seemoz-Beitrag zur Konzilfeier: Kisch, Hus und Konstanz
Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter, war schon in der Zeit vor Jumbo-Jet und Internet allgegenwärtig. Man traf ihn im Obdachlosenasyl wie im Staatsarchiv, er bereiste die junge Sowjetunion mit ebenso wachen Augen wie das vermeintliche Paradies Amerika. Nach Konstanz kam er auf den Spuren von Jan Hus, und er wäre nicht Kisch, hätte er nicht kurzerhand an der nächsten Haustür geklingelt, weil er’s ganz genau wissen wollte
…und gedacht als Seemoz-Beitrag zu den Konzilfeierlichkeiten. Immerhin kommt diese Ausgrabung aus dem Werk des Egon Erwin Kisch (s. Foto), Vorbild ganzer Journalisten-Generationen und Namensgeber des deutschen Journalisten-Preises, einer kleinen Sensation gleich. Denn wer wusste schon, dass der rasende Reporter nicht nur aus China und ganz Europa, aus Mexiko und Australien berichtet hat, sondern auch aus Konstanz? Sein Bericht:
IM LETZTEN KERKER DES MAGISTERS
Nichts liest man in den Chroniken von den Konstanzer Martern des Magisters Johannes Hus mit so nachhaltender Anteilnahme wie die Schilderung seiner letzten Haft. Die Qualen, die er im Turm des Dominikanerklosters auf der Rheininsel und in der Feste Gottlieben erlitten, Schmach und Schmerz seiner Festschmiedung an das kalte Gestein, die Nähe der Kloake, die Dunkelheit seiner Kerkerzelle, sein Leiden an Nieren- oder Gallensteinen, das durch die Klistiere eher erhöht als gemildert wurde – das alles bleibt hinter der grenzenlos schlauen Heimtücke zurück, mit der man ihn in den ersten Junitagen des Jahres 1415 zur Verfügung des Konzils hielt, id est für die Verhandlungen ungeeignet zu machen versuchte.
Bei diesen Verhandlungen im Refektorium des Franziskanerklosters standen Hunderte von Anklägern gegen den einen, Kaiser, Päpste, Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe, infulierte Äbte und Dompröpste gegen den schlichten Magister; sobald er etwas auf die Anschuldigungen zu erwidern wagte, „stürzte die ganze Menge mit Geschrei auf ihn ein, er hatte sich nach allen Seiten, nach rechts und links, nach vorne und hinten zu wehren“. Andere meckerten ihr Hohngelächter, um seine Verteidigung unhörbar zu machen. Schwieg er achselzuckend, weil in diesem Höllenkonzert seine Stimme doch verhallen mußte, so jubelten alle: „Siehst du, jetzt mußt du schweigen, weil du nichts zu entgegnen weißt!“
Während am Abend die hohen Herren in Kaleschen in ihre Absteigequartiere fuhren, um sich an gastronomischer Tafel und in weichen Daunenbetten für die morgigen Plädoyers zu stärken, wurde der kranke Magister – seit beinahe sieben Monaten hatte er nur Kerkerluft geatmet und das Tageslicht durch den eisernen Filter gesehen – keineswegs in die Kasematten des Schlosses Gottlieben zurückgeführt (wo inzwischen der Mann saß, der im Vorjahre den Hus verhaften, aber nun der entlarvte Betrüger Balthasar Cossa und nicht mehr infallibler Papst war), sondern man schleppte ihn durch finstere Treppengänge in das Verlies des Hauses.
Nichts war mehr hell an dem Märtyrer Hus, und am nächsten Tage sollte er gegen die Welt der Mächtigen und Neunmalweisen die Wahrheit behaupten. Nichts war heil an ihm als der Kopf, mit dem er denken, und der Mund, mit dem er das Gedachte aussprechen konnte. Doch da geschah es, eben im Kerker der barfüßigen Franziskaner, daß ihn in der Nacht vor dem letzten Verhör (8. Juni) auch der Kopf verließ und der Mund. Schwindelanfälle packten ihn, er konnte kein Auge schließen, und die Wachsoldaten geben an, er habe gestöhnt vor Kopfweh, Fieberschauern und Zahnschmerzen. („Nam et noctem praeteritam dolore dentium totam insomnem duxera“, sagt der Bericht über den letzten Tag des Prozesses.)
