Putins Krieg und unsere Hilflosigkeit
Die bisherige Strategie des Westens im Krieg Russlands gegen die Ukraine wirkt nicht. Russland zu sanktionieren und zu isolieren, hat nicht den erhofften Erfolg gebracht, schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich Bausch, der deshalb für einen Strategiewechsel plädiert. Hier sein Debattenbeitrag, der zuerst auf Kontext erschienen ist.
Am 24. Februar startete Putin seinen Überfall auf die Ukraine. Der Westen reagierte mit einer Reihe von Sanktionspaketen, steigerte seine Waffenlieferungen an die Ukraine und versuchte, Russland international zu isolieren. Die Bilanz ist frustrierend. Der Rubel stürzt nicht ab, die russische Wirtschaft bricht nicht zusammen, die hohen Ölpreise bescheren Putin gigantische Einnahmen und von internationaler Isolation kann keine Rede sein. Insbesondere China und Indien unterlaufen die Sanktionen des Westens, liefern Hightech und kaufen Öl. Putin verfügt über enorme militärische Ressourcen, und je länger sich dieser Krieg hinzieht, Menschen in der Ukraine sterben und Städte und Häuser zerstört werden, umso stärker müssen wir uns fragen, ob die bisherige Vorgehensweise überhaupt zielführend sein kann.
Mittlerweile zeichnet sich zudem eine noch größere Gefahr ab: eine autoritäre Allianz aus Russland, China und dem Iran. Das wäre ein neuer mächtiger Block, dem wir wenig entgegen zu setzen hätten, wie die Debatte über die von Peking angekündigte Annexion Taiwans zeigt.
Schon die Grundannahmen sind falsch
Ganz offensichtlich kann also der Krieg Russlands gegen die Ukraine weder militärisch noch durch wirtschaftlichen Druck gewonnen werden. Ursächlich hierfür sind auch eine Reihe von strategischen Grundaussagen, die näher betrachtet nicht wirklich belastbar sind.
1. Aussage: Wer von der nuklearen Bedrohung spricht, ist Putins Propaganda auf den Leim gegangen – wir dürfen uns da nicht verrückt machen lassen.
Diesen Ansatz halte ich für gefährlich. Tatsächlich ist die atomare Bedrohung nicht nur real, sie steht im Zentrum des Konfliktes überhaupt. Putin wusste von Anfang an, dass die Nato nicht intervenieren würde. Bereits Anfang Februar hatten Jo Biden und Nato-Chef Jens Stoltenberg erklärt, die Nato dürfe auf keinen Fall Kriegspartei werden, denn dann wäre ein dritter Weltkrieg und eine atomare Kettenreaktion unvermeidlich. Die Analysen der westlichen Geheimdienste sind sich diesbezüglich einig, und die Prognosen der CIA waren in den vergangenen Monaten ziemlich präzise.
Ulrich Bausch, 62, ist Politikwissenschaftler, arbeitete mit Drogenabhängigen in Los Angeles, arbeitete als Fernsehjournalist für den SDR, war einer der Mitgründer der Reportageschule Reutlingen, beriet das US-Militär. Seit 1998 leitet er die Volkshochschule Reutlingen. Bausch ist SPD-Mitglied und trat bei der Bundestagswahl 2021 als Direktkandidat für die SPD an.
Auch amerikanische Politikwissenschaftler wie der Harvard-Professor Graham Allison gehen überwiegend davon aus, dass Putin, vor die Wahl zwischen Niederlage oder atomare Eskalation gestellt, mit Sicherheit Letzteres wählen würde. Putin hat keine Skrupel und diejenigen, die er um sich geschart hat, scheinen noch weniger zu haben. Wir sind atomar erpressbar und müssen daraus vernünftige Konsequenzen ziehen. Wer daran zweifelt, der lehne sich einfach zurück und frage sich, warum die Nato nicht eingreift. Die Nato könnte Putins Aggression stoppen. Aber das Risiko ist zu groß – und wer es darauf ankommen lassen will, spielt mit unser aller Existenz.
