Sein oder Steindesign?
Der Konstanzer Gemeinderat macht einen Ausflug: Am 22. März werden die Räte nach Basel kutschiert, um dort das Pflaster am Münster in Augenschein zu nehmen. Eine Klassenfahrt, die man sich nach Ansicht des Konstanzer Stadtseniorenrates auch sparen könnte. Aber womöglich wird die Spritztour der Volksvertreter ja noch verlängert – nach Bern, wo auch Natursteine verlegt wurden. Oder ins Elsass, um dort Klostergärten zu besichtigen. Solche Ausflüge können wahrlich lehrreich sein
Der Trip nach Basel ist Teil der Verzögerungstaktik von Baubürgermeister Werner. Wieder einmal wurde auf der letzten Gemeinderatssitzung am 28. 2. (seemoz berichtete) die Abstimmung über eine auch für mobilitätseingeschränkte Mitmenschen begehbare Umgestaltung des Münsterplatzes verschoben, weil Bürgermeister Kurt Werner eine neue Lösung aus dem Hut zog, die der von Behinderten geforderten Sandstein-Querung ebenbürtig, aber vor allem billiger sein soll. Das wolle man besichtigen, befand der Gemeinderat (GR) mehrheitlich und beschloss die Klassenfahrt auf Steuerzahlers Kosten.
Der Stadtseniorenrat protestiert in einem Schreiben an den Oberbürgermeister und die Gemeinderatsmitglieder gegen solche Hinhalte-Politik. Und nicht zufällig wird Bürgermeister Kurt Werner, der Bäume und anderes Grünzeug gar nicht, Natursteine aber über alles mag (siehe die ursprüngliche Planung des Konzilvorfeldes), zur Zielscheibe der Kritik: „Wann endlich wird beim Baudezernat respektiert, dass die barrierefreie Nutzbarkeit des Münsterplatzes für mobilitätseingeschränkte Menschen vorrangig sein muss“, fragen die Vorsitzenden des Stadtseniorenrates. Sein oder Steindesign, das ist hier die Frage.
Aber vielleicht hat die GR-Spritztour ja auch Gutes: Man könnte einen Abstecher ins Elsass machen, dort Klostergärten (ohne Natursteine) begutachten und mit Vorschlägen für das Konstanzer Konziljubiläum 14-18 zurückkommen, dabei Münsterdekan Mathias Trennert-Helwig zur Einkehr bewegen und der geplanten Sause ein echtes Highlight bescheren. Indem man die Münstergärten öffentlich zugänglich macht und dort einen mittelalterlichen Kräutergarten anlegt.
Im Ernst: Wir dokumentieren das Stadtseniorenrats-Schreiben im Wortlaut; übrigens: Der Ausdruck „Massakrieren“ in diesem Zusammenhang stammt von Baubürgermeister Kurt Werner.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit wiederholten Verzögerungen kann man den berechtigten Anliegen der Menschen mit Mobilitäts- und Sehkrafteinschränkungen entgegenwirken und so einen mittelalterlichen Kopfsteinbelag noch länger diesen Menschen zumuten. Damit wird diesen betroffenen Menschen signalisiert, dass ihre berechtigten Anliegen hinter dem Steindesign zurücktreten müssen. Das ist nicht hinnehmbar.
Der Anspruch auf Barrierefreiheit für die genannten Menschen auf dem Münsterplatz ist verbindlich geregelt im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen; eine Rechtsgrundlage für das von wenigen persönlich bevorzugte Steindesign gibt es nicht. Die barrierefreie Nutzbarkeit des Münsterplatzes für mobilitätseingeschränkte Menschen muss vorrangig und vor allem vor einem Steindesign behandelt werden. Wann endlich wird beim Baudezernat dies respektiert?
Zu viele Menschen sind schon zu lange von dem derzeitigen Kopfsteinpflaster in unerträglicher Weise benachteiligt. Eine Änderung ist notwendig und zwar nicht nur an der Randzone entlang der Gebäude, sondern auch auf der Querung über den Münsterplatz. Barrierefreiheit ist nicht nur für gehbehinderte, sondern auch für sehbehinderteMenschen herzustellen; d. h. der Belag muss nicht nur stolper-, sturz- und rutschgefahrfrei sein, sondern er muss auch eine sehr deutliche optische Unterscheidung bei allen Lichtverhältnissen und Wetterlagen (z.B. Nässe) bieten. Weder gesägte noch geschliffene Kopfsteine können diese Barrierefreiheit bieten.
Dies sind für den Stadtseniorenrat die maßgeblichen Grundlagen bei der Schaffung des barrierefreien Münsterplatzes und deshalb kann nur der Einbau von Sandsteinplatten in den besagten Zonen in Frage kommen. Dafür treten der Stadtseniorenrat und alle anderen Interessenvertreter ein. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Konstanz vertreten mehrheitlich auch diese Auffassung.
