Ohren, Möhren, Apotheken und resiliente Historiker

In der Wessenbergstraße in Konstanz ist der M*-Apotheke das M abhandengekommen. Anscheinend waren es wieder einmal Leute leid, dass grundlos rassistische Symbolik und Begriffe ohne Kontextualisierung im öffentlichen Raum herumstehen. In einem Interview mit dem Südkurier rechtfertigt der Leiter der Städtischen Museen Tobias Engelsing nun diese Darstellungen. Damit reproduziert er aber Stereotypen von systemischem Rassismus – und outet sich dabei als handwerklich ungeschickter Historiker.

[* Disclaimer: Das hier soll ein einigermaßen sachlich argumentierender Text sein, der sich mit Diskursen um den M*-Begriff und Darstellungen befassen will. Man könnte also dafür argumentieren, dass man „M*“ in diesem Zusammenhang auch ausschreiben könnte. Es ist ja kein „verbotenes Wort“ und hier geht’s ja um den Diskurs. Wenn allerdings erhebliche Menschengruppen sich aufgrund der Geschichte dieses Begriffs diskriminiert fühlen und sich dafür aussprechen, dass sie diesen nicht mehr so normalisiert sehen möchten, dann ist das zu respektieren. Wir können Leuten doch nicht vorschreiben, wovon sie diskriminiert sein dürfen und wovon nicht. Das wäre ja völlig absurd.]

Wenn man einen Experten zu einem Thema befragt, muss der doch Tacheles reden und Recht haben (wie es die Überschrift im Südkurier vermuten lässt). Und mit Tobias Engelsing, seines Zeichens promovierter Historiker und Leiter der Städtischen Museen, hat man doch den optimalen Mann dafür gefunden, der ohne gefühlte Wahrheiten erklärt, wo M* herkommt und wo dieser Begriff den abwertend und rassistisch sein soll. Engelsing stellt sich auf die Seite der echten, richtigen Wahrheit, legt die Fakten auf den Tisch und diesen ganzen gefühlten Rassismus von geschichtsvergessenen verzogener Gören und Blagen ad acta. Warum er als Weißer Mann da besonders für geeignet sein soll, systemischen Rassismus gegenüber PoC nachzuvollziehen, und warum er dafür unsachliche Polemik und ein Bilderbuchbeispiel für Boomer-Whataboutism braucht, ist nicht ganz klar. Er sollte ja doch eigentlich der Experte für die Fakten sein. Er, der promovierte Doktor mit Vermittlungsauftrag in den Museen. Doch dazu gleich mehr.

Mauren, Berber und Araber – kein Who’s Who der Geschichte

Engelsing versucht im Interview, die Herkunft des Begriffs M* zu skizzieren. Denn M*-Darstellungen auf Häusern, Wappen etc. sind älter als die Kolonialzeit und gehen zum Teil bis in die Antike und ins Mittelalter zurück. Der Begriff leite sich, so Engelsing, von den Mauren her, einem nomadischen Berbervolk aus Nordafrika. Damit impliziert er, dass die Bezeichnung eines Volkes und entsprechend auch das davon abgeleitet M* nicht rassistisch sein können. Doch warum sollte das bei vorkolonialen Darstellungen nicht auch möglich sein?

Denn, wie üblich in mittelalterlichen und antiken Quellen, sind Herkunftsbezeichnungen und -zuschreibungen keineswegs eindeutig – es gibt zu der Zeit ja auch noch keine Nationen. Wenn ein antiker Geschichtsschreiber eine Menschengruppe als „mauroi“ bezeichnet, dann ist das keine präzise Angabe von Herkunft und Nationalität, sondern eine Zuschreibung. Und mit dieser Zuschreibung gehen immer auch assoziierte charakterliche Attribute einher – in diesem Falle klassische Fremdheitsnarrative der lateinisch-griechischen Literatur: Nomadentum und dergleichen. Das ist nicht ungewöhnlich in der Historiographie. (Man denke an die Germanen beim römischen Geschichtsschreiber Tacitus, die so, wie dieser sie beschreibt, auch nie existiert haben. Vor allem waren sie kein einheitlicher Stamm mit übergreifender kultureller Identität.) Bezeichnung in den Quellen als „mauroi“ und dergleichen dienen vor allem dazu, Gruppen gewisser Herkunft zu pauschalisieren und als andersartig zur Gruppe des Autors selbst darzustellen. Das Interessante dabei ist, dass wir bereits in Antike und Mittelalter Zuschreibungen finden, die wir problemlos als rassistisch kategorisieren können.

