Selbstgestaltung – Corona – Slow Travel
Corona prägt derzeit nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Freizeit und nicht zuletzt unser Reiseverhalten. Viele in der Tourismus-Branche träumen zwar noch davon, dass nach Corona alles wieder genauso wird, wie es vor Corona war, aber darin könnten sie sich täuschen. Die derzeitige Situation sollte vielmehr als Gelegenheit verstanden werden, gründlich über die Zukunft des Tourismus auch in der Bodenseeregion nachzudenken und sich neu zu positionieren, meint Thomas Willauer.
Teil III
„Die Tourismuswirtschaft hat den Menschen aus den Augen verloren hat. Die Teams im Tourismus sind beschäftigt mit Digitalisierungsprozessen, Mobilitätskonzepten, Overtourism-Effekten, Big-Data-Analysen, lnnovationsstress und der Frage nach Geschäftsmodellen und Plattformen. Dabei wird versucht, Kunden und Gäste besser zu verstehen – aber eben nicht als ‚Mensch‘. Vielmehr wendet man vermehrt Herangehensweisen an, die mehr an IT-Entwicklung erinnern als an Gastwirtschaft. So werden Kunden vermessen, ihr Verhalten getrackt, in sozialen Medien nach ihren Vorlieben gesucht. Kurzum: Menschen werden zu Daten, auf die man sich bezieht und die man dann operationalisiert. Natürlich immer zum ‚Wohle des Gastes‘. Jedoch gerät hierbei ganz offensichtlich in Vergessenheit, dass Menschen Resonanzwesen sind. Resonanz bedeutet, dass wir als Menschen empfänglich sind für Impulse von außen und gleichzeitig stets wirksam bleiben in der Art und Weise, wie wir diese Impulse verarbeiten. Nur weil wir eine Bewertung im Netz sehen, heißt das nicht, dass wir buchen oder nicht. Es ist unsere eigene Entscheidung, wie weit wir uns vom Datenstrom treiben lassen.“ (Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts, Frankfurt)
Diese prägnanten Aussagen verdeutlichen, in welche Richtung der touristische Mainstream läuft. Die „Digitalisierung“ ist die neue Monstranz, die viele vor sich hertragen, obwohl auch im Tourismus die Digitalisierung in einer tiefen Krise steckt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, Fakenews, Überwachung, Desinformation, gekaufte Bewertungen, steter Wandel gerade angesagter Plattformen (Facebook out, Instagram in) etc. Wir erleben eine radikale Debatte über die Folgeschäden der sozialen Medien für Geist, Kultur und Politik. Facebook verliert in den Wohlstandsländern massenhaft Benutzer, die Selfiekultur von Instagram wird bald mehr Todesfälle zu verantworten haben als leichtsinnige Bergtouren. Eine regelrechte Volksbewegung schaltet das Smartphone immer mehr ab.
Trotzdem handelt die Propaganda des Digitalismus davon, dass unser aller Leben ständig besser wird. Wirklich? Der digitale Effizienzwahn führt in eine Sackgasse. Indem man alle Funktionen automatisiert (Begrüßungsroboter im Hotel und in der Tourist-Information) hält man sich die Gäste vom Leib. Wir verlieren den Zugang zum Menschen, weil er nur noch als Datenträger interessiert. Wie soll, wenn die Entwicklung so weitergeht, die Mund-zu-Mund-Propaganda noch funktionieren, wie soll der Gast weiterhin ein Koproduzent dessen sein, was wir für ihn und mit ihm am Bodensee gestalten, wenn die aktive Rolle des Menschlichen im technologischen Entwicklungsprozess auf der Strecke bleibt? Die Technologie alleine ist nicht emanzipativ. Mit dem Hinweis auf Big Data suggeriert man den gläsernen Touristen, den man – da er ja eigentlich ein Depp ist – an der Hand nehmen kann, um ihn zu manipulieren und zu steuern. Auch dafür gibt es ein Beratersprechwort: „Customer Journey.“ Während ungefragte Onlinewerbung immer mehr Unmut erzeugt, treibt man es im Tourismus im Rahmen von Big Data so weit, dass der gläserne Gast zur Zielmarke touristischen Handelns wird.
