Sag‘ zum Abschied leise Servus. Was träumende Telefone Sammlern nachts in die Ohren wispern (Teil II)

Die größte fernmeldehistorische Sammlung in privater Hand in Deutschland, die Sammlung Schmidt, zieht von Konstanz nach St. Georgen um. Albert Kümmel-Schnur, der die Sammlung und den Sammler Hans-Dieter Schmidt seit vielen Jahren kennt, beschreibt ein museales Kleinod, das lange vor allem im Verborgenen funkelte.

Teil I lesen Sie hier, Teil III hier.

Was ich sah, war fantastisch, wunderbar und ganz und gar atemberaubend. Zur Beschreibung zitiere ich die Glosse des Abteilungsleiters J. H. Hannemann im Hausblatt 4/1986 – aus einer Zeit, als das Museum noch im Büro seines Chefs Platz fand: „Wir sehen ein übersehbares, überwältigendes, alle Vorstellung sprengendes und in einem Büroraum nie erwartetes Happening. An Wänden, am Boden, an der Decke, auf Fensterbänken, Stühlen, Tischen, Gehäusen gehängt und gebohrt, gestellt, geschichtet, verwickelt. Springschreiber, neu verfasste und vergilbte Schriftstücke, Ordner, Telefonapparate, Bleistifte, Bohrkerne, Wähler, Spielzeug, Schnüre, Uhren, Holzmasten, Reiseführer, Signale, Schrauben, heilige Schriften, Werbeprospekte, Blechgehäuse, Klebstoffe, Urkunden, Stechpalmen, Kurbelinduktoren, Klappschränke, Balancegeräte, Notizblöcke, Schaltuhren, Siebdrucke und vieles, vieles mehr. Offensichtliches Thema des Museums: das Chaos der Objekte.“

Ein von einer inneren Ordnung durchströmter Artefaktdschungel

Es gibt einen Dokumentarfilm, Blackbox Schmidt, den André Beckersjürgen im Rahmen seiner Bachelorarbeit vor Jahr und Tag gedreht hat. Da sehen wir Hans-Dieter Schmidt genau diesen Text vorlesen. Und wir sehen die Begeisterung, die sich in Mimik und Stimme breit macht, das schiere Vergnügen angesichts des selbst angerichteten Durcheinanders, die Freude an der unübersehbaren Vielfalt der Objekte und auch der Bewunderung, die dem Chef in den Worten des Mitarbeiters entgegengebracht wird. Das kann man sich selbst ansehen und -hören. Hier auf der Website der Sammlung ist der Film „Blackbox Schmidt“ zu sehen.

Der Raum der Sammlung Schmidt vermittelte instantan, ganz ohne jedes weitere erklärende Wort genau diese Begeisterung am sich verdichtenden, immer kleinteiliger sich verzweigenden und verlierenden Objektnetzwerk, am kaum durchdringbaren und doch von einer inneren Ordnung durchströmten Artefaktdschungel. Die Sammlung Schmidt war kein cleaner Raum, nicht designt, nicht gelackt. Ganz im Gegenteil. „Hände waschen nicht vergessen!“ mahnte der Sammler am Ende jeden Besuchs, denn hier kam man natürlich nicht nur mit Staubfängern und dem Dreck der Jahrhunderte in Berührung, sondern auch mit Spuren von Schwermetallen, die vor dem nächsten Essen dann doch besser wieder von den Händen sollten.

Wunderding des Moments …

Es brauchte aber auch genau diese Anordnung, genau diese Gratwanderung zwischen Ordnung, Chaos und stetiger Reorganisation, ganz so, als sei die Sammlung etwas Organisches (einen „Misthaufen“ hat der Sammler sie einmal genannt), um ihr das Leben eines eigenständigen Dialogpartners einzuhauchen. Schmidt selbst ließ sich jedes Mal aufs Neue von seiner eigenen Sammlung begeistern und riss die Besucherinnen und Besucher mit. Jedes Mal – und ich habe es Hunderte, vielleicht Tausende Mal erlebt –, jedes einzelne Mal begann eine Sammlungsführung damit, dass der Blick des Sammlers auf irgendein Objekt fiel, das ihn reizte, störte, irritierte, wunderte, begeisterte. Und von diesem Objekt aus, diesem Wunderding des Moments, nahm die Führung ihren Ausgang. Immer tiefer wühlte sich der Sammler ins Objektdickicht und nahm die ihn Begleitenden einfach mit, ließ sie rechts und links am Wegesrand eigene Erkundungen unternehmen, ließ sich von Fragen und spontan geäußerten Interessen irritieren und inspirieren.