2. Aussage: Wenn wir Waffen liefern, helfen wir der Ukraine und sorgen so dafür, dass Putin den Krieg verliert.
Schön, wenn das stimmen würde – aber es scheint nicht zu funktionieren. Putin wird wegen ein paar alten Leopard-Panzern keinen Schreck bekommen, sich entschuldigen und wieder abziehen. Diese Vorstellung ist völlig absurd. Tatsächlich führen diese Waffenlieferungen zu einer Verlängerung des Krieges, zu noch mehr Zerstörung, Elend und Toten. Putins Kriegsführung folgt einem brutalen, aber bekannten Muster. Dort wo „Widerstandsnester“ ausgemacht werden, zieht man die Infanterie zurück, holt die Artillerie und macht Stadtteile oder ganze Dörfer dem Erdboden gleich. So geschehen in Aleppo, Grosny und ganz Tschetschenien, aber auch in Kambodscha, Vietnam und im Irak.
[the_ad id=“87862″]Wir haben eine Diskussion über die Lieferung von Leopard-Panzern, Marder, Gepard usw. Interessanterweise diskutieren wir nicht die Frage, welche Waffen wir nicht liefern. Die Bundeswehr verfügt über hochmoderne Distanzwaffen, die aus großer Entfernung Panzer oder mobile Raketenwerfer zerstören können. Auch wäre es möglich, die Schiffe, die vom Meer aus die Süd-Ukraine beschießen, zu versenken. Zu nennen wäre der berühmte Marschflugkörper Taurus 350, mit einer Reichweite von über 500 Kilometern und punktgenauer Treffsicherheit. Oder die Sidewinder-Rakete. Eine „fire and forget“ Waffe, die sich nach Abschuss ihr Ziel selbst sucht. Jeder russische Kampfjet könnte damit vom Himmel geholt werden. Moderne Waffen liefern wir – noch – nicht. Stattdessen liefern wir alte Panzer, die Putin nicht weh tun, aber das Feuer auf sich ziehen und für Zerstörung sorgen. Diese zunehmende Zerstörung der Ost-Ukraine wird den Druck auf den Westen erhöhen, dann doch immer bessere Waffen zu liefern. Russland wird entsprechend eskalieren. Noch mehr Zerstörung – noch mehr Waffen und so weiter.
3. Aussage: Putin hat die Ukraine überfallen, weil wir militärisch schwach waren beziehungsweise sind.
Damit wird vor allem die aktuelle Aufrüstung begründet. Aber: Seit 2013 ist der Wehretat der Bundeswehr um 35 Prozent gestiegen. Bereits 2020 gaben wir für die Bundeswehr sechs Milliarden Euro mehr aus als die Franzosen für ihre Armee, die über Flugzeugträger und atomar bestückte U-Boote verfügt. Seit zehn Jahren rüstet die Nato auf. Nicht nur konventionell, auch atomar. Die Nato-Ausgaben liegen beim 20-fachen des russischen Militäretats. Das größte Nato-Manöver nach dem Mauerfall fand im vorigen Jahr im Baltikum statt und war laut Nato ein großer Erfolg. Ebenso das Manöver Steadfast Noon, in dem unsere Tornados atomar bestückt wurden. Auch dieses Manöver soll ein großer Erfolg gewesen sein.
