Radikalenerlass: Ein schändlicher Jahrestag
Dieser Tage jährt sich zum 50. Mal die Verkündung des sogenannten Radikalenerlasses. Beschlossen von Willy Brandt (SPD) und den Chefs der Landesregierungen, darunter auch Nazi-Marinerichter Hans Filbinger, der von 1966 bis 1978 Ministerpräsident Baden-Württembergs war. Die Baden-Württembergische Landesregierung war besonders gnadenlos in der Verfolgung von links orientierten DemokratInnen. Auch Konstanz spielte damals eine wichtige Rolle. Ein Rückblick.
Der Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“, damals ein dem Grundgesetz unbekannter Begriff, und seine Auslegung wurde dem Verfassungsschutz übertragen, der zur bestimmenden Institution über die Bewerberinnen für den öffentlichen Dienst wurde. Der Verfassungsschutz präparierte sich für diese Regelanfrage mit Zigtausenden von Dossiers. Er schickte seine Leute zu diesem Zweck in Veranstaltungen an den deutschen Universitäten. Rolf Lamprecht, langjähriger Spiegel-Korrespondent in Karlsruhe, erinnert sich mit grimmigem Spott: „Manche dieser Horcher waren intellektuell überfordert, Kritik an den Regierenden fiel bei ihnen stets unter, staatsfeindliche Umtriebe‘.“ Auf dieser Basis wurden dann Millionen Menschen überprüft, «erniedrigende Anhörungen fanden statt». (Heribert Prantl in der SZ vom 23.2.2021)
Insgesamt wurden in der BRD ca. 3,5 Millionen Bewerberlnnen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz erhielt den Auftrag zu entscheiden, wer als „Radikaler“, als „Extremist“ oder als „Verfassungsfeind“ zu gelten hatte. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt.
Die Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11 000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren KommunistInnen, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und GewerkschafterInnen. In Bayern und Baden-Württemberg traf es auch SozialdemokratInnen und in der Friedensbewegung engagierte Menschen. Es traf LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, Postbeamte, Lokführer, Studentische Hilfskräfte und viele andere.
Die Berufsverbote standen und stehen im Widerspruch zu den Kernnormen des Arbeitsrechts und den Menschenrechten und auch im Widerspruch zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Bis zum heutigen Tag warten die vom Berufsverbot Betroffenen auf eine Entschuldigung, auf ihre Rehabilitierung und auch auf finanzielle Entschädigungen. Unter Mitwirkung der Betroffenen Klaus Lipps (Lehrer), Werner Siebler (Briefträger), Silvia Gingold (Lehrerin), sendete die ARD kürzlich einen informativen Beitrag zum Thema. Ihnen wurde vor allem ihre damalige DKP-Mitgliedschaft vorgeworfen.
Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der als damaliges KBW-Mitglied (Kommunistischer Bund Westdeutschland) vom Schuldienst ferngehalten werden sollte, wird ebenfalls interviewt. Seine Mitgliedschaft bei den Maoisten erklärt er heute mit „christlich imprägnierten Impulsen“. Sei`s drum… Schäbig ist seine Haltung aber, weil er sich nach wie vor weigert, gegenüber den Betroffenen eine staatliche Entschuldigung bzw. Rehabilitierung auszusprechen ( im ARD-Beitrag am Schluss). Er will erst noch ein Forschungsprojekt der Universität Heidelberg abwarten. Und wenn sich da herausstellen sollte, dass jemand Unrecht geschehen sei, könne man sich ja immer noch entschuldigen.
Konstanz war Impulsgeber
Konstanz spielte in Baden-Württemberg und auch bundesweit eine gewichtige Rolle im Kampf gegen die Berufsverbote, vor allem initiiert vom damaligen AStA der Universität Konstanz bis weit hinein in gewerkschaftliche Kreise, liberal gesinnte DemokratInnen, später stießen auch Professoren dazu.
Binnen kürzester Zeit waren in Konstanz 50 Personen auf Grundlage von Spitzelberichten des Verfassungsschutzes erfasst und mit Entlassungen bedroht. Angefangen von der studentischen Hilfskraft über wissenschaftliche Angestellte, Lagerarbeiter bis hin zu LehrerInnen. Auch chilenische Flüchtlinge, die dem Faschisten und Allende-Mörder Augusto Pinochet entkommen waren, wurden von Hans Filbinger und Karl Schiess verfolgt. Schiess, auch langjähriges Mitglied der NSDAP, war von 1972 bis 1978 baden-württembergischer Innenminister, und gab einen nach im benannten Erlass heraus („Schiess-Erlass“), in dem er die Überprüfung der Beschäftigten im Staatsdienst auf ihre Verfassungstreue anordnete.