Derlei Darstellungen und Bezeichnungen haben sich in den letzten Jahrhunderten weiterentwickelt. Sie basieren aber alle grundsätzlich darauf, einen bestimmten Menschenschlag aufgrund seiner Herkunft zu identifizieren und mit pauschalen Attributen auszustatten. Diese Attribute werden intrinsisch auch im Alltagsgebrauch auf Einzelpersonen übertragen, obwohl die mit derlei Bezeichnungen gar nichts am Hut haben. Sie entstehen eben nicht aus sich heraus, sondern werden aktiv von Zeitgenossen geformt und weitergetragen.

Diese stereotypen Darstellungen sind inhaltlich unsinnig: Angebliche Nordafrikaner werden mit äußerlichen Attributen versehen, die sonst eigentlich eher für BewohnerInnen von Subsahara-Afrika und der „Südsee“ reserviert sind: pechschwarze Hautfarbe, dicke, volle, manchmal rote Lippen, fette, goldene Ohrringe. Ganz zu schweigen von den Kohorten an Bastrockträgern mit Speeren und Buschmannschilden. Dabei sind diese Attribute nicht nur antiquiert, sondern auch historisch inakkurat. Selbst wenn man zusammenfabuliert, dass das M*-Wort von den nordafrikanischen Mauren kommt, ändert das nichts daran, dass kein Maure, historisch wie zeitgenössisch, jemals so rumgerannt ist. Das sind Fieberträume irgendwelcher Almans (historische und zeitgenössische, wohlgemerkt!), die sich vorstellen, wie die exotischen Buschmänner (und -frauen) exotisch durch den Busch rennen. Und die dabei ach so spannend, aufregend und fremd sind. M*-Darstellungen und Beschreibungen sind für mitteleuropäische RezipientInnen als Objekte geschaffen worden, an denen die sich ästhetisch und (kunst-)geschichtlich aufgeilen können.

Exotische Wunderheiler und rassistischer Stereotyp

Engelsing tut aber so, als wären diese Zuschreibungen in historisches Blei gegossene Fakten. Er sagt, der M*-Begriff gehe auf eine Herkunftsbezeichnung zurück, auf die Eroberung Spaniens durch die Araber. Und diese Araber hätten den tumben Mitteleuropäern ganz tolle, neue medizinische Skills nahegebracht. Und weil das dann die allerbesten gewesen wären, würden sich heute noch Apotheken nach dem M*-Wort benennen und die entsprechenden Darstellungen und Figuren überall hinstellen.

Diese Darstellungen sind aber keine akkuraten Repräsentationen von zuweisbarer Herkunft. Sie sind stereotype Pauschalisierungen. Die historischen Mauren sind aufgrund der diffusen Quellenlage keiner konkreten historischen Region zuzuordnen. Wenn Engelsing aber Mauren, Berber und Araber in eine Linie bringt, damit dann etymologisch den M*-Begriff herleitet und diese Herleitung als Grundlage dafür nimmt, dass dieser Begriff ja auch positiv besetzt oder eine schnöde Herkunftsbezeichnung sei, dann reproduziert er damit die (system-)rassistischen Quellennarrative, die bestimmte Menschen als „anders“, „fremdartig“ oder „exotisch“ darstellen. Wir haben es hier in den Quellen mit ganz gewöhnlichen sogenannten Alteritätsnarrativen zu tun, neudeutsch: Othering. Personen werden als „anders“ bezeichnet, weil sie nicht „zu uns“, zu einer „normalen“ Gruppe gehören.

Diese Andersartigkeit wird anhand stereotyper Attribute und Charakteristika verfestigt. Das Spannende ist hier, dass diese pauschalisierenden Darstellungen nicht unbedingt negativ oder offen diskriminierend sein müssen. Das macht sie aber nicht weniger rassistisch und sozial ausgrenzend, Stichwort: benevolenter Rassismus. Und in der Tat wird der M*-Begriff im Vergleich zum N*-Wort verhältnismäßig positiv besetzt. Das bezeugen auch die von Engelsing genannten Beispiele.

Engelsing bringt in diesem Kontext kulturelle Aneignung ins Spiel. (Westliche) Apotheken, die sich mit M*-Darstellungen und -Begriffen schmücken, würden dieses Narrativ aufgreifen und als traditionelle Werbebotschaft übernehmen. Das sei aber doch positiv, ja sogar „eine Würdigung […] der fremden Kultur“. Aber die stereotype Darstellung von Menschen anhand ihrer fiktionalisierten Herkunft mit fiktiven körperlichen und geistigen Eigenschaften kann nie würdigend sein. Sie ist immer rassistisch und muss als solche bezeichnet und kontextualisiert werden.

