Radstadt Konstanz – eine Bestandsaufnahme (I)
Mit dem Handlungsprogramm Radverkehr wird seit 2013 von der Stadtverwaltung ein Konzept entwickelt, das den Ausbau der Stadt Konstanz zu einer „Radstadt“ vorsieht. Aber was heißt das eigentlich? Gegenüber echten Radstädten wie etwa dem niederländischen Utrecht oder dem hochgelobten Kopenhagen liegt Konstanz um 30-40 Jahre zurück. Was ist geplant, was verwirklicht – und sind die Planungen nach dem aktuellen Erkenntnisstand tatsächlich geeignet, den Verkehr in Konstanz grundlegend zu verändern?
Teil II lesen Sie hier, Teil III hier.
In einer aktuellen ADFC-Fahrradstudie belegte Konstanz in der Kategorie „Aufholer“ unter den Städten bis zu 100.000 Einwohnern den ersten Platz, gewiss eine lobenswerte Tendenz. Bei 437 Teilnehmern an diesem Klimatest, die mit hoher Wahrscheinlichkeit alle sehr radaffin sind, ist dabei allerdings nicht unbedingt von einer repräsentativen Studie auszugehen. Vielmehr drängt sich die Frage geradezu auf, wie andere RadfahrerInnen urteilen würden.
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Hierzu hat Thiemo Graf, Leiter des Instituts Innovativer Städte, auf Basis der Grundlagenarbeit von Roger Geller, Radbeauftragter der Stadt Portland/ USA, eine neue Denkweise entwickelt. Er wendet sich bei der Radwegeplanung von der rein ingenieurstechnischen Planungssicht für die Gruppe „Alle RadfahrerInnen“, die in Deutschland üblich ist, ab. Er übernimmt vielmehr eine Marketingsicht und teilt diese Gesamtgruppe in unterschiedliche Zielgruppen, also Nutzertypen auf. Neben der Gruppe der Furchtlosen (LTS4), Alltagsradler (LTS3) und Nichtradfahrer (LTS1) gibt es die Gruppe der Interessierten (LTS2), die auf unseren Straßen gern mit dem Rad fahren würden, dies jedoch kaum tun, weil sie sich dort nicht sicher fühlen. Diese Sichtweise fragt nicht, ob jemand ein eher schneller Radfahrer mit guten Radfahrfähigkeiten ist oder ein eher langsamer Radfahrer (Kröten-oder-Hasen-Modell), sondern welches Stressempfinden RadfahrerInnen im Straßenverkehr entwickeln und bei welchem Typ (Rad-)Weg dieser Stress nicht mehr erheblich oder überwunden ist.
Anders formuliert: Welches Produkt braucht welcher Typ RadfahrerIn?
Unterschiedliche Erwartungen
Dazu wurde den vier verschiedenen Nutzergruppen je ein sogenannter „Level of Traffic Stress (LTS)“, also Grad von Verkehrsstress, zugeordnet.
– Die Gruppe der Nichtfahrer weist mit dem LTS1 den höchsten Stresslevel auf und bräuchte eher breite, komfortable Wege oder verkehrsberuhigte Bereiche und Netze für Fuß- und Radverkehr innerhalb von Quartieren. Zu ihnen zählen vor allem Kinder, Senioren und unerfahrene RadfahrerInnen.
– Die Gruppe der Interessierten setzt sich großenteils aus Erwachsenen zusammen und hat einen noch hohen Stresslevel LTS2. Sie benötigen tendenziell baulich getrennte Radwege und ein durchgängig komfortables, lückenloses Radwegenetz.
– Die dritte Gruppe stellt die der Gewohnheitsfahrer, auch „Alltagsradler“ genannt, dar, denen insbesondere zügige Wegeverbindungen, die grüne Welle und Sicherheitsabstände zum Kfz-Verkehr wichtig sind. Sie weisen den eher mittleren Stresslevel LTS3 auf.
