„Realistisch bleiben und das Unmögliche versuchen“
Für die Neulinge von SÖS (Singen ökologisch und sozial) hat der Ernst des Wahlkampflebens begonnen. Es gilt, Infostände zu organisieren, Veranstaltungen vorzubereiten, Presseanfragen zu beantworten – und natürlich auf der Straße für die Ziele der vielen noch unbekannten Liste zu werben. SÖS macht sich für einen „grundlegenden Politikwechsel“ stark und will „Weichenstellungen zu sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit“. Gelänge der Einzug, müsste sich die Konkurrenz im Rat, die von CDU bis Grüne meist geräuscharm marktkonforme Politik treibt, auf unruhigere Zeiten einstellen. Für seemoz Grund genug, einigen KandidatInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Beweggründe und Ziele vorzustellen.
Nach der Ärtzin Birgit Kloos kommt Peter Mannherz zu Wort. Der 65-Jährige ist verwitwet, Familienvater, Steuerberater, Mitglied in der VVN – Bund der Antifaschisten und bei ATTAC sowie Fördermitglied im GNH Gesundheitsnetz Hegau. Er wohnt seit 2015 in Bohlingen. Sein Lebensmotto bringt Mannherz, der zu den führenden Köpfen der Bewegung gegen das ECE-Einkaufszentrum „Cano“ gehörte, auf diesen Punkt: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“.
seemoz: Herr Mannherz, Sie sind Initiator und Sprecher der neuen Wählervereinigung „SÖS – Singen ökologisch und sozial“. Was hat Sie zu dem Schritt bewogen – der ja auch sehr viel Zeitaufwand und Organisationstätigkeit bedeutet – diese neue Wählervereinigung zu gründen?
Peter Mannherz: Meine Hauptmotivation ist es, die Rechtsentwicklung umzukehren und Formen direkter Demokratie durchzusetzen. Alle Menschen sollten am Produktivitätsfortschritt teilhaben, nicht nur die Besitzenden. Die geschichtliche Erfahrung in Deutschland zeigte schon 1933, dass Sozialabbau und Verelendung in einer faschistischen Diktatur münden. Konzernmacht und deren Profitmaximierung um jeden Preis führen zu Demokratieabbau und Armut für viele. Immer mehr Menschen in Singen müssen jeden Cent zwei Mal umdrehen, um sich und ihre Familien durchzubringen. Wohnraum wird immer mehr zu einem für die Bevölkerungsmehrheit unerschwinglichen Luxusgut umgewandelt. In der Bewegung gegen das CANO zeigte sich, vor allem mit 42,5 Prozent Gegenstimmen in der Bürgerabstimmung, dass große Teile der Singener Bürger mit der herrschenden Rathauspolitik und deren neoliberaler Ausrichtung nicht einverstanden sind.
seemoz: Was gefällt Ihnen in Singen? Was nehmen Sie hier als positiv, was als negativ wahr?
Peter Mannherz: Ich wohne seit 2015 in Singen und freue mich über die vielen aufgeschlossenen, diskussionsfreudigen und streitbaren Singener. Negativ ist für mich, dass die Stadt durch das neue Einkaufszentrum marktkonform kommerzialisiert wird. Manche angestammten Singener Einzelhändler werden deshalb ihr Geschäft schließen müssen, die neue Fußgängerzone wird sich künftig im CANO befinden – mit dramatischen Folgen. Als selbständiger Steuerberater bin ich ein Verfechter mittelständischer Wirtschaftsstrukturen und habe etwas dagegen, dass sich Konzerne wie die Otto-Gruppe – nicht nur in Singen – auf Kosten kleinerer Unternehmen immer breiter machen.
seemoz: Bei welchen Wahlkampfthemen sehen Sie Ihre Interessens-Schwerpunkte? Wo möchten Sie sich für SÖS im Falle eines Einzugs in den Gemeinderat besonders engagieren?
