KonstanzerInnen erzählen: Familie, Fasnacht, Ängste
Während des ersten Lockdowns waren viele ältere Menschen besonders allein – abgeschnitten von ihren Familien, die sie in den Alteneinrichtungen nur sehr eingeschränkt oder gar nicht besuchen durften. Also bat Manuela Ziegler Senioren, Schreib- und Erzählaufgaben zu erledigen und ihre besondere Beziehung zu Konstanz, seinen Menschen und seiner Umgebung zu schildern. Herausgekommen sind 20 höchst unterschiedliche autobiografische Texte, die jetzt als Buch vorliegen und in einer Ausstellung präsentiert werden.
Es fällt nicht allen Menschen leicht, gegen Ende ihres Lebens Bilanz zu ziehen, und das auch noch Fremden gegenüber oder gar in der Öffentlichkeit. Daher ist es verständlich, dass einige der Befragten bzw. AutorInnen anonym bleiben wollen, und das ist ihr gutes Recht. Ebenso selbstverständlich ist, dass ein solcher Band extrem verschiedene Texte enthält: Nicht jeder Mensch hat die Gabe, einen roten Faden in sein Leben einzuweben, an dem entlang es sich auf wenigen Buchseiten skizzieren lässt, sodass es für andere Menschen plastisch wird. Und natürlich gehören auch immer wieder Allgemeinplätze ins Repertoire – welcher mehr oder weniger Alteingesessene wird nicht zuerst an den Bodensee, das Hörnle, die Sonnenuntergänge, die Mainau oder die Fasnacht denken, wenn er oder sie über Konstanz spricht?
Die Liebe
Ebenso selbstverständlich ist es wohl, dass gerade in sehr hohem Alter bereits viele Kümmernisse, Ärger mit Nachbarn, Arbeitgebern und Streitigkeiten vor Gericht vergessen sind – am Ende überwiegt die Liebe zur Familie, zu Kindern (sofern sie ihrerseits nicht gar bereits gestorben sind), Enkeln und Urenkeln oftmals alle anderen Erinnerungen. Da die Gespräche und Aufzeichnungen während des ersten Lockdowns entstanden, als Angehörige nicht in Pflegeheime und andere Einrichtungen gelassen wurden, bedrückte manche der in diesem Buch vertretenen Menschen auch die Angst, bald zu sterben, ohne ihre Liebsten noch einmal gesehen zu haben.
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Das Spektrum der in dem 138-seitigen Band vertretenen sozialen Schichten ist breit: Neben der ehemaligen Verkäuferin bei Otto Müller, der gelernten Wöchnerin und dem Marktbetreiber in Naturkost reicht die Auswahl bis zur Arbeiterin, der Putzfrau und dem Oberarzt, der stolz an seine Zeit in einer Villa nahe dem Konstanzer Krankenhaus zurückdenkt. Und manchmal blitzt neben all dem recht Alltäglichen eben doch durch, was LeserInnen fesselt: Die Erinnerung an vergangene Zeit, die teils exotisch anders waren, und mit denen die Nachgeborenen nur die gemeinsame Stadt zu verbinden scheint, etwa wenn sich Freundinnen beim „Kartoffelhock“, dem Kartoffelhändler Hock in der Niederburg nahe dem Kloster Zoffingen, trafen. Kartoffelhändler erscheinen in Zeiten der Supermärkte genauso fremd wie die altgedienten Brauereigäule, die ihren Weg von Gaststätte zu Gaststätte angeblich auch allein fanden.
Geschuftet, bis die Schwarte knackt
Es gibt allerdings einiges, das in diesem Buch praktisch keinen Raum einnimmt: Der Zweite Weltkrieg (in dem Konstanz ja nicht bombardiert wurde) und der Nationalsozialismus, obwohl zumindest die Nachwehen beider für viele der Erzählenden zu spüren gewesen sein dürften. Es gab einfach schwere Zeiten, zumindest für die einfachen Leute.
Auch das Arbeitsleben scheint nur in wenigen Erinnerungen in seiner ganzen Härte auf. So, wenn ein Arbeiter berichtet, er habe direkt nach dem Zweiten Weltkrieg mit 13 oder 14 als Lehrling bei der Seidenweberei Schwarzenbach in Wollmatingen angefangen, sei dann aber von der Mutter des besseren Verdienstes wegen zum Herosé geschickt worden: „Dort habe ich sofort als Arbeiter angefangen, täglich zwölf Stunden, einschließlich Wochenende. Man kam also am Samstagabend heim und am Sonntagmorgen um sechs ging man schon wieder arbeiten, weil die Schicht wechselte, von Nacht- auf Frühschicht.“
Beschissen wurde schon immer
Ähnlich deutlich wird die Not der auf ihren Lohn angewiesenen Menschen in der Erzählung einer Arbeiterin: „Ich habe nicht viel verdient bei Stromeyer und also eine kleine Rente. Ich könnte mit meiner Rente nicht mal eine Ein-Zimmer-Wohnung bezahlen. Der hat uns Arbeiterinnen beschissen, wo es gegangen ist, obwohl der mehrfacher Millionär war.“ Wie tief der vorauseilende Gehorsam dem Kapital gegenüber auch heute noch sitzt, zeigt die Reaktion der Herausgeberin auf diese Bemerkung, denn dies ist die einzige Stelle des gesamten Buches, an der sie sich vom Erzählten in einer Fußnote ausdrücklich distanziert: „Hier handelt es sich um eine persönliche Aussage der Autorin, nicht Haltung der Hrsg. [Herausgeberin] und Sponsoren. Die Autorin meint vermutlich Manfred Stromeyer, der zu Beginn der Fünfzigerjahre als Geschäftsführer agierte.“ Dass autobiografische Erzählungen aus oft sehr persönlichen Aussagen bestehen, liegt ja wohl in der Natur der Sache und braucht daher nicht eigens betont zu werden – außer wenn Herausgeberin Schiss hat.