Weitere Verzögerungen bei der Herstellung der Barrierefreiheit müssen im Interesse der betroffenen Menschen zu öffentlichen Gegenreaktionen führen. Der Stadtseniorenrat bittet Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister und Sie, sehr geehrte Damen und Herren des Gemeinderates eindringlich, sich für die Verwendung der Sandsteinplatten auszusprechen, damit ein jahrelanges ärgerliches Hindernis endlich beseitigt wird.
gez. D. Schmidt, gez. V. Lerch
Übrigens: Jüngst wurde gegen die Schaffung der Barrierefreiheit auf dem Münsterplatz die drastische Ausdrucksweise „massakrieren“ verwendet, gemeint war damit das Verlegen von Sandsteinplatten auf dem Münsterplatz. Massakrieren war bis ins Mittelalter hinein eine manchmal gängige, sehr brutale Tötungsart (Duden: niedermetzeln), die wir in unserem heutigen Staatswesen glücklicherweise nicht mehr befürchten müssen. Kopfsteine könnten ohnehin nicht massakriert werden, sie sind keine Lebewesen.
Und dazu noch eine aktuelle Antwort von Alexander Stiegeler, Stadtrat der Freien Wähler, die nicht kommentiert werden muss:
„Sehr geehrte Vertreter/innen des Seniorenrates,
Für Ihr engagiertes Schreiben danke ich freundlichst. Ich verhehle nicht, daß ich ein vehementer Vertreter des einmalig gestalteten Münsterplatzes bin, mit Ihrem Brief haben Sie mir keine neuen Gründe vermittelt, dieses Exemplar einer selten geglückten Platzgestaltung zu verändern.
Da ich annehmen darf, daß Sie die Basler Lösung nicht kennen, schlage ich vor, daß Sie die Sache dort in Augenschein und unter die Füße nehmen. Da ich desweiteren annehme, daß schweizerische Behinderte und Alte, die mit der Basler Lösung offenbar keine Probleme haben sollen nicht signifikant anderst eingeschränkt sind als deutsche , vermittelt sich mir hier zunehmend der Eindruck, daß es reihum nicht mehr um die Sache selbst , als um eine bedauerliche Unbeweglichkeit in übertragenem Sinne geht.
Ich darf zu meiner Person sagen, daß ich an der Pensionsgrenze stehe und damit den Interessen Ihres Verbandes näher komme, manchesmal bereits mit Krücken den Münsterplatz überqueren konnte und stark kurzsichtig bin. Wie heisst es in Konstanz so treffend und beruhigend :’s loht halt! ( d.h. : Im fortschreitenden Prozess des individuellen Alterns sind Erscheinungen des Eingeschränktseins und dessen Folgen zu akzeptierende Faktoren)
Mit besten Grüßen
Alexander Stiegeler“
Sägen und Schleifen?
Eigentlich war es ja ein schöner Entwurf mit dem die Verwaltung in die TUA-Sitzung am 5. Februar ging: der Rand des Münsterplatzes sollte in Sandstein gefasst und der Münsterplatz eine Querung aus gesägten Steinen erhalten. Eine Lösung, die beides verbindet: Barrierefreiheit auf hohem Niveau und die den Anforderungen der Ästhetik doch Rechnung trägt, indem sie für Randbereich und Kernbereich unterschiedliche Mittel der barrierefreien Erschließung wählt und so den Münsterplatz nicht zerschneidet.
Jetzt steht eine Fahrt nach Basel auf der Tagesordnung. In Basel – es erhielt ein Pflaster aus Rheinwackensteinen aus Anlass des Konzils von 1431 – kann man beides studieren: geschliffene Rheinwackensteine – das Verfahren wird dort zur Perfektion entwickelt. Basel ist aber auch die Wiege des gesägten Rheinwackensteines.
Sägen oder Schleifen? Die Antwort jenes berühmten Dänenprinzen kennen wir natürlich nicht. Aber die Freiburger waren auch in Basel gewesen und haben dem Sägen für ihren Münsterplatz den Vorzug gegeben.
„Ich finde, es rollt sich wunderbar“ heißt es dazu in der Stellungnahme der Freiburger Behindertenbeauftragten „und ich empfehle das Nachmachen“.
Bleibt noch die bedeutungsschwere Frage „Flammen“ oder „Stocken“? Ein Thema für Dänenprinzen? „Vielleicht sandstrahlen“ könnte Hamlets melancholische Antwort lauten.
Und Rotkäppchen? Sie tut die Wackensteine in den Magen des bösen Wolfes, anstatt damit den Vorgarten ihrer lieben Großmutter zu pflastern. So einfach geht das.
Conrad Schechter
Behindertenbeauftragter
der Stadt Konstanz
Ganz und gar verstiegen.
Stadtrat Stiegeler erklimmt scheinbar mühelos so manches Hindernis. Deshalb darf er zweifelfrei als ehrenamtlicher Mäzen oder gar Fallbeil des Seniorenrates einspringen. Er darf wegen seiner großen Empathie und Ortskenntnis der Borderline Schweiz/Deutschland generell grenzenlosen Optimismus verströmen. Er darf also jederzeit seine Talente dafür einsetzen, dass andere aus Lethargie und Finsternis ins Lichte der freien, mauernden Erkenntnis zu treten vermögen.