Rechtsradikale Werbung gilt in Konstanz als „straßenrechtlicher Gemeingebrauch“
(red) Vergangenen Samstag verteilten Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung „Identitäre Bewegung“ (IB) Propagandamaterial auf der Konstanzer Marktstätte. Daraufhin reagierte die Linke Liste (LLK) und stellte dem Bürgeramt einige Fragen. Die Antworten von Amtsleiterin Anja Risse zeigen unserer Meinung nach deutlich auf, wie naiv und zum Teil fahrlässig die zuständige Stelle mit dem brisanten Thema umgeht. Die Hetzer vom rechten Rand werden das gerne lesen. (Lesen Sie dazu auch den Kommentar auf dieser Seite.)
Sehr geehrter Herr Reile,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die wir gern kurzfristig beantworten möchten.
1. Wer hat bei Ihnen und wofür genau eine Genehmigung erbeten?
2. Ging es „nur“ um Verteilung von Flyern?
Zunächst wurde bei uns eine Versammlung angemeldet. Da aber damit verbunden auch zwei Infostände, ein Pavillon und weiteres Material angemeldet wurde, lehnten wir den Antrag ab, verbunden mit der Information, dass für die Aktion eine Sondernutzungserlaubnis benötigt wird. Daraufhin reduzierte der Antragsteller seine Planung auf das erlaubnisfreie Verteilen von Handzetteln. Das bloße Verteilen von Flyern wird allgemein als sog. „straßenrechtlicher Gemeingebrauch“ angesehen. Wir haben also nichts erlaubt, diese Handlung ist erlaubnisfrei.
3. Wenn ja, haben Sie sich den Inhalt dieser Flyer vorab vorlegen lassen? Bei den verteilten Flyern mit dem Titel „Eine Generation – Ein Schicksal – Eine letzte Chance“ handelt es sich eindeutig um menschenverachtende Propaganda, wie sie aus dem rechtsextremen Lager sattsam bekannt ist. Von „Bevölkerungsaustausch“ ist die Rede, vom „Niedergang eines ganzen Kontinents“, für den die IB die „Masseneinwanderung“ verantwortlich macht und auch davon, dass Frauen sich nicht mehr auf die Straße trauen könnten, da „täglich“ mit „sexuellen Übergriffen von Migranten“ gerechnet werden müsse.
Das Bürgeramt hat für das Verteilen von Flyern beigefügtes Merkblatt und hat dies an den Antragsteller geschickt. Das Bürgeramt forderte die Übersendung eines Musters, bekam aber keine Rückmeldung. Zu Beginn der Aktion am 30.06. wurde diese durch eine Streife des Polizeireviers Konstanz überprüft. Dabei ergaben sich nach Auskunft der Polizei weder ordnungs- noch strafrechtliche Beanstandungen.
4. Haben Sie, Frau Barth, die Genehmigung dieser Aktion mit Ihrer Amtsleitung oder auch dem Justiziariat besprochen?
Frau Barth hat über die Aktion in der ursprünglich geplanten Form mit der Amtsleitung gesprochen und daraufhin den ursprünglichen Antrag abgelehnt. Eine Beteiligung des Justiziariats war nicht erforderlich. Die Verteilung von Flyern ist erlaubnisfrei und bedurfte daher keiner rechtlichen Prüfung. Die IB ist nicht verfassungswidrig oder als verbotene Vereinigung anzusehen.
Sollten im Rahmen der Aktion über den Gemeingebrauch hinausgehende Ansprachen oder Kundgebungen stattgefunden haben, ist das bedauerlich und auch nicht im Sinne des Bürgeramtes. Wir können Ihnen versichern, dass wir mit der IB ein Gespräch führen werden. Allerdings müssen wir in jedem Einzelfall überprüfen, ob wir als Behörde überhaupt einen Ermessensspielraum haben.
Das Bürgeramt als Erlaubnisbehörde ist verpflichtet, Aktionen zuzulassen, die vom Grundgesetz gedeckt sind und nicht gegen die Verfassung verstoßen oder nicht als verfassungswidrig eingestuft sind.
Gegen 13.45 Uhr sollen etwa zehn Personen diese Aktion, auch mit einem mitgebrachten Transparent, gestört haben. Unmittelbar nach den ersten eingegangenen Notrufen konnten diese störenden Personen durch in der Nähe befindliche Polizeistreifen nicht mehr angetroffen werden.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen aus der Konzilstadt Konstanz
Anja Risse
Das im Antwortschreiben des Bürgeramts angesprochene Merkblatt zum Herunterladen.
Überraschend finde ich es doch, dass sich die Stadt keinerlei Gedanken über die Anwendbarkeit von Versammlungsrecht gemacht hat. Dies zeigt sich zumindest in der Passage „Sollten im Rahmen der Aktion über den Gemeingebrauch hinausgehende Ansprachen oder Kundgebungen stattgefunden haben, ist das bedauerlich und auch nicht im Sinne des Bürgeramtes.“ Sobald eine Gruppierung des linken Spektrums die Nutzung von Infoständen oder vergleichbaren Einrichtungen anzumelden sucht, wird nicht nur straßenrechtlich die Sondernutzung untersagt, sondern im Regelfall auch eine anmeldepflichtige Versammlung erkannt und die Zusammenkunft als solche geprüft. Das ist bei der IB scheinbar als unnötig eingestuft worden.