Das Konstanzer Uni-Rektorat Informierte in einem Sonderdruck darüber, dass mit Stichtag 18. Oktober 1974 bereits 500 Überprüfungsverfahren zu Uni-Angehörigen vom Innenministerium vorlagen (damals hatte die Uni gerade mal 2000 Studierende!). Die Vorwürfe waren ebenso vielfältig wie lächerlich und zeigten das ganze Ausmaß an Gesinnungsschnüffelei, überwachungsstaatlicher Hysterie und Bruch des Grundgesetzes. Darunter fiel auch die Mitgliedschaft in Organisationen wie MSB Spartakus (Marxistischer Studentenbund), DKP (Deutsche Kommunistische Partei), KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), SHB (Sozialistischer Hochschulbund) oder bei der Jugendorganisation der Labour Party. Sogar die Unterzeichnung eines Flugblattes einer linken Schülerorganisation erregte Verdacht auf umstürzlerische Umtriebe, sowie Reisen in die DDR oder „marxistische Ausdrücke“ in Examensarbeiten.
Ein Streik bewegt
Ende 1974 streikten Studierenden gegen die Berufsverbote an der Uni Konstanz. Rund eine Woche lang fanden zahlreiche Veranstaltungen statt, Infostände wurden aufgebaut, Demonstrationen abgehalten, und es wurde ein Komitee gegen die Berufsverbote gegründet. An der Gründungsversammlung nahm der damalige FDP-Landtagsabgeordnete Hinrich Enderlein teil, der bis zum heutigen Tag Betroffene unterstützt (auch er kommt in dem ARD-Filmbeitrag zu Wort).
Die studentischen Aktionen wurden vom akademischen Mittelbau unterstützt. Auch dieser hatte eine Streik-Urabstimmung durchgeführt. 78 Prozent aller wissenschaftlichen Beamten und Angestellten hatten sich beteiligt. Obgleich diese Beteiligung an einem Streik für die Angehörigen des Mittelbaus den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeuten konnte, stimmten 56 Prozent für den Streik. Das gewerkschaftliche Quorum von 75 Prozent wurde nicht erreicht. Dafür aber wurden Lehrveranstaltungen verlegt und man nahm an den Aktivitäten der Streikwoche teil. Die Aktionen wurden durch zahllose Solidaritätsadressen aus dem In- und Ausland unterstützt.
In der Folge kam es dann im Februar 1975 zur von 40 Konstanzer Professoren initiierten „Erklärung Konstanzer Professoren zur Praxis des Radikalenerlasses“, dem sich weitere 60 Professoren aus Baden-Württemberg anschlossen.
Die Erklärung erinnert daran, dass „das Grundgesetz es gemäß Artikel 15 freistellt, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in anderer Form der Gemeinwirtschaft zu überführen.“ Im Gegensatz zum heute als alternativlos verkündeten Neoliberalismus vertraten die Professoren (Frauen waren tatsächlich nicht unter den Unterzeichnern) die Auffassung, dass es gerade in der grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit möglich und notwendig sein sollte, in alternativen Gesellschaftsmodellen zu denken und sich dafür auch zu engagieren. Gegen Ende der Erklärung heißt es: „Es sollte eine bittere historische Erfahrung gerade in Deutschland gelehrt haben, dass die Bedrohung einer verfassungsmäßig demokratischen Grundordnung auch von staatlichen Bürokratien ausgehen kann“.
Schon vorher hatte der Kleine Senat der Uni Konstanz mit Rektor Frieder Naschold (SPD) erklärt: „Die gegenwärtige Praxis der Überprüfungsverfahren hat in der Öffentlichkeit und bei betroffenen Institutionen und Personen eine unerträgliche Unsicherheit darüber erzeugt, wie die vom Grundgesetz garantierten Freiheiten der Meinungsäußerungen, der freien wissenschaftlichen Tätigkeit, der politischen Anschauung und der legalen Betätigung für nicht verbotene politische Organisationen im Rahmen der vorgeschriebenen Verfassungstreue gewährleistet werden können“
Betroffene endlich rehabilitieren
Die Auswirkungen der Berufsverbote waren und sind bis heute verheerend. Die Maßnahmen von „Radikalen“- und „Schiess-Erlass“ zeitigten nochmals drastischere Folgen: Betroffene durften nicht (mehr) ihren erlernten Beruf als Lehrer oder Postler ausüben. Das führte zu Existenznöten und -verlusten, psychischen sowie körperlichen Erkrankungen bis hin zu familiären Brüchen und mehreren Suiziden. Diese Lebenserfahrungen sind bis heute für die Betroffenen belastend. Auch Rentenansprüche (die Betroffenen sind heute meist um die 70 Jahre alt), wurden durch die Berufsverbotspraxis vielfach minimiert. Also worauf wartet Winfried Kretschmann noch?
Übrigens: Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes werden von der Politik nach wie vor unter Verschluss gehalten. Auch die Namen von Spitzeln und Denunzianten werden nach wie vor geschützt.
Eine umfassende Informationsplattform findet sich unter: http://www.berufsverbote.de. Darunter auch zahlreiche Biographien der Betroffenen und Informationen über heutige Aktivitäten der Bewegung gegen die Berufsverbote.
Text: Thomas Willauer
Bilder: Initiative gegen Berufsverbote
Notwendiger Nachtrag.