Was mag er gelitten haben, als er den Zahnschmerz fühlte? Solange hatte er auf Hunderte von inquisitorischen Fragen zu antworten vermocht mit einer lauten Stimme, die das einzige war, was ihm in dem Wolfsgeheul der öffentlichen Verhandlung die Möglichkeit gegeben, sich Gehör zu verschaffen. Und nun verschloß ihm der Himmel, dessen Sache er zu vertreten meinte, den Mund durch die Schikanen eines Zahnes, durch Anschwellen der Backe, durch einen rasenden, in den Kopf dringenden Schmerz! Es konnte nicht Zufall sein: diese banale Krankheit tauchte auf unmittelbar vor der letzten Gelegenheit zum Widerruf, zur Abschwörung, so heftig, daß Johannes fürchten mußte, er werde am nächsten Tag nicht mehr die Kraft haben, dem Kreuzverhör zu begegnen! Wollte also Gott mit dieser Heimsuchung das Zeichen zur Unterwerfung geben?
Vom Zahnschmerz gefoltert, rief Johannes Hus die Instanz an, die entscheiden sollte. Und als sich am Morgen die Sonne aus dem Stadtgraben erhob, wußte er, was er zu tun habe, Er stand den Kirchenfürsten Rede, solange es sein Körper vermochte, dann wurde er leichenblaß und taumelte.
Der Bischof von Riga and die Hellebardiere trugen den offensichtlich von Gott gestraften Erzketzer in das unterirdische Mauerloch zurück, das er nicht mehr verließ bis zum Autodafé, Dieser letzte und schauerlichste Kerker des verbrannten Magisters ist in Konstanz nicht leicht zu finden.
Während selbst Neubauten, die an der Stelle bedeutsamer Hauser aufgeführt wurden, als historische Stätten markiert sind (so zum Beispiel weist das moderne Wohnhaus Obere Laube, Nr. 19, eine tschechisch-deutsche Gedenktafel für Hieronymus von Prag auf), ist der Gefängnisturm des Franziskanerklosters nicht gekennzeichnet. Weder Reiseführer noch Hotelportier wissen, daß es ein Franziskanerkloster in Konstanz gibt. Nur für den Besitzer alter Stadtchroniken ist der Gebäudekomplex, der freilich längst teils „Gewerbeschule“, teils „Knabenschule“ heißt und renoviert ist, mitsamt dem Turmvorbau zu erforschen. Der Haupteingang in das Volksschulgebäude liegt am Stephansplatz (Nr. 27), die hintere Front hat die Bezeichnung „Untere Laube, Nr. 12″. Hier war früher die Stadtmauer, und keine Pforte führte von dieser Seite in das Kloster. Knapp bevor die Klosterfront zu Ende ist, springt der massive Turm quadratisch vor, so daß nördlich von ihm nur ein etwa vier Meter breiter Fassadenteil des Hauses übrig bleibt, der von der Straße aus gleichfalls turmartig wirkt. Links vom Turm ist ein öffentliches Pissoir, der Eingang zum Turm geht an zwei gleichfalls öffentlichen Klosetten vorbei: Dienstag und Freitag ist hier Wochenmarkt, Verkäufern und Kutschern dient diese dreifache Fürsorge. Ferner ist im Schulgebäude das Volksbad, dessen Heizraum schon im Bereich des Turmvorbaus liegt. Er ist zweistöckig, doch sind wohl beide Stockwerke erst später aufgeführt, worauf eine Inschrift über dem Fenster im ersten Stock (1692?) hinweist. Das gewaltige Klostergebäude hat noch im vorigen Jahrhundert als Kaserne und der Turm – traditionsgetreu – als Arrest gedient. Zur Zeit des Konzils waren die Gefangenen ebenerdig untergebracht, über ihnen befand sich nur das Dach und dort, wo sich die aus zwei Meter breiten Quadersteinen bestehende Mauer lukenartig verjüngt, ein unerreichbares Fenster. In dem heute als Waschküche eingerichteten Raum sieht man auch die ungeschickte Arbeit des nachträglich eingefügten Plafonds; in der angrenzenden Rumpelkammer, die von der Renovierung verschont wurde, überrieselt einen der Gedanke unheimlich, daß hier ein Mensch auf den Steinfliesen lag; der schauerlichste aller Kerker war der des Magisters Johannes Hus, der freilich gefährlicher war als ein gewöhnlicher Ketzer; ein Rebell, ein Kämpfer für das Volk, mit Recht unter die Vorläufer des Sozialismus eingereiht.
