Quo vadis Uni Konstanz?
Weil die Amtsvorgängerin nach Freiburg wechselte, wählten Anfang Dezember Senat und Universitätsrat Katharina Holzinger zur neuen Rektorin der Konstanzer Hochschule. Kaum im Amt, gab die gelernte Professorin für Internationale Politik in einem Interview mit dem Südkurier irritierende Aussagen über die Uni-Geschichte zu Protokoll. Gastautor Thomas Willauer, selbst Absolvent der hiesigen Akademikerschmiede, findet es erstaunlich, dass ihre provokanten Aussagen ohne Resonanz geblieben sind. Für die Zukunft der Universität lasse das nichts Gutes erahnen.
Verrottete Universität?
Der Südkurier schreibt: „Studieren wie in den 70er und 80er Jahren hat nach ihrer Auffassung wegen der stärkeren individuellen Note ihren Charme gehabt, im Kern – so zitiert sie den Titel einer Analyse (die Quelle wird von der Zeitung nicht benannt) – seien die Universitäten damals aber verrottet gewesen. Heute sei dagegen spürbar mehr Zug im System (…)“
Als Zeitzeuge, der in den siebziger Jahren bis 1980 an der Universität Konstanz Politik und Germanistik studiert hat, frage ich mich, was Katharina Holzinger meint, wenn sie von einer „verrotteten Universität“ spricht. Damals studierten ca. 2.000 Studierende unter exzellenten (hier passt der Begriff) Studienbedingungen, die mehr bedeuteten, als qualifizierte Inhalte durch qualifizierte und weit über Konstanz hinaus bekannte ProfessorInnen und Lehrende des akademischen Mittelbaus. Eine ausgeprägte Mitbestimmung in den Hochschulgremien, eine kämpferische, bunte und phantasievolle studentische Debatten- und Aktionskultur von Linken bis Konservativen, Kooperationsverträge mit dem DGB gehörten dazu.
Als Beispiele seien die Proteste gegen die Ehrenbürgerschaft von Kurt Georg Kiesinger genannt, der als NSDAP-Mitglied Josef Goebbels im damaligen Propagandaministerium zuarbeitete. Oder die Solidaritätsbewegung mit den vor den Schergen des Massenmörders Pinochet geflüchteten chilenischen Demokraten (ein Wandbild aus jenen Tagen müsste noch vor einem Hörsaal hängen) ebenso wie die Konstanzer Erklärung gegen die Berufsverbote. Gemeinsame Demonstrationen von Studierenden und DGB für einen freien Seeuferzugang sind ebenso erwähnenswert wie Lektürekurse, die sich mit dem Kapital von Karl Marx befassten, statt in Kapitalismushörigkeit zu erstarren. Kurzum: Die Uni war geprägt von Debatten über Gesellschaft, Frauenpolitik, soziale und Bildungsgerechtigkeit.
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Dies sind nur einige Punkte der „individuellen Note eines Studiums mit Charme“, das damals möglich war, Persönlichkeiten prägte und in vielem gesellschaftspolitisch nachhaltig wirksam blieb. Die offizielle Geschichtsschreibung macht um genau diese Themen einen großen Bogen. Nach den in Konstanz ziemlich braven 68ern findet die nachfolgende Studierendenbewegung keine Erwähnung mehr (siehe auch den Film zum 50. Jahrestag der Universität Konstanz).
Klatsche für die Vorgänger Naschold und Sund
Die Behauptung, die Universität der 70er und 80er Jahre sei verrottet gewesen, stellt auch eine ungeheuerliche, unziemliche, völlig übergriffige Klatsche für ihre Vorgänger dar. Frieder Naschold, Rektor von 1974 bis 1976, hatte nach der bleiernen Zeit der Regentschaft des von Filbinger (auch ein Ex-Nazi) eingesetzten Staatskommissars Theopont Dietz (der Stier vom Hohentwiel) erfolgreich versucht, zumindest Geist und Stimmung der Gründer wieder zurückzuholen, um eine demokratische Alltagspraxis zwischen Lehrenden und Studierenden und den dafür notwendigen politischen Freiraum neu zu gewährleisten. Nach seiner Wahl bekam Naschold übrigens seine Ernennungsurkunde nicht persönlich überreicht, sondern mit der Post zugeschickt. Für die CDU geführte Landesregierung war Naschold eine „persona non grata“ in der baden-württembergischen Hochschullandschaft.
