Radolfzell: Ein Nazi als Ehrenbürger

Wie kommt es, dass Radolfzell noch heute ein lokal einflussreiches NSDAP-Mitglied als Ehrenbürger führt – und seiner mit einer Tafel gedenkt? Über den ehemaligen NS-Bürgermeister August Kratt ist in der Stadt fast nur Gutes bekannt. Und daran soll sich, sagt die Stadtverwaltung, so schnell auch nichts ändern.

Am 25. April 1945 überschlugen sich in Radolfzell die Ereignisse: Die französische Armee stand kurz vor der Stadt und drohte, Radolfzell in Schutt und Asche zu legen, sollte sich die Stadt nicht ergeben. Der damalige kommissarische Bürgermeister August Kratt stand unter großem Druck. Einerseits wollte er die Zerstörung Radolfzells verhindern, andererseits war das sehr gefährlich, denn nur zwei Tage zuvor war Singens stellvertretender Bürgermeister Karl Bäder beim Versuch, Singen kampflos zu übergeben, von der SS erhängt worden. Doch August Kratt war mutig – er ließ trotzdem die weiße Flagge hissen und „rettete“ damit die Stadt. Deswegen und auch für sein wohltätiges Verhalten nach dem Krieg wurde er 1962 zum Radolfzeller Ehrenbürger ernannt.

Diese Geschichte kennen die meisten Menschen, die in Radolfzell aufgewachsen sind. Und am Marktplatz im Herzen der Stadt erzählt eine Gedenktafel diese Geschichte.

Andere Geschichten werden hingegen kaum erzählt – etwa die Geschichten derer, die 1945 nicht mehr gerettet werden konnten, weil sie vertrieben, verhaftet oder ermordet worden waren. Beispielsweise Berta und Elisabeth Welschinger, die im Zuge des sogenannten „Euthanasie“-Programms der Nationalisozialist*innen ermordet wurden. Oder Josef und Lotte Bleicher, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens aus Radolfzell flüchten mussten. Wer sich genauer für die Opfer des Nationalsozialismus in Radolfzell interessiert, kann sich auf den Websites Radolfzell zur NS-Zeit oder Stolpersteine Radolfzell informieren.

Dass diese Menschen nicht mehr vor dem Angriff der französischen Truppen „gerettet“ werden mussten, ist die Schuld des nationalsozialistischen Staats und seiner Unterstützer*innen. Und zu diesen gehörte in Radolfzell auch August Kratt.

NSDAP-Mitglied, SS-Förderer, Bürgermeister

August Kratt trat bereits 1933 in die NSDAP ein und wurde förderndes Mitglied der SS. Außerdem war er Mitglied der ADEFA, der Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Bekleidungsfabrikanten. Die Bekleidungsindustrie war zu Beginn der NS-Zeit ein von Jüd*innen dominierter Wirtschaftszweig gewesen, aus dem diese – so das Ziel der ADEFA – verdrängt werden sollten. Zum einen boykottierten daher die Mitglieder der ADEFA den Handel mit jüdischen Kolleg*innen, zum andern kennzeichneten sie ihre Ware mit einem Qualitätssiegel „Aus arischer Hand“ und nutzten so den verbreiteten Antisemitismus, um ihre Gewinne zu steigern.

Das Kaufhaus Kratt in Radolfzell, das von August Kratt gegründet wurde und bis heute in Radolfzell besteht, profitierte finanziell vom Nationalsozialismus und von Kratts politischen Aktivitäten in dieser Zeit – zu diesem Schluss kam jedenfalls die Freiburger Spruchkammer, die ab 1947 im Auftrag der Alliierten für die Entnazifizierung zuständig war.

August Kratts politische Aktivitäten in der nationalsozialistischen Kommunalpolitik waren nicht unerheblich: 1935 wurde er NSDAP-Gemeinderat und Beigeordneter des Bürgermeisters, 1937 wird er dann dessen erster Stellvertreter, und als der damalige Bürgermeister Josef Jöhle 1942 starb, übernahm Kratt die Bürgermeistergeschäfte kommissarisch. Auf Grund dieser Beteiligung am NS-Staat verurteilte ihn die Freiburger Spruchkammer 1947/48 in den Entnazifizierungsprozessen als „Minderbelasteten“ zu einer Geldstrafe und einer vorübergehenden Sperre für politische Ämter.

