Porträts provinzieller Gewalttäter

Der pensionierte Geschichtslehrer Walter Hutter, der seit 2014 das Stadtarchiv Markdorf betreut, hat in seinem Buch „Stützpfeiler der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in der Provinz“ eine differenzierte Mikrostudie über die Personen geschrieben, die von 1933 bis 1945 die Naziherrschaft in der Kreisstadt Überlingen durchsetzten und als Täter oft vielfältige Spuren hinterließen. Hier der zweite Teil einer ausführlichen Besprechung dieses Buches, den ersten Teil des Textes finden Sie hier.

Eine prägende Gestalt der NSDAP in Überlingen war der Kreisleiter Gustav Robert Oexle, seine Nachfolger im Amt waren dann ganz unterschiedliche Persönlichkeiten.

Alfons Hafen, Kreisleiter von 1934 bis 1936, kam aus einer angesehenen Überlinger Familie, sein Großvater war Gastwirt, sein Vater betrieb eine Kolonialwarenhandlung. Er war ein jugendlicher Aktivist und Heißsporn, der vor der Machtübernahme seine Gegner gern provozierte, der dann als Parteiredner auftrat und das Amt des Kreisleiters so ausübte, dass die Gemeinderäte nur noch beratende Funktion hatten und alle Amtsträger von ihm ernannt wurden. Bezeichnend für seine Hartnäckigkeit ist, dass er sein Auto steuerfrei fahren wollte, weil er es nur zu Parteizwecken nutze (die inzwischen mit Staatszwecken identisch waren), er wandte sich mit diesem Anliegen an alle denkbaren Stellen bis zum Präsidenten des Landesfinanzamts, hatte aber keinen Erfolg damit. 1936 übernahm Hafen die Leitung der Tourismus-Organisation „Kraft durch Freude“ im Gau Baden und förderte in diesem Amt auch den Tourismus in seiner Vaterstadt. Im Oktober 1948 kam er in seine Vaterstadt Überlingen zurück, eröffnete wieder einen Laden in der Grabenstraße und führte diesen bis 1960. Er lebte noch bis 1979 in seiner Wohnung in der Bahnhofstraße 23, das Haus am See wurde erst in den letzten Jahrzehnten zugunsten der Erweiterung der Bodensee-Therme abgerissen.

Nur einige Monate im Jahr 1936 war Richard Burk Kreisleiter in Überlingen. Er hatte wie Oexle im Ersten Weltkrieg gedient, war Mitglied von Freikorps gewesen und amtierte von 1934 bis 1936 als Bürgermeister auf der Insel Reichenau. In seiner Amtszeit wurde Pfullendorf dem Kreisgebiet zugeschlagen. Ab Januar 1937 war Burk Kreisleiter in Lahr und war dort für die antisemitischen Aktionen in der „Reichspogromnacht“ 1938 und für menschenverachtende Durchhalteparolen und dadurch für die Zerstörung der Stadt verantwortlich. Nach dem Entnazifierungsverfahren ließ sich Burk als kleiner Handlungsreisender in Moos auf der Höri nieder.

Aufstieg eines Handlungsreisenden

Dessen Nachfolger Wilhelm Mensch aus Söflingen bei Ulm, der aus dem Ersten Weltkrieg als Unteroffizier zurückkehrte, hatte seine berufliche Laufbahn als Handlungsreisender für eine Weingroßhandlung in Langenargen begonnen. 1930 zog er mit seiner Familie nach Überlingen und stieß zu der von Oexle gegründeten Ortsgruppe der NSDAP. Im November 1931 wurde er zum Gemeindeverordneten gewählt und tat sich in diesem Amt als Provokateur und Pöbler gegen Sozialdemokraten und Zentrum, insbesondere gegen Bürgermeister Dr. Emerich, hervor. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP war Mensch Stellvertreter des neu gewählten Bürgermeisters Dr. Spreng, er war also bestens vernetzt mit den führenden Nazis in Überlingen.

Kreisleiter Mensch beim Aufmarsch auf der Hofstatt am 1. Mai 1937, Foto Stadtarchiv Überlingen.