Nascholds Nachfolger, Horst Sund, Rektor von 1976 bis 1991, kommt das große Verdienst zu, dass er das liberale Klima an der Universität Konstanz gegen die Roll-back-Befürworter innerhalb und außerhalb der Universität verteidigte und gleichzeitig den Übergang von „Klein-Havard am Bodensee“ zur mittelgroßen Massenuniversität erfolgreich hinbekam. Er schuf die Grundlagen auf der sich seine Exzellenzuniversitätsnachfolger feiern ließen. Auch Horst Sund gehörte zu den Unterzeichnern der Erklärung Konstanzer Professoren zur Praxis des Radikalenerlasses. Die Erklärung erinnert daran, dass „das Grundgesetz es gemäß Artikel 15 freistellt, Grund und Boden, Naturschätzte und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in anderer Form der Gemeinwirtschaft zu überführen.“ Im Gegensatz zum heute als alternativlos verkündeten Neoliberalismus, vertraten die Professoren (Frauen waren tatsächlich nicht unter den Unterzeichnern) die Auffassung, dass es gerade in der grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit möglich und notwendig ist, in alternativen Gesellschaftsmodellen zu denken und sich dafür auch zu engagieren.
Gegen Ende der Erklärung heißt es: „Es sollte eine bittere historische Erfahrung gerade in Deutschland gelehrt haben, dass die Bedrohung einer verfassungsmäßig demokratischen Grundordnung auch von staatlichen Bürokratien ausgehen kann“. Die Landesregierung wurde nachdrücklich aufgefordert ihre Einstellungspraxis zu revidieren. Während die Erklärung im In- und Ausland großen Widerhall fand und die Bewegung gegen die Berufsverbote unterstütze, hat der Ex-Marinerichter Filbinger an der Praxis der Berufsverbote stur festgehalten (hatte er doch als Marinerichter noch nach Kriegsende einen „Fahnenflüchtigen“ hinrichten lassen). Und sein Nach-Nach-Nach-Nachfolger Kretschmann, der Ex-Maoist, verweigert bis heute den „großen Sprung“, die überfällige Rehabilitierung, Entschädigung und Freigabe der Verfassungsschutzakten der damals Betroffenen (wovon auch seemoz-Autor Jochen Kelter ein Lied singen kann).
Wer die Freiheit nicht kennt …
Könnte man die Bewertung der Universität als verrottet durch Frau Holzinger noch als Ablenkungsmanöver gegenüber aktuellen Missständen deuten, so kann das, was sie über heute fehlende Freiheiten bei Studierenden für ein selbstbestimmtes Studium sagt, nur mit dem Begriff „Null-Toleranz“ bewertet werden.
Der sogenannte Bolognaprozess – die Abschaffung eines Studiums mit individueller Note und dem damit verbundenen Charme – hat das heutige Studium in erster Linie Kapitalverwertungsinteressen untergeordnet. Gleichzeitig wurden die Sozial- und Geisteswissenschaften immer mehr an den Rand gedrängt, beziehungsweise (mit wenigen Ausnahmen) zu Propagandaeinrichtungen des Neoliberalismus umfunktioniert.
Zugegeben, Naturwissenschaftler scheinen in der Lage zu sein, einen Impfstoff gegen Corona zu entwickeln, aber die gesellschaftliche Zukunft nach Corona verlangt mehr. Dazu braucht es die Freiheit des Denkens in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Verbund mit den Naturwissenschaften (das war die Grundidee der Universitätsgründung). Die Zukunft machen wir selbst, die Zukunft kommt nicht wie ein Zug aus dem Tunnel geschossen (der Zukunftsforscher Matthias Horx). Doch Katharina Holzinger verneint die notwendige Freiheit des kreativen Geistes für die Bewältigung der Zukunft. Sie glaubt nicht, dass den Studierenden „die einstige Freiheit wirklich fehlt – schlicht deshalb, weil sie sie nicht kennen. Die Studenten würden sich an den festen Strukturen, die Verschulung des universitären Lehrbetriebs samt ihrer Effizienz orientieren“ – so jedenfalls gibt der Südkurier das Verständnis der neuen Rektorin wieder. Wer Freiheit nicht kennt, dem fehlt sie auch nicht.