PoC als Heilige und Heilige Könige?

Die christliche Kunst der letzten zwei Jahrtausende ist voller Darstellungen von Schwarz gelesenen Menschen mit bestimmten, kanonisierten Attributen. Engelsing erwähnt im Interview als positive M*-Darstellungen auch die Heiligen Drei Könige und den Heiligen Mauritius. Erstere haben ja bereits Karriere im Rahmen der Blackfacing-Debatte bei den SternsingerInnen gemacht. Erstaunlich ist hier immer wieder das Argument, dass ein schwarz angemalter König doch Aufgeschlossenheit und Verbundenheit mit Afrika demonstrieren solle. Der dunkelhäutige Melchior sei doch die Würdigung des Kontinents und demonstriert, dass wir alle als ChristInnen doch zusammengehören und über Gott und die Welt verbunden sind. Oder war’s Caspar? Oder nicht doch Balthasar? Das ist man sich nicht ganz einig, wer jetzt wer sein soll. Die Kirchentradition im Übrigen auch nicht. Allem Anschein nach beruht sogar die Tradition, dass einer der Heiligen Drei Könige dunkelhäutig ist, auf einem Übersetzungsfehler. Aber in jedem Falle ist doch dieser dunkelhäutige König ein Zeichen für positive Darstellung von PoC in der christlichen Kunst. Er ist ja reich, anerkannt und, nunja, ein König. Oder?

Das Problem ist, dass diese Darstellungstradition eine „Weiße“ ist. Sie erhebt einen ikonographischen Anspruch über einen ganzen Kontinent, ohne dass dieser Kontinent irgendwas mitzureden hätte. Über die Darstellung von PoC in der christlich-westlichen Kunsttradition wird in pauschalisierender Weise (alle sehen ja gleich aus) verfügt – und zwar von Weißen. „Die Leute aus Afrika“ werden auf ihre Hautfarbe und Herkunft reduziert. So ist das Main Feature vom im Interview genannten Heiligen Mauritius auch, genau, richtig geraten: seine Herkunft und seine Hautfarbe, auf die er, ähnlich wie der dunkelhäutige König, ikonographisch eingedampft wird. Die angebliche Herkunft des Mauritius steckt ihm hierbei sogar schon im Namen.

Engelsing und die Geschichtswissenschaft

All diese ikonographischen Charaktere, Attribute und die damit zusammenhängende Tradition sind nicht naturgegeben. Sie werden von uns, den Leuten vor uns und den Leuten nach uns stets neu interpretiert, neu gelesen und in neue Zusammenhänge gebracht. Es ist also die Aufgabe von HistorikerInnen, diese Darstellungen und Begrifflichkeiten ordentlich aufzuarbeiten und zu kontextualisieren. Da bleibt es nicht aus, dass man die jeweilige Lesart auch ein bisschen an den aktuellen Zeitgeist anpassen muss. Forschung entwickelt sich weiter und erschließt so neue Zusammenhänge und Methoden. Denn Geschichte ist keine absolute Wissenschaft. Sie dient nicht der absoluten Wahrheitsfindung und verfolgt nicht den Anspruch, „Recht zu haben“. Sie untersucht soziale Zusammenhänge und Zeugnisse der Vergangenheit, prüft diese von vielen verschiedenen Seiten und Blickwinkeln. Geschichte fördert keine Fakten zutage, sie bietet ihren AnwenderInnen das methodische Handwerkszeug, um ihre Quellen durch deren Kontextualisierung zum Sprechen, zum Sprudeln zu bringen.

Holt den armen Kerl von seinem Podest und stellt ihn in ein Museum! Am besten Engelsing auf den Schreibtisch!

Diese Kontextualisierung bleibt in dem – freilich verkürzten – Interview aus. Stattdessen ergeht sich Engelsing in inhaltlich nicht zusammenhängenden, fiktionalisierten Kausalketten, die mit dem eigentlichen Problem der Sache – rassistisches Othering in historischen Kontexten und deren Nachwirkungen heute – nichts zu tun haben. Stattdessen relativiert er soziologisch erforschte historische Diskriminierungsmechanismen und alltagsrassistische Erfahrungen von PoC, die er selbst als Weißer Mann nicht nachvollziehen kann. Denn selbst, wenn Engelsings etymologische Herleitungen ein Beleg dafür wären, dass wir es hier nicht mit intrinsisch rassistischen Begriffen und Traditionen zu hätten; spätestens mit der Kolonialzeit werden diese Darstellungsformen und ihre Nutzungshorizonte explizit rassistisch und diskriminierend. Das Aufgreifen der entsprechenden Begriffe und Darstellungen ist damit für immer verbrannt und kann, ja darf, nicht normalisiert werden.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet Tobias Engelsing vom Südkurier als ExpertIn präsentiert wird. Er hat keinen persönlichen Bezug zum Thema – im Gegensatz zu den ganzen PoC in diversen kulturellen Einrichtungen und der Uni vor Ort, die das Zeug studiert haben. Wir haben an der Uni hier sogar Geschichtsprofessuren, die sich explizit mit Akkulturationsmechanismen im Mittelalter und der Kolonialzeit beschäftigen. Warum hätte man nicht einfach eineN von denen fragen können?