Frau Adelsegg, die Schuldienersgattin, bewohnt den Turm, und da man ihr erklärt, was man zu sehen wünscht, schlägt sie die Hände zusammen: ,,Also ist es doch wahr, was der Vater immer gesagt hat!“ Und beim Gitterfenster sitzt der Vater, ein Herr Anslinger, mit grauem Backenbart, achtundsiebzig Jahre alt. Er ist hier selbst Schuldiener gewesen und lebt in der alten Dienstwohnung beim Schwiegersohn im Ruhestand, „Wie ich eingezogen bin, als ganz junger Mensch, hat mir der Herr Rektor gesagt: ,Das ist eine geheiligte Stätte, wo Sie jetzt wohnen werden, das war der letzte Kerker von dem böhmischen Reformator Johannes Hus.’“ „Wir haben es aber nicht geglaubt“, wirft die Tochter ein. „Ja, war denn nie jemand da, um den Turm zu besichtigen?“ — „Ich wohne schon vierzig Jahre hier, und noch niemand ist gekommen. Sie sind der erste.“ Der Alte ist ganz stolz, weil sich noch zu seinen Lebzeiten herausstellt, er habe nicht geflunkert, und der Gast aus einem alten Werk über das Konstanzer Konzil nachweisen kann, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Herr Anslinger fängt zu erzählen an, wie man vor vielen, vielen Jahren den Riesenstein aus Hegne gebracht hat, um ihn in der Konstanzer Brühl aufzustellen, wo Hus und Hieronymus verbrannt wurden. „Acht Pferde haben den Wagen mit dem Stein gezogen, und trotzdem sind in der Kanzleistraße zwei Pferde gestürzt und eines hat sich den Fuß gebrochen, ich war selbst dabei. Die Leute haben geschrien: ,Das ist ein Zeichen Gottes! Weil sie dem tschechischen Ketzer ein Denkmal errichten wollen!‘ Alle Fuhrleute haben ihre Pferde ausgespannt, und man hat den Stein mit Ochsen hinausfahren müssen, das habe ich mit eigenen Augen gesehen …“
Sancta Simplicitasl Hier an dieser Stelle hat Johannes Hus, weil sein Gewissen es ihm befahl, einem stärkeren Memento, offenkundig einem Wink Gottes, getrotzt: dem Zahnschmerz.
EEK, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. II/2, Prager Pitaval. Späte Reportagen, 2. Auflage Berlin/Weimar 1975, S. 45-49
Dieser Text erschien erstmals 1931 in Kischs Buch „Prager Pitaval. Historische Kriminalfälle aus Böhmen“, das ebenso wie seine anderen Werke in Deutschland 1933 verbrannt wurde. Eine frühere Version dieses Textes (ohne die Erwähnung seines Besuches in Konstanz) veröffentlichte die Zeitschrift „Der Rote Helfer“ im Juni 1928 unter dem Titel „Wie man Johannes Hus marterte und verbrannte“. Der Zeitpunkt von Kischs Abstecher in die Konzilstadt lässt sich nur vermuten, er könnte irgendwann in den Jahren zwischen 1928 und 1931 stattgefunden haben.