Eine solche Auffassung ist wirklich skandalös. Für eine deutsche Universität, zumal für die Universität Konstanz mit ihren demokratischen Traditionen, ist sie untragbar. Als Politologin sollte Frau Holzinger wissen: Wer seine Vergangenheit nicht kennt oder gar verfälscht, wer die Freiheit des Geistes missachtet, dem gehört die Zukunft nicht, auch wenn sich der Gießberg in Schweigen hüllt. Quo Vadis – Universität Konstanz?
Thomas Willauer (Bild: privat; es zeigt den Autor stehend während einer Aktion gegen Berufsverbote. Rechts, sitzend neben ihm, der leider schon 2015 verstorbene Aktivist Uwe Lindner, der in den siebziger Jahren auch AStA-Vorsitzender der Uni Konstanz war).
Mehr Informationen
https://radikalenerlassbawuede.com/2019/05/04/gefahr-der-aushohlung-demokratischer-grundrechte-konstanzer-professoren-fordern-die-abschaffung-des-radikalenerlasses/
https://radikalenerlassbawuede.com/das-forschungsprojekt/
http://www.berufsverbote.de/tl_files/docs/Uni_Info_Konstanz1975.pdf
Dr. Ulrich Kypke, Dipl Verw.-Wiss.
Ich habe ab dem Wintersemester 1970/71 bis 1974 Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz studiert
1972 wurde ich Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA), danach Mitglied im Kleinen und Großen Senat, studentisches Vorstandsmitglied im Studentenwerk und in anderen Gremien.
Die inhaltlichen Anforderungen im Rahmen meines Studiums waren anspruchsvoll und fordernd. Bemerkenswert waren die schon damals in meiner Fakultät der Verwaltungswissenschaften intensiven Praxiseinsätzen im In- und Ausland. So hatte ich Gelegenheit zu einem Praxisaufenthalt für kommunale Raumplanung in die Ferne nach Israel zu gehen oder – für 9 Monate – in die Nähe, in das Bauplanungsamt der Stadt Singen/Hohentwiel entsandt zu werden. Als „gelernter“ ehemaliger Beamter des gehobenen Dienstes wurden meine Verwaltungs-Fachkenntnisse in Vertretungsfunktionen in den Sommermonaten der Universität gerne eingesetzt. Wissenschaftliches Lernen und Arbeiten und gelebte Praxiserfahrungen waren damals gewissermaßen ein Erfolgsgarant für innovative berufliche Chancen, was sich statistisch ablesen k Karrierewegen der lässt an den Karrierewegen der Absolventen unserer Universität in den 70er Jahren. Das wichtigste Erfolgsmoment der damaligen Studierendengeneration war die Möglichkeit, fachliche Qualifikationen mit politischen Gegebenheiten und Veränderungsnotwendigkeiten zusammenzubringen. Ich habe noch zu Zeiten u.a. der Professoren Ralf Dahrendorf, Waldemar Besson, Fritz W. Scharpf studiert. Diese wissenschaftlich und gesellschaftlich herausragenden Persönlichkeiten haben den analytischen und praktischen Zusammenhang von theoretischem Wissen und der begleitenden praktisch-politischen Analyse vermittelt.
Der Querschlag der Politik , in dem Falle der Baden-Württembergischen Landespolitik kam durch einen direkten Erlass der damals immer noch aus ihren aktiven NAZI-Zeiten mitgenommenen Ministerpräsident und Innenminister. Ich hatte 1975 die „Ehre“ durch einen solchen Erlass meine studentische Teilzeitanstellung für ein wissenschaftliches Projekt des damaligen Rektors der Universität, Prof. Frieder Naschold als 1. Berufsverbotsfall der Universität aus politischen Gründen beenden zu müssen. Gegen diesen ungeheuerlichen Willkürakt aus Stuttgart protestierten mit einer sorgsam ausgearbeiteten Stellungnahme 34 der damals ca. 40 Professoren der Universität. Den präzise recherchierten und abgewogen bewerteten Ausführungen des Herrn Willauer zu diesen Vorgängen kann ich mich nur vollumfänglich anschließen.