Putin setzte auf Gleichgültigkeit des Westens
Rüstungskontrollverträge gibt es nicht mehr, der Wichtigste, der Vertrag über Mittelstreckenraketen, wurde von Trump 2019 gekündigt. Vertragskündigungen, Abbruch von Gesprächsformaten gepaart mit massiver Aufrüstung und Abschreckungsmanövern: Das alles hat nicht abgeschreckt. Warum? Nicht weil der Westen zu schwach ist. Putin ist einmarschiert, weil er auf unsere Gleichgültigkeit setzen konnte. Sein Wüten in Aleppo war uns egal. Er hat die Stadt Grosny dem Erdboden gleichgemacht und in Tschetschenien neun Jahre einen brutalen Krieg geführt. Das hat uns hier nicht wirklich interessiert. Diese Gleichgültigkeit hat er als Einladung verstanden. Jetzt rüsten alle auf: Indien, China, Russland, die Nato. Das wird kein Mehr an Sicherheit bringen. Im Gegenteil.
4. Aussage: Putin ist international isoliert. Die Weltgemeinschaft steht geschlossen gegen ihn.
Auch das ist leider falsch. China taktiert, ist an günstigen Energielieferungen interessiert und bedroht immer offener Taiwan. Auch hier stehen wir vor dem atomaren Dilemma. Wie Russland verfügt nun auch China über atomare Hyperschallraketen, die durch Raketenabwehrsysteme nicht zu stoppen sind.
Indien entwickelt sich zu einer autoritär-hindu-nationalistischen Diktatur, erlebt einen Wirtschaftsboom und hat mit Russland Öllieferverträge geschlossen, die rund zwei Drittel des gesamten indischen Ölbedarfs decken werden. Besonders absurd: Indien verkauft nun zu hohen Preisen russisches Öl an die EU. Der brasilianische, rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro erklärte kürzlich, sein Land stehe an der Seite Russlands, der argentinische Präsident Peronist Federico Fernandez wendete sich in Moskau gegen die Dominanz der USA, die arabische Welt weigert sich, Putin zu verurteilen. Auch in der Nato sehen wir mit den Herren Erdogan und Orban mehr Putin-Nähe als uns lieb sein kann.
Doppelmoral macht unglaubwürdig
Der ägyptische Soziologe Amro Ali ist kürzlich der Frage nachgegangen, wie es zu erklären ist, dass in vielen Ländern des globalen Südens Putin Zustimmung erfährt. Der Westen, so Amro Ali, habe sein soziales Kapital längst verspielt, ihm wird Doppelmoral unterstellt: Der Irakkrieg wird dort anders gewertet als Putins Überfall auf die Ukraine. Menschen, die in Aleppo von Putin bombardiert werden, sind im Westen weniger willkommen als diejenigen, die in der Ukraine von ihm bombardiert werden.
Diejenigen unter uns, die in die Ukraine gefahren sind, um Menschen auf der Flucht vor Putin zu uns zu bringen, werden bewundert und gefeiert. Wer sich ähnlich für Menschen aus Syrien engagiert, ist ein krimineller Schlepper. Nachdem Joe Biden wenig diplomatisch erklärte, Putin sei ein Mörder, erinnerte die arabische Presse daran, dass Biden ein starker Unterstützer des Irakkrieges gewesen sei. Biden fordert zu Recht, die Aufklärung von Kriegsverbrechen, gleichzeitig macht er Julian Assange das Leben zur Hölle, weil dieser amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat.
Ein Verbrechen wird durch andere Verbrechen nicht harmlos. Aber die Attitüde des Westens, „Wir sind die Guten“, trägt dazu bei, dass Putin nicht nur in Russland, sondern in vielen Teilen der Welt Zustimmung erfährt.
