Singen: Sie wollen sich „eine neue Welt bauen“

Der Gemeinderat Singen stimmte dem Vertrag für den Konsumklotz „Cano“ zu. Gute zweieinhalb Stunden dauerte die eigens anberaumte öffentliche Gemeinderatssitzung zur Vorstellung und Abstimmung über den städtebaulichen Rahmenvertrag für Singens gigantisches ECE-Center. Mit 23 Ja-, drei Nein-Stimmen und einer Enthaltung billigte der Gemeinderat das Vertragswerk.

Mit überschwänglichem Eigenlob sparte Singens Stadtverwaltung wahrhaftig nicht bei der Vorstellung der überarbeiteten Bau-Pläne für das Einkaufscenter und einiger neuer bzw. neu ausgehandelter Passagen im Vertragswerk. Dazu wird seemoz noch detaillierter berichten. Heute sei nur vorweggenommen: Das Center wird noch etwas größer werden als bislang angegeben, denn dem Hamburger Investor ist es gelungen, eine Teilfläche des Gartens vom Café Hanser („dem Stachel in der Gebäudekubatur“, wie in den letztjährigen Planungen genannt) zu erwerben. Die Veränderungen in der Innenstadt werden massiv sein. Wie massiv, wollte Stadtplaner Georg Majstrak poetisch mit Zeilen aus Viktor v. Scheffels „Ekkehard“ untermauern (die minutenlang auf die Leinwand projiziert wurden):

„Laß stürzen, Herz,
was nicht mehr stehen mag
und bau dir eine neue Welt,
bau sie dir tief innen,
lustig, stolz und weit,
strömen und verrinnen
laß die alte Zeit“.

Doch ein geeignetes, zum Anlass passendes Zitat zu finden, ist manchmal Glücksache. Scheffels Zeilen aus dem Jahr 1857 beschreiben nämlich nicht einen Umbau des damaligen Dorfkerns von Singen, sondern Ekkehards innere Distanz gegenüber den Tagen seiner Jugend auf dem Hohentwiel, als er „schier den Verstand eingebüßt an einer stolzen Frau …“

Wer freut sich auf den Baubeginn?

Was uns der Stadtplaner sagen will, ginge auch ganz prosaisch: In Singen wird bald viel Altes plattgemacht, um den Wahn von einer größeren, schöneren, teureren Konsumwelt umzusetzen. Weiteres noch überschwänglicheres Lob und viele Jubelworte (hohe Regelungsdichte im Vertrag, wie toll man verhandelt habe – immer auf Augenhöhe mit ECE –, wieviel Zeit dafür investiert worden sei … usw.) der Befürworter der Mall sei seemoz-Lesern hier erspart, denn diese würden nur Zweifel nähren, ob nicht einige RätInnen ebenfalls „schier den Verstand eingebüßt“ haben bei dieser Vision einer prunkvollen Konsumwelt. Außerdem berichten bereits Singens Haus- und Hofpostillen darüber zur Genüge und freuen sich auf den Baubeginn.

Deshalb sollen an dieser Stelle die überlegten und gut begründeten Argumente von Dr. Hubertus Both, Dr. Klaus Forster (beide Freie Wähler) und Eberhard Röhm (GRÜNE), den konsequenten Kritikern dieses Mega-Projekts, festgehalten werden – vielleicht als Quelle für spätere Generationen oder künftige Stadtchronisten:

Wer sind die Opfer?

Hubertus Both betonte ausdrücklich, dass er als einzelner Gemeinderat spreche und weder die Meinung seiner Fraktion noch die seiner Wählergemeinschaft vertrete und begründete seine Ablehnung mit folgenden Worten. „In meinen Augen ist allerdings Stadtentwicklung – und deswegen heißt es wohl auch Entwicklung – ein evolutionärer Prozess. Und diesen evolutionären Prozess haben wir gewandelt in eine Revolution.“ Eine langsame sukzessive Entwicklung finde nicht statt, sondern Singen werde einen Umbruch haben, der eine Entwicklung von 10 bis 15 Jahren in kürzester Zeit zusammenraffe. … Wie immer bei Revolutionen gebe es im Endeffekt auch Opfer.