Ich denke, mit aller Zurückhaltung kann ich mir als an den Entwicklungen meiner Universität in den 70er Jahren intensiv Beteiligter ein gewisses Sachurteil erlauben. Aus dieser Erfahrung muss ich die unsachliche, unqualifizierte, ja beleidigende Bewertung der Frau Prof. Holzinger mit dem Terminus „verrottet“ als pauschales Verdikt über die damalige Universität Konstanz zurückweisen. Diese Dame scheint von historisch-wissenschaftlicher Analyse entweder wenig zu verstehen oder sie ist aus außerwissenschaftlichen Gründen nicht zu abgewogenem Urteil in der Lage. Das ist ein trauriges Zeichen für „meine“ bisher überaus geschätzte universitäre Heimat. Ich erwarte von Frau Prof. Holzinger eine Rücknahme dieses von jeglichem Sachwissen befreiten Verdikts. Bis die Rücknahme ihrer im übrigen ungehörigen Falschbehauptung bei mir eingegangen ist, werde ich meine Mitgliedschaft in der Fördergemeinschaft der Ehemaligen der Universität Konstanz mit sofortiger Wirkung ruhen lassen. Nachstehend meine Kontaktdaten als Adresse für die gern erwartete Rücknahme ihrer Beleidigung gegenüber unserer Universität durch Frau Prof. Dr. Holzinger.
Für alle anderen Freunde und ehemaligen Partner in der Universität meine freundlichsten Grüße.
Dr. phil. Ulrich Kypke
Sonnenfeld 2
25548 Kellinghusen
Ulrich.kypke@t-online.de
Dieser Artikel ist schon ein starkes Stück. Zum einen unterstellt der Autor Katharina Holzinger den Gebrauch des Terminus „verrottet“, obwohl, wie er schon im ersten Absatz selbst einräumt bzw. einräumen muss, die Quelle für diese Behauptung nicht benannt/bekannt ist.
Zum anderen unterstellt er den ganzen Aufsatz über Frau Holzinger, sie habe mit diesem Terminus die Uni Konstanz gemeint. Auch das ist eine Unterstellung. Frau Holzinger hat – auch das wird schon zu Beginn des Aufsatzes deutlich – ganz allgemein von d e n Universitäten, und keinesfalls explizit von d e r Universität Konstanz gesprochen.
Ich habe selten, zumal von einem Akademiker, einen derart unqualifizierten Artikel auf seemoz gelesen.
Das einzige, was mir daran gefällt, ist das beigefügte Foto. Wenn ich mich an die Rauchschwaden erinnere, die damals den ganzen Eingangsbereich der Uni durchzogen haben, dann ist die Schärfe des Fotos im Nachhinein kaum zu glauben.
Ich haben Ende der 70ziger Anfang der 80ziger Jahre Politik und Germanistik an der Konstanzer UNI studiert. Es ist ungeheuerlich was die Rektorin Holzinger über die UNI Konstanz verbreitet. Herrn Willauer bin ich dankbar, daß er in seiner Antwort die politisch-kulturelle Rolle der UNI in jener Zeit gerade rückt. Selbstständiges Denken, eine faktenbezogene Streitkultur bekam ich neben dem Fachwissen in meinen Studienfächern vermittelt. Dafür bin ich den Professoren und Dozenten dankbar. Demokratie reduziert sich nicht nur auf „Trichterlernen“, sondern verlangt selbständiges Denken. Das habe ich auch an der UNI KN gelernt. Das Einüben studentischer Mitbestimmung und nicht den Kopf einziehen vor akademischen und anderen Autoritäten hat mir in meiner beruflichen Karriere als Selbständiger genutzt. Ein andere Erfahrung mußte ich mit dem Studium meiner Töchter machen. Das Auswendig lernen der Vorlesungen und die ständigen Klausuren haben ihr selbständiges Denken nur marginal gefördert! Die Rektorin Holzinger paßt zielgenau auf die verschulte UNI. Eine Schande was aus dem Unibetrieb geworden ist.
Die Formulierung „im Kern verrottet“ geht vielleicht zurück auf ein 1996 erschienenes Buch des SPD-Bildungspolitikers Peter Glotz mit dem Titel „Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf für Deutschlands Universitäten“. Schon das Fragezeichen weist darauf hin, dass Glotz das nicht so gemeint hat wie Frau Holzinger, im Gegenteil. Hier eine Rezension: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-wieder-reform-wagen-11313204.html