Spinnen im Geflecht ihrer Netze

Wenn ich jemals jemandem begegnet bin, der so gut die Funktion erfüllte, die Roland Barthes Autor:innen zuschrieb, nämlich Spinnen im Geflecht ihrer Netze zu sein, dann war und ist das Hans-Dieter Schmidt. Bei jedem Besuch entstanden neue Verbindungen. Und keiner freute sich mehr über diese neuen Verbindungen als eben der Sammler selbst. Wie großartig, wenn die Sammlung Fragen beantworten konnte, die der Sammler sich nie gestellt hatte. Wie schön, dem Gemurmel der Dinge zu lauschen. Hans-Dieter Schmidt ist einzigartig darin, diesem Gemurmel zuzuhören und schweigende Dinge zum Sprechen zu bringen.

Immer schon erschien mir die schwierigste Aufgabe an der Weiterführung der Sammlung nicht, einen Ort für die Objekte zu finden (jaja, das hatte ich wohl unterschätzt). Die schwierigste Aufgabe besteht darin, die Funktion zu erhalten, die der sammelnde Erzähler in diesem Netz einnahm. Denn selbst, wenn er sich nur als Funktion seiner Sammlung sah – „Wenn man mich aufschneidet, bin ich innen gelb und voller Kabel“, antwortete er mehr als einmal auf die Frage nach seinem Verhältnis zu seiner Sammlung –, so war doch auch die Sammlung auf ihren Erzähler angewiesen. Ich habe viel darüber nachgegrübelt und allerhand Lösungen erdacht. Mich von Informatikern für verrückt erklären lassen, denen ich vorschlug, algorithmisch die Verknüpfungslogik des Sammlers nachzumodellieren. Umgesetzt habe ich nichts davon. War ja nicht nötig. Wann immer ich mit Studierenden in der Sammlung, mit der Sammlung arbeiten wollte, war Hans-Dieter Schmidt zur Stelle. Endlose Stunden verbrachte er mit jedem einzelnen Seminarteilnehmenden, unermüdlich geduldig wieder und wieder Dinge erklärend, den Einfällen der Studierenden folgend Materialien anders als geplant zusammenzustellen und sich an der Begeisterung anderer selbst begeisternd.

Ein ganzer Doppelkabinen-Kombi als Tauschobjekt

Es gibt ein eher unscheinbares Objekt, das auf den Führungen keine Rolle spielt, aber doch in seiner pedantischen Sorgfalt und Kryptik sehr gut wiedergibt, wie Hans-Dieter Schmidt mit den Objekten seiner Sammlung verwoben ist. Es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Karteikasten gefüllt mit bunten Pappkärtchen. Auf denen ist jedes Objekt der Sammlung aufgeführt und der Weg, den es in die Sammlung genommen hat, notiert. Auch der Preis. Meist handelt es sich um Tauschgeschäfte. Und oft ging kein Geld, sondern Naturalien über den Tisch – „Bodenseewährung“ etwa war sehr beliebt (Wein, indiziert durch eine variable Anzahl kleiner Flaschen am rechten oberen Kärtchenrand). Ich glaube, Hans-Dieter könnte nur mittels dieser Kärtchen die Sammlung vollständig in seinem Geiste entstehen lassen, auch wenn sie selbst nicht mehr zugänglich wäre. Da wird dann klar, dass es eines ganzen Doppelkabinen-Kombis als Tauschobjekt bedurfte, um an dieses weltweit extrem seltene Fernmeldehäuschen aus den 1930er Jahren im Rot, das die Post in den 12 Jahren der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland trug, zu kommen. Es hatte 30 Jahre lang am Königsbau gestanden und war, als Schmidt es entdeckte, in ein Bienenhäuschen in einem Vorgarten umgewandelt worden.

Telefonapparat fürs Dorf zunächst, dann im Dienst der Roten Armee und schließlich als Theaterrequisit

Oder es gibt dieses merkwürdige Exemplar eines wilhelminischen Beamtenapparats, eines sogenannten OB 05 (Ortsbatterie 1905). Der stand in einem Laden in Thüringen. Via Ebay ist Schmidt auf dieses Objekt gestoßen. Es verfügt über einen Hörer aus Bakelit, nicht original, sondern später drangebaut. Seine Fußleistchen sind ersetzt und brüchig. Innen ist er äußerst gut erhalten. Er hat bis in die 1970er Jahre in der DDR seinen Dienst getan – als Telefonapparat fürs Dorf zunächst, dann im Dienst der Roten Armee und schließlich als Theaterrequisit. Der Sendung des Apparats liegt eine ausführliche Beschreibung seiner Geschichte bei, voller Rechtschreibfehler und grammatikalischer Eigenwilligkeiten. Hans-Dieter Schmidt bewahrt den Apparat mit dem Brief zusammen auf. Sie gehören für ihn untrennbar zusammen: ohne den Brief ist der Apparat bestenfalls halb so viel wert.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Tobias Baader, André Beckersjürgen, Michael Schrodt