Er befürchtet, dass die Stadt weder die personellen noch die finanziellen Ressourcen habe, negative Entwicklungen abzupuffern und abzumildern. Das werde insbesondere schwer werden, weil man nicht immer die entsprechenden Eingriffsmöglichkeiten habe – so, wie diese sich die Bürger vorstellen Und auch von ihm kam ein (abgewandeltes) Zitat, passend zum Lutherjahr: „Hier sitze ich nun und kann nicht anders“ (und er fügte hinzu, dass es aber Legende sei, dass Luther diese Worte gesagt habe). „Es wäre mir sehr recht, Herr Oberbürgermeister, wenn ich mit meinen Bedenken, meinem Misstrauen Unrecht hätte, aber ich kann einfach nicht anders und werde heute ablehnen“, schloss er seine Rede.

Eine Zukunft ohne das ECE?

Auch Eberhard Röhm stellte klar, dass er nur für sich spreche und nicht für seine Fraktion. Er zitierte aus einem Schreiben des Regierungspräsidiums (RP) zum Raumordnungsverfahren für das Center: Es sei nicht die Aufgabe der Raumordnung, über den Zeitpunkt des Markteintritts eines Einzelhandelsprojekts bzw. über den aktuellen Prognosezeitpunkt hinaus alle denkbaren und künftigen Veränderungsszenarien zu überprüfen und das Vorhaben daran zu messen. Ergo: „Das RP interessiert sich nicht für die Zukunft“, so Röhm. Mit Blick auf den weltweit rasant wachsenden Online-Handel ist die Shoppingmall für ihn kein Zukunftskonzept. Er bleibt überzeugt, dass Singen ohne ein ECE eine bessere Zukunft hätte. „Es ist, als sehe man eine Lawine auf sich zurollen und überlege noch, ob man Sonnencreme auflegen wolle.“

Wer denkt in langen Zeiträumen?

Klaus Forster kritisierte, dass es bei der Diskussion um den städtebaulichen Vertrag ausschließlich um merkantile Belange gegangen sei. Unter Städtebau verstehe er aber im wörtlichen Sinne „den Bau“. Und hierbei sei für ihn mit der Überbauung der Thurgauer-Straße im Zuge der Planung das Projekt entgleist. Ein massiver Riegel sei entstanden, der die Innenstadt abgrenze und in seiner enormen Kubatur unverhältnismäßig sei. „… und es ist zu befürchten, dass die Qualität und die Urbanität der Innenstadt Schaden nimmt. Wir reden ja immer von Nachhaltigkeit und von langen Zeiträumen und die merkantilen Argumente sind relativ kurzfristig.“ Auch nachvollziehbar, zumal ECE eine Bestandsgarantie von gerade mal 15 Jahren gibt. „Ein großes, stattliches Gebäude sollte aber ein Menschenalter überstehen“, so Forster.

SPD-Rätin Monika Leible-Karcher enthielt sich, wie schon beim Aufstellungsbeschluss zum Center, schweigend ihrer Stimme. Schade, sicher hätten ihre Argumente auch so manche BürgerInnen interessiert. Aber gut möglich, dass es ihr die Sprache verschlagen hat, nach dem nicht enden wollenden Wortschwall, mit dem ihre Genossin und Fraktionsvorsitzende Regina Brütsch das fantastisch gelungene Vertragswerk gelobt hatte.

Nun folgt die Offenlage des Vorhabens. Den Stellungnahmen der Nachbarstädte sieht OB Häusler anscheinend gelassen entgegen. Gut möglich, dass er im Laufe der Verhandlungen den Eindruck gewonnen hat, dass gegen ECE niemand etwas ausrichten könne … und so alsbald der Traum vom Bau einer neuen Konsum-Welt mit ihrem Palast aus Glas, Beton und güldenen Fassaden verwirklicht werde könne.

„Komm mit mir ins Shopping-Wunderland, der Eintritt kostet den Verstand“- noch ein Zitat, Quelle unbekannt.

Fritz Murr