Peter Mannherz: Neustart für sozialen Wohnungsbau in Singen durch eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, Klimaschutz, Ausbau des ÖPNV, Anhebung der Gewerbesteuer für zweckgebundene soziale und ökologische Vorhaben in der Stadt.
seemoz: Ganz konkret fordert SÖS laut Wahlprogramm die sukzessive Anhebung des Gewerbesteuerhebesatzes von 360 Prozentpunkte auf 390 (wie in Konstanz) und später auf 420 Punkte (wie in Freiburg). Ein Ansinnen, das den noch amtierenden Gemeinderäten Alpträume bereiten dürfte, wo doch alljährlich bei der Verabschiedung des Haushaltes mit Stolz der Öffentlichkeit kommuniziert wird, dass es aufs Neue gelungen sei, eine Erhöhung der Gewerbesteuer zu vermeiden. Laien allerdings – und dazu dürften auch etliche kleine und mittelständische GewerbesteuerzahlerInnen gehören – können sich unter den genannten Prozentpunkten wenig vorstellen. Könnten Sie als Finanzexperte am besten an einem Beispiel erläutern, was diese Erhöhung in der Praxis für einen typischen Handwerksbetrieb bedeuten würde.
Peter Mannherz: Für den typischen Handwerksbetrieb (auch Einzelunternehmen und Personengesellschaften) wird die Gewerbesteuer bis zu einem Hebesatz von 380 Prozent (Singen hat 360) voll auf die Einkommensteuer gutgeschrieben, sie ist also aufkommensneutral. Bei einem von SÖS angestrebten Hebesatz von 420 Prozent (wie in Freiburg) würde dies einer effektiven Mehrbelastung von 1,4 Prozent vom Jahresgewinn entsprechen. Für Kapitalgesellschaften würde die Gesamtsteuerbelastung von 28,4 auf 30,5 Prozent ansteigen (also nur um 2,1 Prozentpunkte), wenn der Hebesatz von 360 auf 420 Prozent angehoben werden würde. Wer für die Schwachen wenig tun will macht halt Lobbypolitik für die Starken. So ist das auch in Singen. Gleichzeitig finden viele Eltern derzeit nur schwer einen Kitaplatz für ihre Jüngsten und zahlen völlig überhöhte Gebühren. Anstatt jährlich für die Anhebung der Kitagebühren zu stimmen, sollte der Gemeinderat in der nächsten Periode eine Senkung der Kitagebühren und eine Erhöhung der Gewerbsteuerhebesätze beschließen. Auf Landesebene fordert die SPD sogar Gebührenfreiheit für Kitas. Warum tut sie es nicht im Singener Gemeinderat?
seemoz: Die Zusatzeinnahmen aus dieser Gewerbesteuererhöhung sollen zweckgebunden zur Finanzierung von sozialen und ökologischen Vorhaben verwendet werden. Wieviel Mehreinnahmen hätte eine solche Anhebung des Gewerbesteuersatzes aktuell der Stadt Singen gebracht?
Peter Mannherz: Im Jahresdurchschnitt 2010 bis 2017 hatte die Stadt Singen ein Gewerbesteueraufkommen von etwa 39 Millionen Euro. Eine Erhöhung der Gewerbesteuerhebesätze von 360 auf 420 Prozent brächte Mehreinnahmen von 4,6 Millionen Euro jährlich. Singen hat übrigens grundsolide Finanzen. Es könnten in Singen noch viele ökologische und soziale Projekte angestoßen werden. Beim sozialen Wohnungsbau und dem Klimaschutz zum Beispiel. Hier tickt eine globale Zeitbombe!
Das Gespräch führte Uta Preimesser (Foto: © privat. Peter Mannherz)
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Lieber Herr Hügele, Sie deuten die Zahlen in die „andere Richtung“ leider auch nicht ganz korrekt. Peter Mannherz spricht hier von “ 42,5 Prozent Gegenstimmen in der Bürgerabstimmung“, was technisch gesehen völlig korrekt ist, da es sich um etwa 5500 Gegenstimmen von 13000 gesamt abgegebenen Stimmen handelt. Dass auf die Anzahl aller Wahlberechtigten nur gute 36% Wähler kommen sorgt dafür, dass etwa 21% der Gesamtbevölkerung für das Cano und etwa 15% der Wahlbevölkerung dagegen gestimmt haben – und mit einer deutlichen Mehrheit 64% der Wahlbevölkerung schlicht nicht teilgenommen haben.
„42,5 % Gegenstimmer in der Bürgerabstimmung gegen das CANO…“ D I E Behauptung ist zumindest etwas wagemutig,sagt doch das amtliche Endergebnis etwas völlig Anderes aus !!! Man kann das offizielle Endergebnis auf der HP der Stadt Singen nachlesen und dort stehen für die Gegner des CANO eben nur bescheidene 15,20 % auf dem Papier !! Hier war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedanken und mit der Vergesslichkeit des Bürgers wurde offen spekuliert.