– Die letzte Gruppe ist die der Furchtlosen, das sind oft eher jüngere und männliche Radfahrer. Sie haben einen geringen Stresslevel LTS4 und bevorzugen schnelles Vorankommen im Sinne einer freien Fahrt und bewegen sich auch im Mischverkehr recht sicher.
Allein die Gruppe der Interessierten (LTS2) macht in Deutschland 60% der Gesamtgruppe aus. Zählt man die Gruppe der Furchtlosen (LTS4) mit 2% und die der Gewohnheitsradler (LTS3) mit weiteren 5% hinzu, so ergäbe sich eine Zwei-Drittel Mehrheit. Um das Radwegenetz auf seine Tauglichkeit hin zu überprüfen, werden jetzt alle Radverkehrsverbindungen nach einer sogenannten „Stresskarte“ katalogisiert. Jede Verbindung wird farblich je nach Stresslevel (LTS) in verschiedenen Farben gekennzeichnet. Wird zum Beispiel den Radverbindungen mit dem Stresslevel 3 (LTS3) die Farbe Blau zugeordnet, sieht man sehr schnell Netzlücken, weil die Wege nicht für die Gruppe der Interessierten mit LTS2 geeignet sind. Dabei bietet gerade die Gruppe der Interessierten enorme Chancen zur Reduzierung des Kfz-Verkehrs, sie wäre aufgrund ihres hohen Anteils an der Bevölkerung ein wichtiger Schlüssel für eine Verkehrswende. Und je mehr Radfahrer, desto sicherer das Radfahren, genannt „Safety in Numbers“: Bei einer Verdopplung des Radverkehrs sinkt das Unfallrisiko je Kilometer um 34%, so hat eine Untersuchung von Jacobsen ergeben. Was für ein Potenzial für eine lebenswertere Stadt: Weniger Lärm, weniger Stau, weniger Schadstoffe, weniger Feinstaub – und trotzdem ein zügiges Vorankommen.
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Radstadt? Konstanz?
Nun wirbt die Stadtverwaltung Konstanz weiterhin gern mit dem Begriff „Radstadt Konstanz“, auch und gerade im OB-Wahlkampf bis in die Sozialen Medien hinein. Das binationale Aktionsbündnis CICLO Konstanz-Kreuzlingen kann sich dieser Wertung aus sachlicher Sicht so nicht anschließen, denn im internationalen Vergleich hinkt Konstanz beispielsweise niederländischen Radstädten weit hinterher. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der Inkongruenz zwischen Schein und Sein, denn für eine echte Radstadt weist die Infrastruktur von Konstanz noch viel zu viele Lücken und Mängel auf, sie ist nicht engmaschig genug. Andererseits ist der Ausbau des Radwegenetzes im Rahmen des Handlungsprogramms Radverkehr nicht ausreichend terminiert, gemonitort und oft nicht sachgerecht geplant.
Aus der Nähe betrachtet ist das Handlungsprogramm Radverkehr nicht mehr als eine Absichtserklärung, die eher mit einem Leitbild verglichen werden kann. Es enthält grundsätzlich gute, richtungsweisende Gedanken, es fehlen jedoch spezifische, ressourcenorientierte und genau terminierte Zielsetzungen, die – wie im Projektmanagement üblich, – Stück für Stück abgearbeitet werden können. Was damit gemeint ist, zeigt ein Blick auf die Planung und Ausführung einer der Hauptentwicklungsachsen des Handlungsprogramms Radverkehr, die Achse II Bahnhof-Fähre.
Anforderungen
Das beauftragte Planungsbüro Kaulen aus Aachen hat diese Entwicklungsachse II als innergemeindliche Radschnellverbindung der Kategorie IR II nach den Richtlinien integrierter Netzplanung (RIN) angelegt. Dieser Planung liegen zugrunde:
– Eine durchschnittliche Entwurfsgeschwindigkeit einschließlich Zeitverlust (z.B. an Kreuzungen) von 20 km/h.