Die Politik steuert dieser Entwicklung nicht entgegen, im Gegenteil. Sie spricht immer noch völlig unkritisch von den Segnungen der Digitalisierung und verstärkt so den Druck, eben immer wieder eine neue „digitale Sau“ durchs Dorf zu treiben. Auch im Tourismus wurde die Macht der Internetkonzerne gestärkt. Buchungsplattformen sollten das Reisebüro ablösen und den Hotels ungeahnten Reichtum durch neue Gäste bringen. Heute ist der Katzenjammer groß. Vielfach wird die Erfahrung gemacht, dass im Hotel selbst immer weniger verdient wird, während Großkonzerne wie Booking.com an den Hotels bestens verdienen.
Coronakrise – Stunde Null für den Tourismus
Auch im Tourismus haben wir es mit dem Megatrend Individualisierung zu tun. Dieser ist Teil des wachsenden Anspruchs auf Selbstgestaltung des eigenen Urlaubsideals. Das Tempo drosseln, Qualitätserlebnisse anders wahrnehmen, wirklich genießen, statt nur Eindrücke sammeln – all das hat mit einer persönlichen Haltung und Herangehensweise zu tun. Bedingt durch das immer stärker verbreitete Gefühl, dass die Welt schneller zu werden scheint, der Alltag definitiv komplexer wird, sind die Zeiten des Resets, des Pausierens, des tiefen Durchatmens und Anhaltens umso wichtiger.
„Reisen ist und bleibt ein elementares menschliches Bedürfnis, daran wird auch die Coronakrise nichts ändern. Doch das Virus markiert eine „Stunde null“ für die Tourismusbranche. Die künftigen Herausforderungen umfassen mehr als nur eine ökonomische ReStabilisierung: Touristen fragen immer mehr intensive Reiseerlebnisse nach. Sie wollen auf Reisen „berührt“ werden und in Beziehung mit der Umgebung treten. Dies erfordert eine neue Qualität des Tourismus, der den Blick nicht bloß auf digitale Daten und Zuwachsraten, sondern auf menschliche Werte und Bedürfnisse richtet. Die Zukunft liegt in touristischen Angeboten, die Maß am Kernwert der Gastfreundschaft nehmen. Denn es geht im Tourismus letztlich um ein freundschaftliches Angebot von Lebensqualität und gelingenden Beziehungen, so Harry Gatterer.
Die kollektive Erfahrung der Coronakrise wird künftig für eine neue, bewusstere Urlaubsentscheidung sorgen – allein schon deshalb, weil Reiseoptionen in der Post-Corona-Welt zunächst noch reduziert sein werden. Es besteht sogar die Hoffnung, dass der vulgäre Massentourismus von der Bildfläche verschwindet, auch und gerade nach der Phase der Post-Shutdown-Euphorie, in der Reisende in massentouristischen Hotspots zu einem neuen Aufflammen der Corona-Infizierungen beigetragen haben.
Diese Negativerfahrungen ergeben für den Bodenseetourismus gleichzeitig Wettbewerbsvorteile. Der Bodensee muss und kann Garantien, Sicherheiten und neue Angebote für einen Urlaub bieten, der es den Menschen ermöglicht, neue Erfahrungen des Miteinanders von Gastgebern und Gästen, aber auch der Gäste untereinander zu machen. Kurze Wege, vertraute Kulturkreise bieten Sicherheit vor den Ängsten, im Ausland, auf Kreuzfahrtschiffen oder in Hotels eingesperrt zu sein. Wir können davon ausgehen, dass sich (getragen von einem wachsenden Umwelt- und Verantwortungsbewusstsein) auf den Säulen von Ökonomie, Ökologie und Ethik über die Jahre eine neue Handlungsmoral entwickelt hat bzw. weiterentwickeln wird, die mittlerweile unseren Alltag und damit auch die Haltung zu Reisen und Urlaub stark beeinflusst. Dies gilt für Gäste am Bodensee, die zur sogenannten Boomergeneration gehören, deren Erfahrungen und Teilhabe an vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen (Ökologie, Demokratie, Frauenbewegung etc.) prägend für ihren Lebensstil und ihre Haltungen war und ist. Damit ist gerade dieser Personenkreis für neue Tourismuskonzepte ansprechbar und es müsste ausprobiert werden, ob das auch für die Friday-for-Future-Generation zutrifft.
