Ohne Bäume keine Träume
Bei Eiseskälte sitzen junge Leute Tag und Nacht in den Bäumen, um zu zeigen, wie groß ihre Sorge um den Planeten Erde ist. Die Stadt Ravensburg antwortet ihnen mit einem Spezialeinsatzkommando der Polizei. Ein Besuch vor Ort.
Nele und Samuel bibbern vor dem Ravensburger Bahnhof. Beide 17, beide lange blonde Haare, bunte Häkelmützen, dicke Jacken, Karabinerhaken am Gürtel. Sie sind von ihrem Baumhaus heruntergeklettert, um den Besuch aus Stuttgart abzuholen. Das gehöre sich so, beteuern sie, wenn jemand ihretwegen anreise, außerdem seien sie die Kälte gewöhnt. Der Herr Professor Doktor Ertel komme auch noch, der aber mit dem Fahrrad von Weingarten her und direkt zum Baum. Erster Eindruck: die tapferen Jungrebellen sind von ausgesuchter Höflichkeit.
Der Schauplatz des Rebellentums befindet sich an der Karlsstraße, über die sich normalerweise 40.000 Autos täglich quälen. Dort, wo die Eisenbahnstraße quert, thront Kaiser Wilhelm I, hinter ihm erhebt sich eine Bluteiche, in deren Geäst in zehn Metern Höhe eine Holzkonstruktion gezwängt ist, die auch als Adlerhorst durchgehen könnte, wenn sie keine Plane als Dach hätte.
Hier oben sind Nele und Samuel seit einem Monat zuhause, im Wechsel mit 20 weiteren jungen Menschen, die sich an Seilen rauf- und runterhangeln. Das Bodenpersonal besteht aus rund 200 Gleichgesinnten. Am härtesten sind die Nächte, minus sieben Grad zuletzt. Schöner ist es untertags, wenn die Leute Tee und Suppe vorbeibringen, fragen, ob sie Bettflaschen brauchen, oder einfach nur zum Weitermachen ermuntern.
Der Platz unter der Bluteiche wird zur kleinen Polis
Darunter sind alle die, die in dieser Gegend eher selten die Deutungshoheit haben. Die Linke, die Jusos, die Antifaschisten, Anarcho Made Höld („Sommer wäre besser“) von der Vereinigung „Oberschwaben ist bunt“, auch der BUND, der die Gelegenheit nutzt, gegen den 1.000-Kühe-Stall im nahegelegenen Ostrach zu demonstrieren, der zum fleischgewordenen Symbol des Turbokapitalismus in Oberschwaben werden könnte. Die glückliche Kuh, die fette Wiese, der dralle Zwiebelkirchturm, das ist Klischee. Die Zukunft greift sich der Turbobauer, der Kiesabbauer, der Rüstungsaufbauer, der Häuslesbauer, der alles zupflastert, was noch nicht zubetoniert ist. Da lohnt sich auch ein Blick in das Buch des ortskundigen Schriftstellers Peter Renz („Heimat. Ausflug in ein unbekanntes Land“), der verschwinden sieht, was einst seine Heimat war.
Also genug der Themen, die hier unter der Bluteiche verhandelt werden können, in einer kleinen Polis, die sogar wahrgenommen wird. Vom Medienmonopolisten zum Beispiel, der konservativen „Schwäbischen Zeitung“ („SchwäZ“), die schräg gegenüber im Glashaus sitzt und fast täglich reportiert. Durchaus zum Missfallen vieler LeserInnen, die sie als „Kampfblatt der sogenannten Klimaaktivisten“ verkennen, generell eine „Verfärbung“ von Schwarz in Grün registrieren, wobei ihnen insbesondere die Lokalredaktion als „grün lackiert“ ins Auge sticht. Das ist natürlich Kappes, wenngleich eine heimliche Sympathie für die Kletterer nicht zu übersehen ist.
Das Monopolblatt sieht AktivistInnen aus gutem Hause
Die jungen Leute wirkten „alles andere als chaotisch“, berichtet Reporter Dirk Grupe, sie kämen aus bürgerlichen Haushalten. Das stimmt und beruhigt. Nele Kirns Vater ist IT-Unternehmer in Bad Waldsee und sitzt dort im Gemeinderat. Als Grüner, aber das ist nicht mehr schlimm, seitdem Leute wie Manfred („Manne“) Lucha, der selbstverständlich auch zu den Sympis zählt, Minister werden können. Nele erzählt, ihre Eltern bestärkten sie darin, das zu tun, was sie „glücklich und zufrieden“ mache. Demos gegen rechts, zu Black Lives Matter, mit Fridays for Future, und jetzt eben Baumhaus. Man kann das noch erweitern um veganes Essen, Second-Hand-Klamotten, kein Plastik, nicht im Auto kutschieren lassen.
Samuel Boschs Mutter ist Sozialpädagogin, arbeitet bei der katholischen Stiftung Liebenau, und unterstützt ihren Sohn auf dem holprigen Pfad des zivilen Ungehorsams, der für die „SchwäZ“ nicht unbedingt der Königsweg, aber wissenschaftlich abgesichert ist. Nur so könnten gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden, wird das Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung zitiert. Samuel hat schon länger daran gearbeitet, im Dannenröder Forst Baumhäuser gebaut, er gibt Kletterkurse, betreut Klimacamps und ist so etwas wie der Gründer und Sprecher der basisdemokratischen Seilschaft. Man könnte auch sagen, er war einfach der Erste auf dem Ravensburger Baum.