Hätte man im Vorfeld weitere Informationen eingeholt oder vor dem letztendlichen Konflikt BeamtInnen zum Versammlungsort gesandt, hätte man feststellen können, dass sich zumindest 15 Personen an der Marktstätte versammelt hatten, die durch das Verteilen von Flyern und gezieltes Ansprechen von Personen, um diese in längere Gespräche zu verwickeln, auf die öffentliche Meinungsbildung in einer öffentlichen Angelegenheit einwirken wollten. Da liegt die Anwendung von Versammlungsrecht doch sehr nahe – anders als bei den obligatorischen zwei verstreuten WahlkämpferInnen, die während der jeweiligen Saison Passanten zu Veranstaltungen einladen oder zur Wahl von versch. Parteien aufrufen, spricht hier schon die Anzahl der Beteiligten für eine ganz andere Wirkung im öffentlichen Raum und für ganz andere Konfliktpotentiale. Vielleicht könnte man dann das nächste Mal einen „PR-Coup“, wie ihn Winfried Kropp feststellen möchte, vermeiden – einfach ordentlich seine Arbeit machen.
Gruß
Simon Pschorr
Eines muss man den Aktivisten der Identitären Bewegung (IB) lassen. Aus der langweiligsten aller politischen Aktionen, nämlich Flugblätter an desinteressierte Einkäufer zu verteilen, generieren sie einen PR-Coup, das allerdings unter tätiger Mithilfe der lokalen Medien und leider auch von seemoz.
Auch wenn die Fragen an das Bürgeramt etwas anderes nahelegen: Jeder darf Flugblätter auf öffentlichen Wegen und Plätzen verteilen. Es ist nicht Aufgabe des Bürgeramts, den Inhalt von Flugblättern zu kontrollieren und ich hoffe doch stark, dass dies so bleibt.
Demokraten haben selbstverständlich die Aufgabe, die weichgespülten Rechtextremisten der IB zu beobachten und deren menschenverachtende Ideologie zu bekämpfen. Das baden-württembergische Straßenrecht ist dafür genau so wenig geeignet, wie übertriebene öffentliche Aufregung.
Wäre ein Verbot der Verteilaktion durch die „Identitäre Bewegung“ der richtige Weg gewesen? Ja, zweifelsohne hätte die Stadtverwaltung ein Zeichen setzen können. Doch durfte und sollte sie das überhaupt? Man könnte den Standpunkt einnehmen, dass das, was die „IB“ mit ihrem völkischen Gesinnungsgut verbreitet, nichts mit Meinung zu tun hat – und daher auch nicht unter die Meinungs-Freiheit fällt. Doch machen wir es uns damit nicht allzu leicht? Verschließen wir mit einer Untersagung solcher Aktionen wie der auf der Marktstätte nicht einfach die Augen vor einer offenkundig bedeutsamen Herausforderung, nämlich der Tatsache, dass in unserer Bevölkerung „ethnokulturelle“ Gedanken herumgeistern, die dazu in der Lage sind, rassistische Ressentiments auf das Übelste zu bedienen, und wohl auch unter jungen Bürgern Anklang finden?
Ich bin der Überzeugung: Mit einer Ablehnung dieser Aktion hätten wir das Problem lediglich aus unserem Sinn verloren. Im Untergrund würde es weiter wabern. Als Demokraten sind wir stattdessen dazu aufgerufen, uns auch mit diesen Parolen einer Bewegung zu konfrontieren, die wir auf das Schärfste ablehnen. Denn nur so können wir Ambitionen wie denen der „IB“ die Stirn bieten. Wir sollten offen dafür sein, zu erfahren, was gerade diese jungen Menschen bewegt, die sich einer solchen Bewegung anschließen. Das Gespräch suchen, auch wenn unsere Argumente vielleicht nicht ankommen mögen. Und im Zweifel landet das Flugblatt der „Identitären“ am Ende demonstrativ im Papierkorb.
Ich möchte mir später einmal nicht vorwerfen lassen, dass ich von all dieser Gesinnung nichts gewusst habe. Demokratie in all ihren Extremen zu akzeptieren, das bedeutet auch, sich mit Positionen auseinanderzusetzen, die fernab eines hinnehmbaren Spektrums liegen. Protest und Widerstand einzulegen, wo wir am liebsten weggucken würden. Nein, die Stadtverwaltung hat es sich in ihren Abwägungen deutlich zu einfach gemacht. Doch ich bin trotzdem froh, dass die Aktion stattfinden konnte. Nicht deshalb, weil ich es gerne sehe, wenn sich nationales Gedankengut verbreitet, sondern weil ich fest daran glaube, dass wir es nur dann eindämmen können, wenn wir um seine Existenz wissen.