Ähnliche Rechtfertigungsmuster

Die weitgehende Rehabilitierung ehemaliger nationalsozialistischer Funktionsträger*innen war nach dem Zweiten Weltkrieg keine Seltenheit. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich Albert Speer, ab 1942 Rüstungsminister in Hitlers Kabinett und maßgeblich mitverantwortlich für die grausame Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Trotzdem gelang es ihm bereits während der Nürnberger Prozesse, seine Schuld zu relativieren; er wurde anders als andere NS-Funktionäre seines Rangs nicht zum Tod, sondern zu 20 Jahren Haft verurteilt.

[the_ad id=“94028″]Seine Verteidigungsstrategie umfasste unter anderem die (Selbst-)Darstellung als unpolitischer und fleißiger Fachmann, der als Architekt und Rüstungsminister einfach seinen Job gemacht und mit der Ideologie und dem Grauen des Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt habe. Er erkannte an, dass der Nationalsozialismus viel Leid verursacht hatte und übernahm dafür einen Teil der Gesamtverantwortung – aber ohne eine eigene Schuld einzugestehen. Außerdem habe er sich innerhalb der Regierung in Opposition zu Hitler befunden: Gegen Ende des Kriegs sprach er sich wohl gegen Hitlers Befehl der „verbrannten Erde“ aus, also die vollständige Zerstörung aller Industrieanlagen beim Rückzug der Wehrmacht. Er sei damit letztendlich solidarisch mit dem deutschen Volk gewesen.

Nach seiner Freilassung 1966 veröffentlichte Speer mehrere sehr erfolgreiche autobiographische Bücher, in denen er seine Selbstrechtfertigung ausbaute. Auf diese Weise schaffte er es, sich in der deutschen Bevölkerung weitgehend zu rehabilitieren, und gelangte als Zeitzeuge und Autor zu großer Popularität (die Öffentlichkeit begann ihn erst sehr viel später kritisch zu betrachten).

Natürlich war er eine viel bedeutendere Person im Nationalsozialismus als August Kratt, aber die Rechtfertigungsmuster der beiden ähneln sich. Auch Kratt wurde als gemäßigter, nahezu unpolitischer Nationalsozialist dargestellt. So gab beispielsweise der Radolfzeller Stadtpfarrer Josef Zuber, der auch für Kratt als Entlastungszeuge vor der Spruchkammer aussagte, zu Protokoll: Kratt habe zu den „anständigen Nationalsozialisten“ gehört, „die an einen Sieg der gemäßigten Elemente im Nationalsozialismus glaubten und dafür innerhalb der Partei arbeiteten“.

„Ich habe mehr getan als viele heutige Antifaschisten“

Auch Kratt zeigte sich reumütig. Er sei Teil der NSDAP gewesen sei, gab er zu – wies jedoch jede persönliche Schuld von sich. Das zeigt folgende Aussage von ihm: „Ich möchte hiermit ausdrücklich betonen, daß ich mich in keiner Weise vor den Folgen meiner formellen Zugehörigkeit zur NSDAP drücken will, aber ich habe, wie mir jedermann zuerkennt, mehr für die Rettung von Menschenleben und Eigentum getan als viele heutige Antifaschisten“.

In diesem Zitat wird eine weitere Strategie erkennbar, nämlich die Rechtfertigung, dass er sich letztendlich für die Radolfzeller Bevölkerung engagiert und sich dem NS-Regime widersetzt habe – indem er Radolfzell kampflos übergab. Diese Rechtfertigung wirkt angesichts des Grauens des NS-Staats erst einmal absurd, aber sie funktionierte im Nachkriegsdeutschland gut, weil sie eine Vorlage für das Selbstbild der deutschen Bevölkerung bot. Isabell Trommer, die über Albert Speer promovierte, schreibt in ihrer Dissertation 2016: „In der Person Speer bündelten sich die zentralen Rechtfertigungsformeln, die im Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit in der Bundesrepublik virulent waren. […] Die Speer-Rezeption gibt also Aufschluss über das Verhältnis der Bundesrepublik zur NS-Vergangenheit […].“

Ähnliches gilt auch für August Kratt. Weil die Deutschen kollektiv nicht in der Lage waren, mit ihrer Schuld umzugehen, akzeptierten sie die Rechtfertigungen von nationalsozialistischen Funktionsträger*innen, um ihre eigene Rechtfertigung nicht zu gefährden. So waren sie in Radolfzell auch bereit, Kratt zum Ehrenbürger zu machen.

