Singen wird fahrradfreundlicher … a weng
Es ist immer wieder erstaunlich, wie groß eigentlich nur ganz kleine Schritte hin zu einer etwas menschenfreundlicheren Stadt bejubelt werden – und welchen Krawall angeblich so umweltbesorgter Bürger*innen ein paar Meter neuer Radwege auslösen können. Die Stadt Singen jedenfalls versucht sich jetzt an etwas mehr Fahrradfreundlichkeit.
Hierzu zwei Meldungen der Stadt Singen:
Weiterer Schritt zur „Fahrradfreundlichen Innenstadt“
Seit 2014 dürfen die Radler ganztätig im Schritttempo durch die Scheffelstraße, den Gambrinus- und den Heinrich-Weber-Platz sowie durch die Enge Straße fahren. Jetzt ist die neu ausgebaute Hegaustraße und Thurgauer Straße ebenfalls ganztätig für Radfahrer freigegeben.
Diese fahrradfreundliche Maßnahme hat der Gemeinderat 2022 einstimmig beschlossen und ist seit 1. März 2023 mit der neuen Beschilderung rechtskräftig.
Wegen der hohen Fußverkehrsdichte bleibt die August-Ruf-Straße von dieser Regelung ausgeschlossen. Hier darf nach 19 Uhr und vor 10 Uhr mit dem Fahrrad gefahren werden.
Für den ganzen Bereich der Innenstadt gilt für alle Verkehrsteilnehmer die gegenseitige Rücksichtnahme. Die Fußgänger dürfen nicht gefährdet werden, und Radfahrer müssen Schrittgeschwindigkeit einhalten.
Piktogrammkette oder Schutzstreifen?
Was ist die sicherste Wegeführung für Fahrradfahrer auf der Straße – eine Piktogrammkette oder ein Schutzstreifen? Die Stadt Singen hat dazu einen Verkehrsversuch gestartet, den die Hochschule Karlsruhe und die Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen Baden-Württemberg (AGFK) wissenschaftlich begleiten.
Als Realexperiment finden sich hierfür seit kurzem auf der Hohenkrähenstraße vom Stadteingang bis zur Kreuzung Schaffhauser Straße vorübergehend in gelber Markierung ein 1,50 Meter breiter Radschutzstreifen, anschließend eine Piktogrammkette und zuletzt ein 1,85 Meter breiter Radschutzstreifen. Im Juli werden Studenten der Hochschule die Strecke mit dem Fahrrad abfahren und die Abstände messen. Innerorts ist ein Abstand von 1,50 Meter Abstand zwischen Fahrrädern und Kfz vorgeschrieben.
Auch Bürgerinnen und Bürger, die regelmäßig mit dem Rad auf der Hohenkrähenstraße unterwegs sind, können sich kurzfristig beim Mobilitätsteam Petra Jacobi (Radverkehrsbeauftragte petra.jacobi@singen.de Tel. 07731-85-351) und Axel Huber (Mobilitätsmanager mobilitaet@singen.de Tel. 07731-85-366) melden, um an der Testphase teilzunehmen. Sie erhalten dann für den Juli ein Abstandsmessgerät für ihr Fahrrad und können die Datengrundlage verbessern.
Die Stadt Singen hatte sich 2022 erfolgreich für das Modellprojekt „gÜ-Rad – Kommunale Konzepte zur Einhaltung der gesetzlichen Überholabstände zwischen Kfz und Radfahrenden“ beworben. Ziel des Projekts ist es, Maßnahmen zu identifizieren, die ausreichende Überholabstände zwischen Kfz und Fahrrädern gewährleisten. Die Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg e.V. (AGFK-BW) hat das Projekt gemeinsam mit dem Institut für Verkehr und Infrastruktur (IVI) der Hochschule Karlsruhe (HKA) ins Leben gerufen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in die endgültige Planung des Ausbaus der Hohenkrähenstraße mit einfließen.
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Der große Wurf lässt auf sich warten …
Das Fazit ist wie eigentlich immer, wenn es um eine menschen- und klimafreundlichere Mobilität geht, ernüchternd. Große Würfe sind das alles nicht, und diese Maßnahmen werden den Verkehrsmix gewiss auch nicht spürbar zugunsten des Fahrrades ändern.
Das alles sind entweder zaghafte, viel zu späte Anfänge – oder es ist reine Augenwischerei, ein Bonbon, das die Betonköpfe den Radelnden huldvollst vor die Füße werfen. Im Alltag heißt es: Keine oder zu schmale (und dazu oft noch zugeparkte) Radwege, eine einkaufs- und autogerechte Innenstadt, in der Radler*innen noch immer weitgehend Fremdkörper oder gleich ganz ausgeschlossen sind. Dafür gibt es ab und an mal einige fromme Sonntagsreden und einmal jährlich das vollmundig beworbene „Stadtradeln“ – als ob Propaganda für das Radfahren etwas bewirken könnte, solange es keine brauchbaren Radverkehrsanlagen, also baulich von den Autofahrbahnen getrennte Radwege gibt.