Das war am 12. Dezember im vergangenen Jahr. Damals noch an der Grüner-Turm-Straße, über die sie ein 7 x 5 Meter breites Banner gespannt haben, auf dem nur eine Zahl und ein Wort standen – 1,5 Grad. Das Klimaziel von Paris. Danach hätten die jungen Leute gerne eine Unterredung mit dem Oberbürgermeister, Herrn Dr. Rapp von der CDU, gehabt, um ihm zu sagen, dass es ohne Bäume keine Träume gebe, dass man ihre Hütten zerstören könne, aber nicht die Kraft, die sie schuf. Doch der OB, glaubt Samuel Bosch, habe sie eines Gesprächs „nicht für würdig“ erachtet. Statt seiner kam die Polizei.
60 Polizisten rücken gegen einen 17-Jährigen an
Am 29. Dezember, kurz vor 20 Uhr, der Ausgangssperre, rückte ein Spezialeinsatzkommando mit 60 Beamten und 14 Fahrzeugen an, zusammen mit der Feuerwehr, um einen 17-Jährigen vom Baum zu holen, „sehr vorsichtig“, wie Samuel im Rückblick betont, und mit der Begründung, dass sein Plakat die Verkehrssicherheit gefährde. Die Autofahrer würden sich davon ablenken lassen. Die Hütte in den Ästen wiederum sei weder mit dem Versammlungsrecht noch mit den Corona-Verordnungen in Einklang zu bringen und deshalb aufzulösen. Der Ravensburger Schriftsteller Wolfram Frommlet nannte dies eine „ordnungspolitische Besessenheit“, die einen das Fürchten lehre vor solchen Bürokraten.
Mit vor Ort auch Wolfgang Ertel, der Professor für Künstliche Intelligenz (KI), der immer mit dem Fahrrad fährt, und sich heute noch darüber ärgert, dass er im Moment des Zugriffs nicht bei Samuel oben, sondern beim Pinkeln unten war. „Die haben nur darauf gewartet“, sagt der 61-Jährige, haben wohl abgewogen, dass ein Gymnasiast am Haken weniger problematisch ist als ein Ordinarius, der unter Seinesgleichen auch noch bekannt ist wie ein bunter Hund. Ertel ist ein scharfer Kapitalismuskritiker, geißelt Wachstum als Mantra blinder Politiker, fordert eine Gemeinwohlwirtschaft, hat das erste Passivhaus in der Region gebaut, vor 22 Jahren, steigt in kein Flugzeug mehr, ist Veganer, bei den Scientists for Future und Mitglied der städtischen Klimakommission, die er nach Kräften aufgemischt hat. Er ist also das, was sich diese Jungen von den Alten wünschen, die „an dem ganzen Schlammassel schuld sind“ (Ertel). Ein Kämpfer für ein gutes Klima.
Der KI-Professor muss auch auf den Baum
Schon in Ravensburg ist das ganz schwierig. Die Stadt schmückt sich zwar mit dem „European Energy Award“, verspricht 2040 klimaneutral zu sein, mauert aber bereits, wenn Ertel fordert, Parkplätze bei der Oberschwabenhalle gebührenpflichtig zu machen oder die Autos aus der Altstadt zu verbannen. Er hat dem Oberbürgermeister exakt vorgerechnet, wieviel CO2 er jährlich einsparen muss, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen: 13,3 Prozent. Das hat Daniel Rapp abgenickt, sein Gemeinderat ebenfalls und die Arbeit der Kommission beendet. Passiert sei nichts, bilanziert Ertel, ein grünes Label und nix dahinter.
„Verstehen Sie jetzt, warum ich auf den Baum muss?“, fragt er und seilt sich an der Bluteiche hoch. Es dauert eine ganze Weile bis er oben ist, trotz sechstem Klettergrad alpin. Unter der verschneiten Plane erwartet ihn Samuel, der die Nachrichten im Netz checkt, Instagram und Twitter bedient, die eigene Website betreut und sich auf das Homeschooling vorbereitet. WLAN auf dem Baum macht’s möglich.
So erfährt er auch, dass die Stadtverwaltung frustriert sei über das „zögerliche Handeln beim Klimaschutz im Großen“, dass der Oberbürgermeister am Donnerstagabend (14.1.) mit ihnen sprechen will, allerdings unter der Maßgabe, dass Recht und Gesetz „für alle Menschen gleich“ seien, auch was die verursachten Kosten betreffe. Das sollen angeblich 5.000 Euro für die Räumung am 12. Dezember gewesen sein, adressiert an einen Schüler. Ertel hat einen solchen Bescheid nicht erhalten, wäre aber bereit, sofort in einen Fonds einzuzahlen. Und wenn er dann in Pension gehe, könne er „jeden Tag auf jeden Baum“ klettern.
Josef-Otto Freudenreich (Fotos: Joachim E. Röttgers)
Zuerst erschienen bei Kontext:Wochenzeitung
Zur Einordnung der Vorgänge würde mich ja die Position des Bündnis 90/Die Grünen-Politikers Manfred „Manne“ Lucha interessieren, der durch den Wahlkreis Ravensburg im Landtag und Bundesrat sitzt und Sozialminister ist.