„Noch nicht umfassend aufgearbeitet“

Mittlerweile wurde, wie bei Speer, auch Kratts Rolle im Nationalsozialismus historisch aufgearbeitet. Allerdings hatte dies bisher wenig konkrete Auswirkungen in Radolfzell. In der Presseberichterstattung über die Geschichte des Kaufhauses Kratt in Radolfzell bleibt dessen Rolle im Nationalsozialismus überwiegend unerwähnt oder wird nur kurz angerissen, ohne das Ausmaß seiner Beteiligung zu erläutern. Das Kaufhaus Kratt selbst hat auf seiner Homepage und im Geschäft ebenfalls keinerlei Aufarbeitung erkennen lassen.

Ebenfalls historisch nicht eingeordnet ist die Erinnerungstafel an Kratt und die Rettung Radolfzells am Münsterbrunnen. Selbst die Ehrenbürgerwürde wurde ihm bisher nicht aberkannt – obwohl dies der Gemeinderat problemlos tun könnte und im Fall von Eugen Speer, einem anderen nationalsozialistischen Bürgermeister Radolfzells, auch getan hat.

Im Rahmen dieser Recherche verwies die Stadt Radolfzell die Frage, warum August Kratt nach wie vor Ehrenbürger von Radolfzell ist, an das Stadtarchiv. Dieses antwortete so: „Der Stadt ist bewusst, dass es sich bei der Person August Kratt um eine nationalsozialistische Persönlichkeit handelte und dass seit über 20 Jahren von verschiedenen Stellen (z.B. ehemaliges Amt für Stadtgeschichte) zu dieser Person geforscht wird und die Ergebnisse teilweise auch veröffentlicht oder anderweitig kommuniziert wurden. Wir möchten hier beispielsweise auf die Ergebnisse von Herrn Wolter hinweisen, die in der Stadtchronik oder auch im Internet zugänglich sind. Die Stadtverwaltung hat deshalb bewusst darauf verzichtet, das Bildnis von Herrn Kratt in die Bürgermeistergalerie aufzunehmen, da sein Handeln im Nationalsozialismus außer Frage steht.“

Und weiter heißt es in dem Schreiben: „Seine Ehrenbürgerschaft wurde aus diesem Grund schon oft kritisch hinterfragt. Konträr zu Eugen Speer (einem anderen NSDAP-Bürgermeister, nicht zu verwechseln mit Albert Speer! Anm. d. A.) wurde ihm die Ehrenbürgerschaft bis jetzt noch nicht aberkannt, weil seine Verdienste nach dem Krieg zu dieser Ehrenbürgerschaft führten. Da die Rolle von August Kratt nach dem Krieg aus unserer Sicht aber noch nicht umfassend aufgearbeitet ist, möchten wir die Ergebnisse noch abwarten, um ein möglichst genaues Gesamtbild zu erhalten. Aus diesem Grund wurde die Gedenktafel am Münster noch nicht überarbeitet, wir werden aber Ihre Anregungen in die noch anstehenden Arbeiten einfließen lassen.“

Die Perspektive der Täter*innen

Unklar ist hierbei, bis wann die nötige Aufarbeitung abgeschlossen sein wird und warum es dieser überhaupt bedarf. Denn wenn anerkannt ist, dass Kratt sich eindeutig der nicht unerheblichen Beteiligung am NS-Staat in Radolfzell schuldig gemacht hat, dann ist es nicht unbedingt von Relevanz, ob er sich danach ehrwürdig verhalten hat. Denn aus Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus und auch aus der historischen Verantwortung der Deutschen heraus ist es generell fragwürdig, einen ehemaligen Nazi zum Ehrenbürger zu machen, unabhängig von seinem sonstigen Verhalten.