Das Problem ist, dass es viele Kommunen es unter dem Druck der Autolobby nicht wagen, die nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent und mit hohen Kosten autogerecht umgebauten Städte endlich für Fußgänger*innen, Radfahrer*innen und den ÖPNV umzugestalten. Denn eins ist schon lange klar: Eine grundlegende Verbesserung der Infrastruktur für RadfahrerInnen und FußgängerInnen ist nur dann möglich, wenn dafür dem motorisierten Individualverkehr inner- wie außerhalb der Städte und Gemeinden Flächen weggenommen werden. Parkplätze zu Fußwegen, Fahrbahnen zu Radwegen müsste die Devise lauten.
Wie gut das funktioniert, zeigen (und zwar seit schieren Ewigkeiten!) Kopenhagen und etliche niederländische Städte, die diesem Kleinklein der Verkehrswende-Ersatzhandlungen um Lichtjahre voraus sind – und deren Lebensqualität von ihren Bürger*innen deshalb immer wieder in den höchsten Tönen gelobt wird. Auf dem Wege zur klima- und menschengerechten Stadt genügt es einfach nicht, das x-te langwierige Forschungsprojekt mit absehbaren Ergebnissen ins Leben zu rufen – dafür braucht es ganz einfach vernünftige Radwege und Fahrradabstellanlagen, alles andere hilft nicht.
Text: MM/red, Bild: Stadt Singen
Singen ist nicht Kopenhagen, Konstanz übrigens auch nicht … der x-fach zitierte 0815-Standard-Vergleich mit Dänemarks Fahrradparadies bringt uns in der Verkehrswende vor Ort auch nicht weiter. Ebenso wenig das pauschale In-die-Pfanne-Hauen diverser Schritte von Kommunen hin zu einer Mobilitätswende, so zäh deren Umsetzung auch sein mag. Aber Singen ist auch nicht Berlin – zum Glück: denn während die neue Regierung in Berlin bei der Verkehrswende gerade die Rolle rückwärts macht und alle von der vorhergehenden Regierung initiierten Radwegprojekte auf Eis legt, hat sich in dem als „d i e Autostadt in der Region“ verschrienen Singen in Sachen Förderung und Ausbau des Radverkehrs in den letzten Jahren doch einiges getan. Als Beispiele seien nur die Einrichtung der inzwischen acht Fahrradstraßen genannt, die komfortable Park-and-Ride-Doppelstockanlage am Bahnhof und die nun dauerhafte Sperrung der Abbiegemöglichkeit Güter-/Fittingstraße für den KfZ-Verkehr und damit die Entschärfung einer für Radfahrende äußerst gefährlichen Stelle. Weitere Verbesserungen für Radfahrer- und Fußgänger:innen bzw. Maßnahmen für weniger Autoverkehr in der Stadt sind dennoch dringend notwendig. Solange aber in unserer geltenden StVO der Autoverkehr noch das Maß aller Dinge ist und eine Kommune für jede neue Radspur und jeden rückzubauenden Parkplatz zugunsten von Fahrradabstellplätzen erst den mehrfach begründeten und teuer begutachteten Nachweis erbringen muss, dass die vorgesehene Maßnahme auch wirklich notwendig und „verhältnismäßig“ ist, so lange geht es mit der vielbeschworene Mobilitätswende nur in Trippelschritten voran. Zwar könnte die jetzt vorgelegte Reform des Straßenverkehrsgesetzes den Kommunen mehr Freiraum für die umweltfreundlichere Gestaltung ihres städtischen Verkehrs verschaffen. Aber solange ein Verkehrsminister das Sagen hat, der generelle Tempobeschränkungen für eine unzulässige Einschränkung der von der STVO zugesicherten Freiheit für Auto fahrende Menschen hält, alle anderen Menschen als Underdogs zu behandeln, darf man an der breiten Umsetzung der Reform in der Praxis Zweifel haben.
Den Sinn des alljährlich stattfindenden Stadtradelns kann man hinterfragen: sich mal einige Tage aufs Rad setzen und Kilometer für die Statistik machen, ist unnütz. Aber viele, die sich daran beteiligen – u.a. auch viele Schüler:innen – radeln durchaus das ganze Jahr. Und wenn am Ende viele Kilometer zusammenkommen, kann man doch mit Berechtigung sagen: der Wille ist da, nun brauchen wir den Weg bzw. mehr Wege – und zwar überall!