1934 wurde er Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der NSDAP in Markdorf. Im Umgang mit dem Markdorfer Ratsschreiber und Musikdirektor Leo Bürkle, der mit einer Jüdin verheiratet war, zeigte Mensch in Markdorf eine gewisse „Menschlichkeit“, auch gegen seine Parteigenossen. Mensch wurde 1937 Kreisleiter, war für viele Neubesetzungen von Bürgermeisterstellen im Kreis verantwortlich. Einerseits scheint er menschliche Züge gehabt zu haben, andererseits war er aber auch unbeherrscht und zornig, beispielsweise gegen polnische Kriegsgefangene, die er folgendermaßen charakterisierte: „Pack ist Pack und muss als solches behandelt werden.“ Wilhelm Mensch starb an den Folgen eines Herzinfarkts auf einer Fahrt mit der Fähre nach Konstanz am 16.11.1940. Die Trauerfeier für ihn in Überlingen wurde als bombastisches Heldenbegräbnis inszeniert.

Sein Nachfolger als Kreisleiter Ernst Bäckert war „ein allseits gefürchteter Mann“. Er war zuvor seit 1933 Bürgermeister in Stetten am Kalten Markt gewesen, wo im März 1933 das erste Konzentrationslager für politische Gegner eröffnet worden war. 1934 wurde er Bürgermeister in Meßkirch, wo er innerparteiliche Gegner hatte, die sein herrisches Auftreten kritisierten und die er kurzerhand verhaften ließ. Seine Methode der Machtausübung war von da an die stete Drohung, sie als Gegner ins Konzentrationslager zu bringen. Außer der Stelle des Bürgermeisters übernahm er bald auch die Funktionen als Feuerwehrkommandant und als Kreisleiter der Partei in Stockach. Nach dem Tod von Wilhelm Mensch übernahm er 1940 dann auch noch die Stelle als Kreisleiter in Überlingen. Walter Hutter schildert eindringlich, wie Bäckert nicht nur sprachlich, sondern auch handgreiflich immer wieder gewalttätig wurde. Bäckert brachte viele Menschen, die ihm nicht genehm waren, ins KZ oder sorgte für ihre Einberufung zum Volkssturm.

Ein besonders übles Exemplar

Seine gewalttätige Machtausübung fand ein abruptes Ende, als er betrunken am 28.4.1944 einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem Margarete Lang starb. Er selbst wurde bei dem Unfall verletzt, tauchte aber nach drei Monaten wieder mit martialischen Durchhalteparolen als Kreisleiter in der Öffentlichkeit auf. Gleichzeitig begann ein Strafprozess gegen ihn. Er versuchte über den Gauleiter zu erreichen, dass er als Kreisleiter nicht belangt werden dürfe, aber Reichsinnenminister Himmler entschied, dass auch Nazi-Funktionäre nicht außerhalb des Gesetzes stünden. Im Januar 1945 schied Bäckert aus seinem Dienst aus und wurde von Gauleiter Wagner zum „Inspekteur des Volkssturms in Südbaden“ ernannt. Am 27.3.1945 wurde Bäckert wegen „fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit zweifacher gefährlicher Körperverletzung“ zu einer Gefängnisstrafe von fünf Monaten verurteilt. Bäckert entzog sich der Verantwortung, floh nach Vorarlberg, wurde dort im Mai 1945 festgenommen und interniert. Er musste noch weitere Strafen verbüßen. Als er sich danach wieder in Überlingen niederlassen wollte, ließ die Stadt Überlingen das Badische Staatskommissariat für politische Säuberung in Freiburg wissen, dass man eine Rückkehr Bäckerts in seine bisherige Wohngemeinde nicht wünsche. Er zog in den Zollernalbkreis, arbeitete noch 13 Jahre als Versandleiter einer Kartonagenfabrik, war Dirigent der Musikkapelle Laufen, erhielt die „Goldene Dirigentennadel“ und starb 1962. Ernst Bäckert war durch sein selbstherrliches, fanatisches, rücksichtsloses, brutales und einschüchterndes Wesen ein besonders übles Exemplar eines Kreisleiters.

