Schweizer sollen über Mindestlohn abstimmen
In der Schweiz soll ein gesetzlicher Mindestlohn von 4000 Franken gelten und den Skandal der unhaltbaren Tieflöhne beseitigen. Für deutsche Leser eine geradezu horrende Forderung. Und auch die Möglichkeit, per Volksabstimmung einen Mindestlohn durchzusetzen, bleibt deutschen Gewerkschaften verwehrt. Gewerkschaften in der Schweiz hingegen sammeln jetzt Unterschriften für eine nationale Volksinitiative.
Letzte Woche sperrten AktivistInnen der Gewerkschaft Unia an verschiedenen Orten symbolisch Tieflohnzonen ab. Der Protest galt Geschäften und Firmen, die durch besonders üble Tieflöhne auffallen. Zum Beispiel die Modeboutique von Tally Wejil in Olten, das Friseurgeschäft von Orinad in Winterthur oder das Schuhgeschäft Reno im Einkaufszentrum Manor in St.Gallen. In allen diesen Geschäften verdienen gelernte Fachkräfte Stundenlöhne von 15 und 16 Franken. „Wer soll davon in der teuren Schweiz leben können?“, fragt Vania Alleva, Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Unia.
Miese Löhne gibt es aber auch in der Industrie, zum Beispiel beim Kaffeemaschinenhersteller Eugster-Frismag im thurgauischen Amriswil. Dort werden Arbeiterinnen aus dem Kosovo mit einem Stundenlohn von Fr. 16.50 abgefertigt. „Die Firma haben wir schon lange im Auge“, sagt Unia-Sekretär Erich Kramer. Der Familienbetrieb scheut die Öffentlichkeit, beschäftigt aber 1300 Mitarbeiter allein in der Schweiz sowie weitere 500 in Portugal. Unter anderem kommen alle Nespresso-Maschinen aus Amriswil.
Mindestlohn-Debatte seit 1999
Seit zwanzig Jahren wächst der Druck auf die Löhne, „vor allem auf die tiefen und mittleren, während sie oben explodieren“, wie Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner sagt. Mit der Kampagne „Kein Lohn unter 3000 Franken“, die 1999 gestartet wurde, konnten zwar markanteVerbesserungen erreicht werden. So stieg der Mindestlohn im Gastgewerbe seither um 44 Prozent. Das Problem liegt aber in jenen Branchen, wo keine Gesamtarbeitsverträge – vergleichbar den Tarifverträgen in Deutschland – das Lohndumping verhindern. Dazu gehören der Einzelhandel, Reinigung, Landwirtschaft, Textilindustrie, Call-Center oder persönliche Dienstleistungen wie Friseur- oder Kosmetikgewerbe.
Lausige Löhne gibt es aber auch in Berufen, wo man sie nicht unbedingt erwarten würde, etwa bei IT-DienstleisterInnen oder PharmaassistentInnen. Berechnungen des Schweizer Gewerkschaftsbundes (SGB) ergaben, dass rund 300 000 Frauen und 100 000 Männer zu Tieflöhnen arbeiten müssen, von denen sie nicht leben können. „Das ist fast jeder zehnte Arbeitnehmer in der Schweiz“, so Vania Alleva.
Die Lösung sieht der SGB in einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Er soll 22 Franken pro Stunde oder 3800 bis 4000 Franken pro Monat betragen (je nach Berechnung auf 40 oder 42 Stunden pro Woche bei 13 Monatslöhnen). Nur so könne der Lohndruck aufgefangen und die Fehlentwicklung in der Lohnpolitik korrigiert werden, sagt Rechsteiner.
Mehr Arbeitsplätze, mehr Einkommen
Rund 11 Prozent aller Löhne müssten per Gesetz angehoben werden. Während Bürgerliche solche verordneten Mindestlöhne mit dem Argument bekämpfen, sie würden zu mehr Arbeitslosen führen, betont SGB-Chefökonom Daniel Lampart das Gegenteil: „Sie ermöglichen Betroffenen, einen Zweitjob aufzugeben, und führen insgesamt zu einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung“. Lampart verweist auf die jüngste Forschung. Sie zeige, dass Mindestlöhne zu höheren Gehältern und mehr Beschäftigung führen, da marktmächtige Firmen die Löhne nicht mehr unbegrenzt drücken können. Lampart verweist auch auf positive Konsumeffekte für die Wirtschaft.
In Europa sind Mindestlohnregelungen weit verbreitet. Dreiviertel der Länder kennen eine gesetzliche untere Lohngrenze. Der bekannteste ist der SMIC in Frankreich. Er sichert rund 14 Prozent der französischen Beschäftigten ein anständiges Einkommen. Auch bürgerliche Regierungen in Paris haben den SMIC regelmäßig erhöht und damit die Kaufkraft der unteren Einkommen gesichert.
Die SGB-Initiative wird auf den Widerstand der Wirtschaft stoßen. Das zeigte sich in den Kantonen Tessin, Waadt, Genf und Wallis. Dort haben Linksgruppierungen bereits Initiativen für einen kantonalen Mindestlohn eingereicht und damit Kontroversen ausgelöst.
Autor: Ralph Hug