Schicksale, die ans Licht der Öffentlichkeit kommen müssen
Ein Buch, das lange auf sich warten ließ: „Das Ende. Eine Spurensuche im Hegau, am Bodensee, in Vorarlberg“ von Elmar Wiedeking schließt eine von Lokalhistorikern lange übersehene Lücke – die letzten Wochen des letzten Weltkrieges mit ihren verschwiegenen Morden, ihren verbrecherischen Durchhalteparolen und ihrem Duckmäusertum, das vielerorts bis heute anhält. Dieses Buch will aufrütteln – darunter auch jene Geschichtswerkstätten und Museumsvereine, die noch immer die gute, alte Zeit besingen
April 1945: Französische Truppen rücken in Richtung Schweizer Grenze, Bodensee und Ulm vor; innerhalb weniger Tage werden Freudenstadt, Rottweil und Schwenningen eingenommen; deutsche Einheiten fliehen am Bodensee entlang in Richtung „Alpenfestung“; Waffen-SS, Volkssturm und Kindersoldaten, aber auch französische Soldaten marodieren in fast jedem Bodensee-Ort, morden, plündern, foltern. Die letzten Apriltage 1945 waren blutige Tage im bis dahin von Kriegsgräueln verschonten Markelfingen oder Allensbach, Singen, Stockach oder Sipplingen – auf den Friedhöfen finden sich noch heute Gräber gehängter Widerständler, gemeuchelter Zwangsarbeiter, in den Tod getriebener Jugendlicher.
140 dieser Opfer hat Elmar Wiedeking namentlich ausfindig gemacht – ihre Namen finden sich am Ende seines 440-Seiten-Buches. Wie auch Namen und Fotos mutiger Zeitzeugen, die den Hobbyhistoriker bei seinen Recherchen unterstützten. Denn Elmar Wiedeking, der Jahrzehnte im Überlinger Bodenseewerk als Chemiker arbeitete und ebenso lang in Sipplingen wohnt, „wunderte sich schon immer über die vielen Gräber mit ausländischen Namen und von jungen Deutschen gerade in den letzten zehn Apriltagen 1945“.
Andere wunderten sich weniger. In zahlreichen Veröffentlichungen örtlicher Museumsvereine und Geschichtswerkstätten finden sich höchst selten und dann nur rare Hinweise auf diese Zeit und ihre Opfer. Zum Beispiel entdeckt der Leser im 2011 erschienenen „Meersburg unterm Hakenkreuz“ nur in wenigen Zeilen einen Hinweis auf die Bootsladungen voller SS-Männer, die aus den Napola-Schulen Rottweil und Reichenau sowie aus der SS-Schule Radolfzell und dem Wehrertüchtigungslager Konstanz-Egg über den See flohen, auf ihrem Weg ins Allgäu tagelang Station auch in Meersburg machten und dort ähnliche Spuren wie anderswo am Bodensee hinterließen.
Freitag, 4. Oktober, 19 Uhr: Vortrag in Sipplingen, Hotel Krone am See
Montag, 14. 10: Vortrag in Stockach, Kulturzentrum Altes Forstamt
Wie zum Beispiel in Münstertal, wo die SS-Unterführer Perner und Wauer den Pfarrer Willibald Stromeyer am 22. April 1945 ermordeten, oder – zwei Tage später – in Singen die Waffen-SS den stellvertretenden Bürgermeister Karl Bäder an einem Laternenpfahl aufhängte, weil der die Stadt kampflos übergeben wollte, oder in Wahlwies vier Volkssturmmänner erschossen wurden, weil die sich unsinnigen Befehlen der SS widersetzten. Auch über die Kindersoldaten, die bei Allensbach und Markelfingen sinnlos ins Feuer der anrückenden Franzosen gehetzt wurden, erfährt man erstmals in Wiedekings neuem Buch.
Die Karriere des Dr. Groß
Verantwortlich für die meisten dieser Verbrechen war die Kampfgruppe Groß. Dr. Kurt Groß war stellvertretender Kommandeur der SS-Unterführerschule Radolfzell und hatte den Auftrag, die SS-Schüler in die vermeintliche Auffangstellung einer „Alpenfestung“ zu führen. Groß, der bereits 1944 für den Lynchmord an zwei abgesprungenen amerikanischen Fliegersoldaten bei Wangen am Untersee verantwortlich war, sorgte auch für den Mord an den Wahlwieser Volkssturmmännern – wegen dieser Gewalttat ermittelte 1950 die Staatsanwaltschaft Konstanz gegen Groß, stellte das Verfahren jedoch 1951 ein.
Der Lynchmord an den US-Kriegsgefangenen hingegen wurde geahndet: 1947 wurde Groß vom US-Militärgerichtshof in Dachau zu lebenslanger Haft verurteilt, kam jedoch wenige Jahre später wieder frei und arbeitete von 1955 bis zu seiner Pensionierung 1977 als Geschäftsführer der noch heute in Deutschland führenden Kienbaum-Beratungsfirma. Deren Gründer, Gerhard Kienbaum, bezeichnete noch zu seiner Zeit als NRW-Wirtschaftsminister das Groß-Urteil als „Fehlurteil“.
Eine längst überfällige Dokumentation
Viele Beispiele solcher Untaten zeichnet Wiedeking in seinem Geschichtsbuch nach – ungemein fleißig recherchiert und ungewöhnlich beharrlich in Wort und Bild dokumentiert (261 aktuelle wie historische Aufnahmen bereichern das 440-Seiten-Werk). Und beleuchtet damit eine weitgehend unbekannte Vergangenheit dieser Region. Was längst überfällig war, denn diese Schicksale brauchen endlich das Licht der Öffentlichkeit.
Was macht es da, dass dieses Buch ein professionelles Lektorat verdient hätte, ein Defizit, das es mit vielen im Eigenverlag heraus gegebener Büchern teilt? Und so sieht man über manche Interpunktions- oder Artikulierungsschwäche, auch über ungekürzte Zitate hinweg und stört sich sogar an Wiederholungen nicht. Entscheidend bleibt der vom Autoren selbst formulierte Auftrag: „Unter den Kreuzen und Steinen auf unseren Friedhöfen liegen Menschen, die es wert sind, dass über ihr Leben und Sterben nachgeforscht wird“.
Autor: hpk
Elmar Wiedeking hat Schlaglichter auf die Akteure von damals geworfen. Der Abmarsch der Leute der Radolfzeller SS-Kaserne war so kompakt noch nie dargestellt, die Dramatik in Ludwigshafen vor allem ist bisher wohl auch mit der Decke des Schweigens verhüllt worden. Der Schutz irgendwelcher Familien ist zu lange als generelles Argument für lokales Schweigen der etablierten „Heimatforscher“ genutzt worden. Da hat Wiedeking durch seine Akribie Mauern des Schweigens eingerissen.