Out of the Ordinary – Ganz ungewohnte Musik
Zeitgenössische Musik hat es demnächst in Konstanz ein wenig leichter: Am kommenden Sonntag, 18.09.2022, um 19:00 Uhr startet im St. Johann die neue Konzertreihe „Out of the Ordinary“ für zeitgenössische Musik mit einem Abend „Hör – mal im Denkmal“. Bei der ersten Veranstaltung spielen Saar Berger und Christian Hommel vom Ensemble Modern, einem der weltweit führenden Ensembles für zeitgenössische Musik.
Der erste Abend der neuen Reihe verspricht viel Abwechslung, denn es steht ein umfassender Zug durch die Musik des 20. Und 21. Jahrhunderts an. Auf dem Programm stehen nicht nur Klassiker wie Cage, Ravel und Yun, sondern auch viele zumindest am Bodensee unbekannte Komponisten.
Hundert Jahre Musikgeschichte
Hier eine kurze Programmübersicht für Connaisseure:
Maurice Ravels (1875-1937) „Kaddisch“ von 1914) ist eines von 2 Liedern, die Ravel auf hebräische Melodien komponierte. „Kaddisch“ kommt aus dem Aramäischen und bedeutet heilig. Im Judentum ist es ein Lobpreis auf Gott, eine Aufzählung von Namen für das Unbenennbare. Es strukturiert den Gottesdienst und verbindet die unterschiedlichen Teile der Liturgie. Der Gottesdienstleiter rezitiert oder singt das Kaddisch mit einigen Reaktionen der Gemeinde.
Isang Yun (1917-1995) „Piri“ für Oboe solo (1971) IV. Satz. Wegen angeblicher Unterstützung Nordkoreas wurde Isang Yun 1967 vom südkoreanischen Geheimdienst aus West-Berlin entführt und in Seoul inhaftiert und gefoltert. Nur durch einen Spalt gelangte Licht in seine Gefängniszelle, ein Hoffnungszeichen, das er mit dem hellen Klang der koreanischen Oboe „Piri“ assoziierte. Dies meinen die langen hohen Töne in seinem gleichnamigen Werk von 1971, in dem er – was sein gesamtes Schaffen kennzeichnet – asiatische und europäische Musiktraditionen verbindet. Dank internationalem Druck konnte Isang Yun 1969 nach West-Berlin zurückkehren.
Valentin Garvie (*1973) „Erke“. Die Erke ist ein Trompeteninstrument ähnlich dem Alphorn, das typisch für das Andenhochland zwischen Argentinien, Bolivien und Chile ist. Dieses Stück beabsichtigt nicht, den Klang der Erke zu imitieren, sondern ein davon inspiriertes imaginäres Instrument zu schaffen. Valentin Garvie komponierte das Stück für seinen Freund Saar Berger.
Mark Andre (*1964) „iv 5“ für Oboe solo (2012) „iv“ ist eine Abkürzung, ein Akronym der I(ntro)v(ertiertheit) und ein medizinisches Apronym (für intravenös). Das Stück ist Teil einer Reihe, deren Fokus auf die Entfaltung kompositorischer Prozesse im Innersten gerichtet ist. Man erlebt komponierte, sehr zerbrechliche, fluktuierende Zustände zwischen Klang und Zeitfamilien. Die strukturellen Bewegungen selbst werden letztendlich zur Form des Stücks. Das Dazwischen, die komponierten Zwischenräume, ist Raum des Verschwindens. Das Verschwinden ist die letzte hinterlassene Spur von Jesus von Nazareth (nachzulesen in Joh 20,17 „noli me tangere“ und Lk 24,13-35). Es wurde für Christian Hommel geschrieben.
Zeynep Gedizlioğlus (*1977) „Virgül“ (2020) ist im Auftrag von Saar Berger entstanden und ihm gewidmet. „Sein Projekt ‚Horn Around the World‘, das er mitten in der Pandemie initiiert und realisiert hat, gab den Anlass, dieses Stück – mein erstes Solo für Horn – zu komponieren. Saar Berger stellte mir einen speziellen Stopmute-Dämpfer aus Metall vor, dessen Klang in ‚Virgül‘ eine besondere Rolle spielt und mit der inneren Dynamik meiner musikalischen Linien eng verbunden ist. Zwischen den Linien: Das NichtKomponierte, das ‚Virgül‘“, so beschreibt Zeynep Gedizilioğlu die Entstehung seines Werkes.
Christian Pedro Vásquez Miranda (*1969) „Mikroskopia“ für Oboe solo (2010), 1. Teil. „Viele Oboenklänge, die mir Christian Hommel zeigte, erinnerten mich an Alltagsgeräusche wie Reifen auf Asphalt, Züge, Flugzeuge, Röhren und metallische Geräusche der globalisierten Welt, sie unterscheiden sich in meiner Heimat Chile nicht so sehr von denen in Europa, wo ich lebe. Diese Klänge betrachte ich wie unter einem Mikroskop und kontrastiere sie mit konventionellen Tönen. Das löst einen Prozess aus, der in seinen tumultuösen Phasen ein mehrstimmiges Echo erzeugt. Ich hoffe, dass den Zuhörer diese Poesie erreicht“, so der Komponist über die Zusammenarbeit mit dem Musiker.