Engelsing ist nämlich nicht nur nicht in der Lage, historische Zusammenhänge ordentlich zu kontextualisieren, und hat dazu keinen sonderlich methodisch reflektierten Umgang mit Quellen. Er hat auch kein Konzept davon, was es bedeutet, mit historischen Zeugnissen und Monumenten im öffentlichen Raum umzugehen – was als Museumsleiter durchaus etwas befremdlich wirkt. Historische Zeugnisse und Quellen stehen niemals für sich selbst. Sie wirken niemals aus sich heraus. Es braucht professionelle Anleitung und Kontextualisierung von Denkmälern im öffentlichen Raum. Es braucht reflektierten Umgang mit Sprache, dass dort Begriffe wie das M*-Wort nicht mehr ohne jeden Zusammenhang stehen können. Der M*-Begriff war niemals ohne Gschmäckle und war niemals ohne die Markierung von Menschen als anders und nicht zugehörig zur „normalen Gesellschaft“ in Gebrauch. Engelsing müsste das als promovierter Historiker wissen (Alternativ hätte er es in recht kurzer Zeit anhand der historischen Quellen prüfen können.), und Engelsing müsste als Leiter einer geschichtsvermittelnden Anstalt diesen Diskurs und diese Debatte auf einer methodisch stabilen Ebene im Austausch mit den Leuten in die Welt tragen. Müsste …

Wer aber dafür eintritt, dass solche Mahnmale rassistischer Ressentiments ohne jede Erklärung stehen bleiben sollen, sieht (Alltags-)Rassismus als etwas an, das ihn nicht betrifft. Engelsing geht hier aber noch weiter: Er diffamiert alle, die für eine gerechtere Welt eintreten und sich gegen historisch bedingten Alltagsrassismus stellen als „Wortführer von Identitätspolitik und Antirassismus“. Allein, dass jemand auf die Idee kommt, „Antirassismus“ in einem pejorativen Zusammenhang zu benutzen, ist bestürzend. Dass sich Engelsing als Experte in einem Interview aber nicht zu schade ist, AktivistInnen vorzuwerfen, dass sie mit ihrem Konsumverhalten genauso moderne Ausbeutungsverhältnisse unterstützten, hat genau gar nichts mit dem Thema zu tun und ist ein Paradebeispiel für abstoßendsten Boomer-Whataboutism. Und es ist bezeichnend, auf welcher intellektuell-argumentativen Ebene diese Debatte mittlerweile geführt wird.

Engelsing spricht von Identitätspolitik und Bilderstürmen und realisiert dabei einfach nicht, dass seine eigene Identitätspolitik und die völlige Ignoranz gegenüber Alltagsrassismus und Diskussionskultur überhaupt erst die Schärfe dieser Debatte entzündet haben. Wir reden hier nur deswegen von umgestürzten Statuen und Denkmälern, weil es den Verantwortlichen jahrelang scheißegal war, dass da Völkermörder und rassistischer Mist in den Städten rumstehen. Trotz aller Forderungen nach Kontextualisierungen gab es niemals irgendwelche Bestrebungen, damit in irgendeiner Form umzugehen. Der Scheiß steht und hängt weiter rum, weil das ist ja nur Geschichte, die muss man nicht erklären. Die muss man fühlen. Am eigenen Leib.

Jonas Haas (Text und Bilder). Der Autor des Textes hat in Konstanz Geschichte und ein bisschen was außenrum studiert und sich in seinem Studium eingehend mit Quellenmethodik und Akkulturationsprozessen, auch im Rahmen der Post-Colonial Studies, beschäftigt. In dieser Rolle schreibt er hier. Weiße Kartoffel, die er ist, hat er versucht, persönliche Wahrnehmungen von Alltagsrassismus nicht im Detail zu bewerten, weil er dafür nicht die richtige Person ist. Stattdessen hat er sich auf das verlegt, was er gelernt hat.


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