Außerdem könnten die Erkenntnisse über Kratts NS-Vergangenheit vorübergehend etwa per Infoschild neben der Gedenktafel dargestellt werden, bis die Frage über die Aberkennung oder Nicht-Aberkennung seiner Ehrenbürgerwürde endgültig geklärt ist. Damit würde verhindert, dass dieser Mythos über den „Retter“ Radolfzells und die Ignoranz den Opfern des Nationalsozialismus in Radolfzell unkommentiert fortwährt.

Denn das Problem, das sich in der Erzählung über die „Rettung“ Radolfzells generell zeigt, ist, dass die deutsche Mehrheitsperspektive die Perspektive der Täter*innen ist. Denn gerettet wurden in Radolfzell 1945 nur noch Täter*innen und Mitläufer*innen – sich darüber zu freuen, blendet die Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus aus.

Dass in Radolfzell die „Rettungsgeschichte“ viel bekannter ist als beispielsweise das Schicksal des Ehepaars Bleicher zeigt, dass sich die Mehrheit der Radolfzeller*innen mehr für das Schicksal ihrer eigenen Vorfahren als für das von jüdischen Menschen interessiert. Deswegen ist es umso relevanter, in der Erinnerungskultur die Stimmen der Opfergruppen zu hören und Empathie mit diesen zu entwickeln, auch wenn die gefühlte Ähnlichkeit vielleicht geringer ist als zur weißen, christlichen Mehrheitsbevölkerung.

Der Mythos des „guten Nazis“

Außerdem zeigen aktuelle Befragungen, wie eine von der Wochenzeitung Die Zeit in Auftrag gegebene Umfrage aus dem Jahr 2020, dass 52 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass die Masse der Deutschen keine Schuld hatte und es nur einige Verbrecher waren, die den Krieg angezettelt und die Jüd*innen umgebracht haben. Der Glaube, dass es Beteiligte am NS-Staat gab, die sich nicht schuldig gemacht haben, lebt also fort.

Insgesamt zeigt der Fall August Kratt, dass Deutschland nach wie vor mit seiner Erinnerungskultur den Opfern des Nationalsozialismus nicht gerecht wird und oft vor allem mit der Rechtfertigung von Täter*innen beschäftigt ist. Dabei wird oft vergessen, dass hinter den Opfern des Nationalsozialismus genauso individuelle Schicksale stehen. So schrieb Berta Welschinger in ihrem Widerspruch gegen ihre bevorstehende Zwangssterilisierung 1934: „Meine Augen sind wundervoll; es schauen und fliegen lauter Engele heraus. Diese darf man mir ja nicht rauben.“

Die Nazis zerstörten unzählige Menschen, Geschichten, Träume und Realitäten. Aus Respekt vor den Opfern sollten wir Menschen nicht als Held*innen verehren, wenn sie daran beteiligt waren.

Text und Grafik: Frida Mühlhoff
Foto von August Kratt (Bildmitte) während der NS-Zeit (rechts daneben NSDAP-Ortsgruppenleiter Otto Gräble): © Stadtarchiv Radolfzell; Fotos von der Gedenktafel am Münsterbrunnen und vom Eingangsbereich des Kaufhauses 
Kratt: Pit Wuhrer

Quellen:
Klöckler, Jürgen: „SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen“ in „Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“, Heft 129, Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2011
Stadt Radolfzell (Hg.): Radolfzell am Bodensee – Die Chronik, Verlag Stadler, Konstanz, 2017
Trommer, Isabell: „Rechtfertigung und Entlastung – Albert Speer in der Bundesrepublik“, Campus Verlag, Frankfurt, 2016
Initiative für Offenes Gedenken in Radolfzell (Hg.): Radolfzell zur NS-Zeit
Kaufhaus Kratt Radolfzell: Über uns
Stadt Radolfzell: Ehrenbürger von Radolfzell
Stadler, Christof: Südkurier-Artikel zur Übergabe Radolfzells am 25. April 1945
Stolpersteine Radolfzell
Policy matters/Die Zeit: „Die Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus“, 2020