– Eine auf eine Fahrgeschwindigkeit von 30 km/h ausgelegte Trassierung der Fahrbahn mit kreuzungsfreiem Ausbau.
– Eine Verkehrsführung auf eigenen (Rad-)Wegen.
– Eine Vorrangregelung für Radfahrer („grüne Welle“) – also eine Vorrangschaltung für Radfahrer an Kreuzungen und extra breite Fahrspuren. Die niederländische Stadt s’Hertogenbosch etwa hat an Kreuzungen eigens Kontaktschleifen für Radwege eingeführt.
Untersuchen wir die Konstanzer Entwicklungsachse II, so bietet sich folgendes Bild: Diese Route soll über Lindauer Straße, Hermann-von-Vicari Straße, Salesianerweg und Beethovenstraße führen. Welche der oben genannten Kriterien des Standards IR II sind bei dieser Streckenführung der Entwicklungsachse II erfüllt? Keine einzige Hauptentwicklungs-achse erfüllt diese Kriterien.
Radstadt anderswo
Es stellt sich also die Frage nach Alternativen. Was machen andere Städte besser? Was tut uns als KonstanzerInnen in Sachen (Rad-)Verkehr gut? Der Blick über die Landesgrenzen hinaus kann hilfreich sein. Ein Grundprinzip beispielsweise in der Fahrradstadt Houten in den Niederlanden ist ein Ringsystem, das die Innenstadt umschließt. Alternativ dazu sind beispielsweise in Barcelona sogenannte „Superblocks“ entstanden.
Beide Systeme funktionieren nach einem denkbar einfachen Prinzip. Im Außenring bzw. Außenblock (Planquadrat) bewegt sich der mobile Individualverkehr (MIV) wie gewohnt. In die Innenbereiche oder Innenblocks hinein führen vereinzelt Stichstraßen, meist geschwindigkeitsreduziert und als Einbahnstraßen, in autofreien Innenstädten werden sie für Anwohner- und Lieferverkehr, teilweise nur zu bestimmten Zeiten, freigegeben. Innerhalb der Superblocks in Barcelona ist die Höchstgeschwindigkeit auf 10 km/h begrenzt. Ein Ringsystem käme auch für eine autofreie Innenstadt in Konstanz, Superblocks insbesondere für die eng besiedelten und flachen Stadtteile Paradies und Petershausen in Frage. Hier gälte es, auch die Gruppe der RadfahrerInnen stärker in die Überlegungen mit einzubeziehen. Denken wir an den Altstadtring: Passt er auch zur Gruppe der Interessierten, also stärker sicherheitsbedürftigen RadfahrerInnen? Beispielsweise ist angedacht, den konfliktträchtigen Zweirichtungsradweg auf der Konzilstraße zwischen Fischmarkt und Alter Rheinbrücke durch beidseitige Schutzstreifen zu ersetzen.
Ein Leuchtturmprojekt für eine zukunftsträchtige Lösung, die auch auf die neuen Anforderungen durch schnelle Pedelecs reagiert, ist übrigens jenseits der Grenze zu bestaunen: Das visionäre „Pilotprojekt Velohochbahn Nordwestschweiz“ in Holz- und Modulbauweise soll langfristig das bestehende Velowegenetz mit den neuen Velo(hoch-)bahnen verknüpften. Damit entsteht nicht nur ein hochwertiges Angebot gerade für Pedelec-FahrerInnen, sondern es ist auch mit einer dauerhaften Entlastung des Straßennetzes zu rechnen.[1]
Rad am Rand
Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat hierzu die Überholabstände von Autofahrern gegenüber RadfahrerInnen per Video untersucht. Das Ergebnis: Der Sicherheitsabstand der AutofahrerInnen zu den RadfahrerInnen betrug zwischen 85 cm und 105 cm, also weit weniger als der laut StVO-Novelle einzuhaltende Sicherheitsabstand von 150 cm. Damit werden die RadfahrerInnen weiter an den Straßenrand gedrückt, und der sogenannte gesellschaftliche oder auch Intimabstand von 1,20 Metern, unterhalb dessen der Mensch sich bedroht fühlt, wird deutlich unterschritten. Dies erzeugt gerade bei den sicherheitsbedürftigeren RadfahrerInnen, der großen Gruppe der Interessierten, einen erheblichen Stresslevel. Aus psychologischer Sicht wird mit diesem „Randsystem Schutzstreifen“ auch „der Radfahrer“ zu einer Randfigur, denn der ihm zustehende Raum im Straßenverkehr wird so auch optisch verkleinert und eine Straßenhoheit des MIV suggeriert. Hier braucht es baulich getrennte Radwege statt Schutzstreifen.