5. Aussage: Putin ist ein Lügner und Verbrecher, man kann und darf mit ihm nicht verhandeln.
Das ist zwar eine verständliche Position, aber leider auch eine unsinnige. Mit wem soll denn sonst verhandelt werden? Angenommen, Putin würde morgen seinen Rücktritt erklären – wer kommt dann? Für die Annahme, Personen wie sein Verteidigungsminister Sergei Schoigu wären zugänglicher und humaner, gibt es keinerlei Anzeichen. Im Februar 1945 mussten Churchill und Roosevelt mit dem Massenmörder Stalin verhandeln – übrigens auf der Krim. Willi Brandt ging mit Breschnew auf der Krim schwimmen, der hatte drei Jahre zuvor mit Panzern den Prager Frühling niedergewalzt. Und heute? Wenn wir mit all jenen Regierungen, die gelogen und Verbrechen zu verantworten haben, nicht mehr reden, dann hätte das Auswärtige Amt nicht mehr viel zu tun. Auch die USA haben die Welt belogen und der „Krieg gegen den Terror“ hat vermutlich zu über einer Million Ziviltoten geführt.
Wir reden darüber, dass man mit Verbrechern und Kriegstreibern keine Geschäfte machen darf und halten uns selbst nicht daran. Die Saudische Diktatur mit ihren Massenhinrichtungen, musste sich schon mehrfach Flächenbombardements im Jemen vorwerfen lassen. Dieser Krieg hat dort etwa 400.000 Ziviltote gefordert. Wir kaufen saudisches Öl und haben allein zwischen 2015 und 2017 Waffen im Wert von über einer Milliarde dorthin geliefert. Wertegeleitete Politik: Fehlanzeige.
Es gibt Ansätze für Verhandlungen
Zwar scheint aktuell niemand an einer Verhandlungslösung interessiert zu sein, aber: Es wäre nicht das erste Mal, dass mit einem verbrecherischen Staatsoberhaupt verhandelt wird. Ansätze, wie der Krieg gegen die Ukraine beendet werden kann, gibt es. Realistisch muss davon ausgegangen werden, dass Putin niemals seine Schwarzmeerflotte aufgeben wird, also auch nicht die Krim. Er braucht eine Landzunge zur Krim, also einen Teil der Ostprovinzen. Wie das gehen könnte, steht in dem Minsk-II-Abkommen: Teilautonomie und Wahlen unter der Aufsicht der OSZE. Schließlich müsste es einen neutralen Schutzstatus für die Ukraine geben. Neutral im Sinne von: Die Nato stellt dort keine Offensivwaffen auf, damit Putin keine Raketen vor der Nase hat. Schutzstatus: Sollte Putin später eine unabhängige Ukraine angreifen, tritt sofort der Bündnisfall ein.
So frustrierend es auch sein mag, der Ukraine-Konflikt kann militärisch nicht gelöst werden. Es braucht eine Verhandlungslösung.
Text: Ulrich Bausch. Sein Beitrag erschien am 31.8. 2022 auf: www.kontextwochenzeitung.de
Bild: H. Reile
Es ist erstaunlich, wem Friedenspreise zugesprochen werden:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=89603
Ein interessantes Interview, mitnichten mit einem Putintroll:
https://m.focus.de/finanzen/news/wolfgang-grupp-trigema-gaskosten-haben-sich-in-zwei-jahren-verzehnfacht_id_143408000.html
Möglicherweise stimmt schon These 2. nicht. Dann sind natürlich auch die Schlussfolgerungen nicht zutreffend.
Es entscheidet die Ukraine ganz allein ob und wann sie in Verhandlungen mit dem russischen Aggressor eintritt.
Und aktuell sollte das gewonnene militärische Momentum maximal ausgenutzt werden, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern, bevor überhaupt an Verhandlungen gedacht wird.
Die Konferenz von München 1938 hat gezeigt was passiert, wenn man mit Faschisten verhandelt, solange diese in der Position der Stärke sind.
Respekt! Solch einen Text würde man sich als Debattenbeitrag in einem großen Medium wünschen, dann kämen wir dem Frieden vielleicht endlich etwas näher. Das Problem wäre aber wahrscheinlich ziemlich schnell der Applaus der falschen Seite, womit die Debatte wieder mal enden würde bevor sie beginnt. Unsere westlichen Gesellschaften befindet sich zunehmend in einer selbstverschuldeten kommunikativen Sackgasse.