Kindheit war anders
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Früher gingen die Kinder anders miteinander um, sie spielten in ganzen Horden altersübergreifend auf Straßen, Plätzen und Grünanlagen miteinander, sie kannten sich oft von Kindesbeinen an ein Leben lang aus alltäglichen persönlichen Begegnungen und nicht nur aus den sozialen Medien (die es noch nicht gab). Eine 1935 geborene Frau berichtet vom „Regierungsmäuerle“ zwischen Brückengasse, Konzilstraße und der Einmündung der Rheingasse, auf dem die älteren Kinder saßen und dem spärlichen Verkehr zusahen, während die jüngeren unten im Bärengraben herumtollten. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann kennen. Nach ihrer Heirat mit 18, also zu Beginn der fünfziger Jahre, gab es eine schwere Zeit, zusammengepfercht mit Eltern und Kindern in einer kleinen Wohnung.
Wie das Wohnen überhaupt ein wichtiges Thema ist: Ein Paar kam aus der DDR nach Konstanz, um in der Dura Strumpffabrik an der Reichenaustraße nahe dem heutigen Industriegebiet zu arbeiten. Sie wohnten zuerst zur Untermiete und bekamen dann zwei Zimmer im Flüchtlingsbau des psychiatrischen Landeskrankenhauses Reichenau. Als das Unternehmen dann 1954 Werkswohnungen errichtete, hatte das Ehepaar zum ersten Mal seit vier Jahren eine eigene Wohnung. So manch Heutigen mag das bekannt vorkommen.
Nicht alles ist Gold
Was haben diese Menschen, zumeist über achtzig oder gar neunzig, eigentlich zu kritisieren? Natürlich den viel zu dichten und viel zu lauten Verkehr, außerdem so manche Bausünden, die das Stadtbild stören, und selbstverständlich rücksichtslose Radfahrer. Überhaupt gibt es bei den hier Geborenen (im Buch sind natürlich auch Zugereiste vertreten) immer wieder Anfälle von glühendem Lokalpatriotismus: „Was mich heute stört, sind die vielen Fremden an den Wochenenden beim Einkaufen. Damals, als ich jung war, sind die Schweizer noch nicht zum Einkaufen gekommen. Ich denke, man könnte vieles besser machen in Konstanz. Aber so direkt gefragt, fällt mir nichts ein. Ich bin einigermaßen zufrieden, so wie es ist.“ – Konstanzerisch isch’s eben konstanzerischer.
Was mich an diesem Buch stört, weiß ich hingegen recht genau. Es sind die Illustrationen der Konstanzer Künstlerin Stefanie Seltner. Sie haben zwar einen Bezug zu den im Buch angesprochenen Themen, aber die Künstlerin will uns wohl mit aller Macht darauf stoßen, dass all die erzählenden SeniorInnen auch mal jung waren. Doch diese hingestrichelte, naive Welt voll kulleräugiger Menschenwesen wird der Komplexität des wirklichen Lebens, die ein Thema dieses Buches ist, nicht gerecht. Seltners Bilderwelt ist dafür deutlich zu schlicht und wirkt zudem ein wenig antiquiert (der Seehas allerdings gefällt mir allerdings ausnehmend gut) und überzuckert. Das Leben ist in Wirklichkeit ja so gar kein Honigschlecken.
Buch: Manuela Ziegler (Hrsg.), Stefanie Seltner (Illustr.), Meine Stadt und Ich. Konstanzer Senioren erzählen. Konstanz 2021, ISBN 978-3-00-067951-3; 15,90 Euro.
Ausstellung: Meine Stadt und Ich – Konstanzer Senioren erzählen. Wann: Bis 12.09.2021. Wo: Gewölbekeller im Kulturzentrum am Münster, Wessenbergstraße 43, 78462 Konstanz. Öffnungszeiten: Di-Fr 10-18 Uhr; Sa, So, Feiertag 10-17 Uhr.
Text: Harald Borges (Bild: Kulturamt Konstanz, Ausschnitt)