„Die quantitative Maximierung ist für Touristiker wie für Touristen eine Sackgasse. Tourismus ist an vielen Orten der Welt gar kein Glücksgarant mehr, sondern bloßer Stressfaktor. Er schadet der Umwelt, belastet Menschen vor Ort, stresst den Reisenden, überfordert die Angestellten und erhöht den Preisdruck auf Anbieter. Die touristische Wachstumsspirale dreht sich immer schneller – zu Lasten aller Beteiligten und ihrer Lebensqualität(en). Gibt es dazu Alternativen? Ja, denn Touristen fragen immer mehr intensive Reiseerlebnisse und transformative Urlaubserfahrungen nach. Sie wollen auf Reisen „berührt“ werden und in Beziehung mit der Umgebung treten. Dies erfordert eine neue Qualität des Tourismus, der den Blick nicht bloß auf digitale Daten, sondern auf menschliche Werte und Bedürfnisse richtet. Die Zukunft liegt im Resonanz-Tourismus. In touristischen Angeboten, die Maß am Kernwert ‚Gastfreundschaft‘ nehmen. Denn es geht im Tourismus letztlich um ein freundschaftliches Angebot von Lebensqualität und gelingenden Beziehungen. Um das Erlebnis menschlicher Resonanz,“ (Harry Gatterer).
Slow Travel als Gegenentwurf
„Slow Travel“ steht für die neue Art des Reisens, ist ein Gegentrend zum gerade beschriebenen Szenario. „Das, was bisher das Ideal der modernen Erlebnisgesellschaft ausgezeichnet hat, nämlich möglichst viel neuer Input, maximal gesteigerte Attraktion und immer neue Sinneseindrücke in möglichst kurzer Zeit, ist so eindimensional nicht länger gültig.“ (Anja Kirig) Die Suche nach – so abgedroschen das klingen mag – Übereinstimmung von Körper und Geist, „temporärer Heimat“ im Urlaubsgebiet als Gegenpol zu den Ansprüchen der globalisierten Welt, digitaler Entgiftung statt medial-digitaler Überforderung, aussteigen, endlich wieder man selbst sein wollen … das sind nur einige Aspekte von Slow Travel, verbunden mit einem authentischen Naturerlebnis (Berge, See, Landschaft), mit Kultur (z.B. mit künstlerischen, kulinarischen, aber auch religiösen Interessen), mit Wellness, Spa und Heilbehandlungen, die zeigen, welche Interessen heute mehr denn je im Vordergrund stehen. Es geht um eine neue Qualität des Erlebens bis hin zum temporären Off-Line-Modus.
Für eine solche Tourismuskonzeption hätte der Bodensee in seinen jeweiligen Kernmärkten, wie auch auf internationalen Märkten eine wirkliche Chance der Profilierung. Statt digitalem Herumwurschteln, die touristischen Experten stärken (und nicht durch immer neue Strukturdebatten verunsichern), statt Wachstumsfetischismus wie bisher müssen in Zukunft soziale und ökologische Kompetenzen weiterentwickelt werden, muss der Gast in den Blick genommen werden, und dies als wirklicher Partner, der im Übrigen als „Ko-Produzent“ den Tourismus mit- und weiterentwickelt.
Thomas Willauer (Bild: Kloster Schussenried, Bibliothekssaal; Christiane Würtenberger)
Quellen
Vor allem Teil III bezieht sich vielfach auf Aussagen des Frankfurter Zukunftsinstitutes um Matthias Horx. Als Quellen dienten:
– Trendstudie: Der neue Resonanztourismus, 2020.
– Anja Kirig, Tourismus nach Corona: Alles auf Resonanz, 2020.
– Christoph Kristandl, Zuversicht bedeutet, dass man sich die Zukunft auch zutraut, 2020.
– Anja Kirig, Reset auf Reisen, in Trendstudie Slow Business, 2016.
– https://www.youtube.com/watch?v=YXGFCmNX0g0
– Eigene Ausarbeitungen im Rahmen eines 25-jährigen Erfahrungshorizonts im Bodenseetourismus.