Yitzhak Yedid (*1971) „Purification prayer“ für Horn solo. Das Stück wurde von dem in Australien lebenden israelischen Komponisten Yitzhak Yedid für das heutige Konzert in der Friedberger Mikwe komponiert und basiert auf Tonleitersystemen der klassischen arabischen Musik (Makamat). Der während dem Gebet mit großem Ausdruck singende Kantor gab den Ausschlag zur Komposition. Es entsteht Mikrotonalität zwischen dem Horn und dem Echo der Mikwe. … da hört man fast mehr als einen Kantor gleichzeitig singen und beten. Saar Berger
Rolf Riehm (*1937) „Ungebräuchliches für Oboe solo“ (1964). Reinen Tisch mit der herkömmlichen Klangerzeugung bei Blasinstrumenten machte 1964 als erster Rolf Riehm in „Ungebräuchliches“: Durch ein zu groß mensuriertes Mundstück, unter Einbeziehung von Sauggeräuschen und Spielen nur auf dem Oberstück öffnete er bereits Jahre vor Helmut Lachenmanns „dal niente“ (1970) und Heinz Holligers „Studie über Mehrklänge“ (1971) einen Klangkosmos, in seiner Neuartigkeit mit Monteverdis Erfindung rasender Tremoli, H.I.F. Bibers Präparationen an Streichinstrumenten oder John Cages „Prepared Piano“ vergleichbar. Die Dauer von „Ungebräuchliches“ ist unbestimmt; sie wird wie auch der Formverlauf während der Aufführung vom Interpreten im Sinne der zeittypischen offenen Form gesteuert.
John Cage (1912 – 1992) „Ryoanji“ (1983). Anlässlich einer Performance von Yoko Ono besuchte John Cage 1962 das Ryoanji-Kloster in Kyoto. Als Cage 1983 von dem Oboisten James Ostryniec gebeten wurde, ihm ein Stück zu schreiben, lehnte er ab, um seine zeichnerische Arbeit am „Ryoanji-Zyklus“, die sein letztes Lebensjahrzehnt begleitete, nicht unterbrechen zu müssen. Schließlich realisierte er doch eine Grafik des klösterlichen Steingartens, die zugleich als Partitur mit einer Tonhöhenachse (Glissandi als Visualisierung der Steine) und einer Zeitachse (Schlagzeugimpulse als Visualisierung der Harkung im Sand) lesbar ist. Die Glissandi waren der Grund, warum das Werk zunächst nicht aufgeführt wurde und Cage für die Folgefassungen nur noch leicht glissandierende Instrumente und Stimme einsetzte.
Die Künstler
Saar Berger (Horn) studierte in Israel, in Hamburg, Berlin und Frankfurt und schloss seine Ausbildung mit dem Diplom und Konzertexamen ab. 2006 nahm er an der Karajan-Akademie teil und war Stipendiat der America-Israel Cultural Foundation. Er war Hornist zahlreicher Orchester wie dem West Eastern Divan Orchestra, dem Deutschen Symphonieorchester Berlin (DSO), der Kammerphilharmonie Bremen oder dem hr-Symphonieorchester und brachte zahlreiche Werke zur Uraufführung u.a. von Matthias Pintscher, Anthony Cheung, Benedict Mason oder Richard Ayres. Seit 2007 ist er Mitglied des Ensemble Modern. 2013 erschien seine Doppel-Porträt-CD „Travelling Pieces“ im Label Ensemble Modern Medien.
Christian Hommel (Oboe) studierte in Freiburg Oboe bei Heinz Holliger und Klavier bei James Avery. Zahlreiche Konzerte als Solist, Kammermusiker und Dirigent führen Christian Hommel durch Europa, Amerika und Asien. Er arbeitet regelmäßig mit namhaften Orchestern und Ensembles, wie der Camerata Salzburg oder dem Kölner Kammerorchester zusammen. Mit letzterem produzierte er die erste Gesamteinspielung der Oboenkonzerte von Johann Sebastian Bach, die von der internationalen Fachpresse hoch gelobt wurde. Er hat viele weitere CDs eingespielt, davon wurden einige ausgezeichnet mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Mit großem Interesse widmet sich Christian Hommel Musik der Gegenwart. Er war Mitbegründer und Dirigent des „Ensemble Aventure“ für zeitgenössische Musik und ist seit 2008 Mitglied des Ensemble Modern. Christian Hommel ist Professor an der Hochschule für Künste in Bremen und Dozent bei internationalen Meisterkursen.
Sankt Johann, 78462 Konstanz, Eingang von der Sankt-Johann-Gasse, Sonntag, 18.09.2022, 19.00 Uhr. Karten für 30€ (normal) und 25€ (ermäßigt) gibt es im Vorverkauf hier oder an der Abendkasse.
Text: MM/red, Bilder: links Christian Hommel, fotografiert von Andreas Etter; rechts Saar Berger, geliefert vom Künstler.