In den letzten drei Monaten des Dritten Reiches amtierten noch einmal drei Kreisleiter in Überlingen, vom 30.1. bis 14.2.1945 Karl Hans Schmidtborn, der aus Colmar kam, für 14 Tage im Hotel Hecht in Überlingen wohnte und vom Gauleiter wieder nach Emmendingen abgezogen wurde. Walter Hutter erzählt eine Anekdote, in der deutlich zum Ausdruck kommt, dass Schmidtborn selbst nicht mehr an den Endsieg glaubte.

Partei und Kreisleiter verdrücken sich

Im März 1945 war für etwa vier Wochen Arnold Haller aus Konstanz Kreisleiter in Überlingen, zuvor war er Kreisleiter in Villingen gewesen und dort durch Trinkgelage und einen „unsauberen Lebenswandel“ aufgefallen. Auch er wohnte in Überlingen im Hotel Hecht und wurde zum Volkssturm eingezogen. Er kam durch einen Truppenteil der Fremdenlegion in französische Kriegsgefangenschaft. Nach der Entlassung 1946 als „voll arbeitsunfähig“ eingestuft, gelang es Haller mit falschen Papieren, sich mit neuem Namen in Westfalen als Maurer eine neue Existenz aufzubauen.

Letzter Kreisleiter in Überlingen war vom 18. bis 25. April 1945 der vorherige Kreisleiter von Wertheim Dr. Hermann Schmidt. Der Sohn eines (Schieß-)Pulverfabrikanten war bereits 15 Jahre lang Kreisleiter der NSDAP in Wertheim gewesen. Dort war er vor allem als Gegner eines mutigen Stadtpfarrers und als eifriger Antisemit hervorgetreten. Vor dem raschen Vormarsch der amerikanischen Truppen am Main aufwärts flüchtete Dr. Schmidt nach Südbaden und tauchte um den 11. April 1945 in Überlingen auf, Gauleiter Robert Wagner ernannte ihn am 18. April zum Kreisleiter. Schmidt war offenbar informiert darüber, dass Bürgermeister Dr. Albert Spreng, der den Volkssturm leitete, auf eine Verteidigung der Stadt verzichten wollte, und schloss diesen noch am 18. April 1945 aus der NSDAP aus. Als die französischen Truppen am späten Nachmittag des 25. April vor der Stadt auftauchten, waren die Vertreter der Partei und der Kreisleiter spurlos verschwunden.

Allemal lesenswert

Das Buch von Walter Hutter enthält reichhaltige, quellengestützte und detailreiche biographische Porträts der „Stützpfeiler der Gewaltherrschaft in der Provinz“ am Beispiel der acht Überlinger Kreisleiter. Gerade die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Personen vermittelt einen guten exemplarischen Eindruck in das Funktionieren des nationalsozialistischen Systems. Dieses zog enttäuschte, verarmte und idealistische Personen an, bot bürgerlichen Männern Karrierechancen, ermöglichte es aber auch brutalen Sadisten und prinzipienlosen Gewalttätern, ihre Charakterzüge auszuleben. Dass die Herrschaftsausübung im Dritten Reich nicht nur systematische, sondern auch chaotische Züge hat, wird vielfältig deutlich.

Walter Hutter nimmt nicht nur die Aktivitäten der Kreisleiter in der Zeit ihrer Amtsausübung in den Blick, sondern immer auch ihre Herkunft und Biographie, aber auch die Nachkriegsgeschichte. Das Buch ist durch die Fülle der Bezüge, die sich bei der Lektüre herstellen, auch eine Vorstudie für die noch ausstehende umfassende Geschichte Überlingens im Dritten Reich. Ein wichtiges Buch, gerade auch in unserer Zeit, in der das Relativieren immer stärker an die Stelle des genauen und differenzierten Hinsehens und Abwägens tritt.

Oswald Burger

Anfangsbild: Kreisleiter Alfons Hafen als Redner am 1. 5. 1935 in Überlingen, Foto Lauterwasser, Überlingen.


Walter Hutter: Stützpfeiler der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in der Provinz. Die acht NS-Kreisleiter von Überlingen 1930–1945. UVK Verlag Konstanz 2020, 343 Seiten, 29 €.