Kisch erwähnt den Hussenstein übrigens ein weiteres Mal, als er – ebenfalls im „Prager Pitaval“ – über das Denkmal für Johann Amos Comenius (eigentlich Komensky) im niederländischen Naarden schreibt: „Auf dem Rangierungsplatz der Festung, zwischen dem pseudogotisch geschmückten Utrechter Tor und der Pionierkaserne, exerzieren Soldaten in Gruppen, ein Zug übt Öffnen in ein Glied, ein zweiter Schwenkungen, ein dritter macht Gewehranschläge, Ziel: die Spitze des Monuments. Das Monument ist dem Hus-Denkmal in Konstanz ähnlich, ein Hügel, den eine dichte Lage Efeu überwächst, nur vorne und hinten je eine Tafel freilassend.“
Alle, die es ganz genau wissen wollen, finden eine zeitgenössische Ansicht besagten Comenius-Monuments in Naarden hier: http://www.inoudeansichten.nl/ansichten/sasburg/p110177-naarden-comenius-monument-1902.html
Ulrich Richental überliefert den Ausruf „O sancta simplicitas“ nicht. Vielmehr will er, Richental, Hus selbst gefragt haben, ob er, Hus, denn beichten wolle, es stünde ihm ein vom Konzil und Bistum authorisierter Priester zur Verfügung. Darauf Hus: „Es ist nit not, ich bin kein todsünder nit!“ Worauf er angefangen habe, auf deutsch zu predigen, was der Verbrennungsbeauftragte Herzog Ludwig von Bayern schnell unterband, indem er den Scheiterhaufen anzünden ließ. Hus habe „(ge)schryen fast übel“ und sei „bald verbrunnen“.
(Wegen der Hitzeeinwirkung soll sich, so Richental, an der Brandstätte der Boden geöffnet haben. Da an der Stelle wohl wenige Tage vorher ein verendetes „rossmul“ (Maulesel) vergraben worden war, war der Boden locker, und heraus kam ein fürchterlicher Verwesungsgestank.)
Ein Hinweis darauf, dass Kisch nicht einfach einen „Bericht“ gibt (das ist ja keine historisch geprüfte Dokumentation der Abläufe), sondern eine gut erzählte Geschichte bietet, die entsprechend ausgeschmückt ist und auch ein paar Fehler enthält, wäre vielleicht nicht schlecht gewesen.
Kisch schreibt z.B. in einer anderen Version des Textes: „Kaum war Hus, der ursprünglich tschechisch nationalistisch, sich auf seiner Wanderung zum Konzil von der gutmütigen Wesensart vieler Deutscher überzeugte und nunmehr zum Internationalismus hinneigte, in Konstanz
angekommen,als er von Schergen ausgehoben und in den Turm des Dominikanerklosters auf der Rheininsel geworfen wurde.“
Da muss man doch schon etwas schmunzeln: „nationalistisch“, Internationalismus“ – das sind natürlich Vokabeln, die in den 1920er Jahren hochaktuell waren, aber bezogen auf Hus ziemlich deplatziert sind. Hier wirkt die Rezeption des 19. Jahrhunderts nach, was man der auf seemoz veröffentlichten Version auch noch anmerkt. Das macht die Texte von Kisch nicht weniger lesenswert, aber man sollte nicht vergessen, dass Kisch eben auch ein Kind seiner Zeit war und dass seine Texte über Hus nicht einfach als „Bericht“ über das Geschehen verstanden werden können.
Der Ausruf „Sancta Simplicitas“ wird in der einen Version Hus selbst in den Mund gelegt. Angeblich sprach er diese Worte (und habe dabei „milde gelächelt“), als ein altes Weib ein Reisigbündel Herbeigeschleppt hat, um auch noch etwas zu seiner Hinrichtung beizutragen. In der anderen, bei seemoz veröffentlichten Version ist das Zitat wohl als Stimme des Erzählers zu verstehen, angesichts der Geschichte vom Transport des Hussensteins und der abergläubischen Reaktion der Bevölkerung. Ob das nun überhaupt gesagt wurde, ist ja letztlich egal, nur: Ein zuverlässiger „Bericht“ ist das eben nicht, wie es das Lob auf den Journalisten im seemoz-Vorspann erwarten lässt.
Davon abgesehen: Ich freue mich immer über Ausgrabungsfunde!
Viele Grüße
David Bruder