Welche Alternativen gibt es? Eine Alternative wäre ein System von Einbahnstraßen. Wenn beispielsweise das Ringsystem oder Superblocksystem mit dem der Einbahnstraßen verknüpft würde, so könnten auf einer Fahrbahnseite Zweirichtungsradwege mit einer Regelmaßbreite von 3,00 Metern bei einseitiger Führung entstehen. Wie könnte ein Einbahnstraßensystem für die Hauptentwicklungsachse II die Verkehrskonflikte beispielsweise in der Hermann-von-Vicari-Straße entschärfen? Es wurde vorgeschlagen, die Hermann-von-Vicari-Straße zur Einbahnstraße umzuwidmen und den Verkehr in der Lindauer Straße gegenläufig zu führen, so dass die Nutzer dieser Straßen über die Jakobstraße wieder zur Mainaustraße gelangten. Was nun ist der wesentliche Vorteil dieser Idee gerade für die Gruppe der Interessierten? Wenn auf der einen Seite die Autos fahren, auf der anderen die RadfahrerInnen auf einem Zweirichtungsradweg, idealerweise durch Poller vor dem MIV geschützt (Protected Bikelanes), so kann der Stresslevel für die Gruppe der RadfahrerInnen so weit gesenkt werden, dass das Risiko von Verkehrsunfällen, vor allem von Beinaheunfällen, gesenkt wird, während die Zahl der RadfahrerInnen gleichzeitig relativ problemlos erhöht werden kann.
Ein anderes System wäre das der kostengünstigen und relativ schnell einzurichtenden Fahrradstraßen. Nach Verwaltungsvorschrift Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) kommen Fahrradstraßen dort in Frage, wo der Radverkehr im Nebenstraßennetz auf einzelnen linienhaften Verbindungen gebündelt werden soll. Zulässig sind Fahrradstraßen, wo der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies mit der Einrichtung der Fahrradstraße werden soll. Der wesentliche Vorteil von Fahrradstraßen ist, dass sie als Ergänzung oder Bindeglied zwischen Radschnellverbindungen dienen, eine klarere Wegeführung aufweisen und damit sicherer sind. Das wäre auch für die Hermann-von-Vicari-Straße als Bindeglied zwischen Bahnhof und Fähre möglich.
Norbert Wannenmacher von CICLO Konstanz Kreuzlingen – Aktionsbündnis für eine lebenswertere Stadt (Foto: O. Pugliese)
Weitere Informationen & Abbildungen:
https://barcelonarchitecturewalks.com/superblocks/
https://geospatialmedia.s3.amazonaws.com/wp-content/uploads/2016/11/Eindhoven1.jpg
https://karlsruherfaecher.de/sites/default/files/faltblatt_ka_fahrradstationen_18-0181_druck.pdf
https://media.treehugger.com/assets/images/2017/03/dw- china1.jpg.662x0_q70_crop-scale.jpg
https://www.stadtwerke-konstanz.de/unternehmen/mehr-konstanz-im-leben/jetzt-umsteigen/