Erklärung der vom Berufsverbot Betroffenen zum Koalitionsvertrag der Ampelregierung
Ehemalige Berufsverbots-Betroffene sind entsetzt über Ampel-Koalitionsvereinbarung
Wir, Betroffene der Berufsverbotspolitik in der Folge des Radikalenerlasses von 1972, haben mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition Passagen enthalten sind, die eine Wiederbelebung eben dieser Berufsverbotepolitik befürchten lassen.
So heißt es gleich zu Beginn des Koalitionspapiers wörtlich: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“ Und später wird unter der Rubrik ‚Innere Sicherheit‘ präzisiert: „Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.“
Es wird ehrlicherweise nicht einmal der Versuch unternommen, diese Maßnahme mit den tatsächlich bedrohlichen rechten Unterwanderungsversuchen von Polizei und Bundeswehr zu begründen. Stattdessen werden in plumpster extremismustheoretischer Manier „Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus“ gleichgesetzt.
Den Nachrichtendiensten – damit auch dem sogenannten „Verfassungsschutz“ spricht die neue Regierung allen rechten Skandalen zum Trotz ihr vollstes Vertrauen aus.
Aus eigener bitterer Erfahrung wissen wir, dass eine solche Politik allein den Rechten in die Hände spielt.
Im Januar 2022 jährt sich der unter Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedete Radikalenerlass. Er hat nicht nur Tausende von Linken diffamiert, ausgegrenzt und ihre Lebensperspektiven zerstört, sondern vor allem die gerade erst im Wachsen begriffene demokratische Kultur dieses Landes schwer beschädigt. Rechte blieben von der damaligen Hexenjagd so gut wie vollständig verschont.
Wir sind fassungslos und schockiert, dass die neue Bundesregierung nicht nur weiter die Augen vor diesem jahrzehntelangen staatlichen Unrecht verschließt, sondern sich anschickt, dieselben Fehler zu wiederholen.
Wie damals wird der rechtlich völlig unbestimmte Begriff „Verfassungsfeind“ verwendet. Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst soll vorschlagen dürfen, wer als „Verfassungsfeind“ angesehen und entsprechend behandelt werden soll. Dies kommt einem Suizid der Demokratie und des Rechtsstaates gleich.
Anlässlich des 50. Jahrestages des Radikalenerlasses fordern wir nicht nur die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen, wir wenden uns auch entschieden dagegen, erneut die Prüfung politischer Gesinnungen anstatt konkreter Handlungen zur Einstellungsvoraussetzung im Öffentlichen Dienst zu machen. Grundgesetz und Strafrecht würden schon heute vollkommen ausreichen, rechte Netzwerke in Polizei, Militär und Justiz zu bekämpfen. Bedauerlicherweise wird davon nur sehr selten Gebrauch gemacht. Der Kampf gegen rechte Demokratiefeinde bleibt in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe.
Klaus Lipps für den Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte
Liebe Seemoz, lieber Autor Thomas Willauer,
einen großen Dank für Eure Erinnerungen zum 50. Jahrestag des Unrechts der Berufsverbote in Deutschland,. Die Anfang der 70er Jahre noch mit Altnazis wie den Herren Filbinger und Schiess besetzte Landesregierung hatte der Demokratie großen Schaden zugefügt. Als Student in Konstanz und Vorsitzendem des Allgemeinen Studentenausschusses in Konstanz war ich dort der 1. vom Berufsverbot Betroffene. Der Ruf unserer Universität wurde damals mit diesen Maßnahmen beschmutzt. Aber unvergessen war uns die demokratische Gegenwehr fast aller damaligen Professoren, Dozenten und Mitstudenten. Meine Frau Johanna und ich sind bis heute für die damals erlebte Kraft der Unterstützung und der demokratischen Gegenwehr bewegt und dankbar.
Wir wurden jahrelang bespitzelt und uns wurden immer wieder Steine in den beruflichen Lebensweg geschoben. Trotz akademischer Auszeichnungen durfte ich nicht einmal Referendar in NRW werden; Meine Dozentur und Lehrveranstaltungen an der Universität Duisburg im Fach Verwaltungswissenschaften sollten – dies allerdings letztlich vergeblich – mit absurden Vorwürfen verhindert werden: Hatte ich doch gegen die amerikanischen Kriegsverbrechen gegen Vietnam wiederholt protestiert. Bis heute werden meiner Frau und mir jegliche Einblicke in die Akten des Verfassungsschutzes verwehrt. Ein Skandal. Die immer noch praktizierte Gleichsetzung unseres Einsatzes für Demokratie und den Rechtsstaat mit den barbarischen Konzepten der rechten Extremisten ist unerträglich.
Wir können deshalb das Kapitel der demokratiewidrigen Berufsverbote leider immer noch nicht abschließen.
Grundoptimistisch , wie wir dennoch sind, sagen wir mit einem alten Liedtext: „Unsere Enkel fechten`s besser aus“
Ulrich Kypke