaltbaren Zustandes bedeutet? Wie können wir bei unserem Bauboom an alle denken, die hier Heimat finden wollen? Ist es tatsächlich der mangelnde Platz – oder sind es nicht vielleicht manch überbordende Erwartungen einer gewissen Gesellschaftsschicht, die in ihrer persönlichen Freiheit dort Raum nimmt, wo fünf Obdachlose gleichzeitig unterkommen könnten?

Man wird sehen, wie die Kommunalpolitik in Konstanz auf Berichte reagiert, die dem Bild einer so gut gedeihenden Stadt eigentlich nicht zuträglich sind. Wird die Nachricht verfliegen wie die vielen anderen auch, die täglich auf unsere Smartphones einprasseln? Oder fühlt sich abseits des linken Spektrums sonst noch jemand getroffen von Meldungen, die Skandalwert besitzen? Wäre ich Politiker, meine Drähte würden glühen, um aus diesem untragbaren Zustand herauszukommen. Da braucht es keine Regierung, sondern da braucht es Mut, endlich für die einzustehen, die abgehängt sind. Die, die in den Sonntagsreden der Parteien nicht einmal einen Satz einnehmen …

Dennis Riehle