Solid und handlich: Der neue Mauerläufer

Die 9. Ausgabe des literarischen Jahreshefts mit Beiträgen von neun Ostschweizer Autoren/innen ist erschienen. Lohnt sich die Lektüre? Eine Antwort von Jochen Kelter.

Mit 125 Seiten war noch keine Ausgabe des seit 2014 erscheinenden «Literarischen Jahreshefts» für die Bodenseeregion (von Südbaden, Oberschwaben und Vorarlberg bis zu den Ostschweizer Kantonen) so schmal wie die neue, neunte Ausgabe. Die letztjährige, die erste von einer neuen Redaktion herausgegebene, glich mit ihrem 300-seitigen Umfang dagegen einem unhandlich schweren Telefonbuch. Die neue sechsköpfige Redaktion, in der der Schaffhauser Autor Niels Zubler die Interessen der Schweizer Beiträger vertritt, hat zum Glück den Rückwärtsgang eingelegt.

Von den Beiträgen, die vom Gedicht über Kurzprosa, Auszüge aus längeren Manuskripten bis hin zu nicht näher definierten und Sachtexten reichen, sind häufig gefällig, aber nicht umwerfend. Von den wirklich überdurchschnittlichen und (nach Meinung des Rezensenten) herausragenden seien hier einige genannt, wobei ich aus Gründen der Kürze den Schweizer Beiträger/innen den Vorzug gebe.

Da ist zum einen der Text «Fragmente einer szenischen Hommage» an die Droste Hülshoff der im Thurgau lebenden Zsuzsanna Gahse, der historisches Wissen und Fantasie voraussetzt. Dann etwa das ironisch lakonische Gedicht «Der Stempel» von Hans Gysi oder zwei Gedichte des bekannten schwäbischen Lyrikers Walle Sayer sowie das poetische Gedicht ohne Titel des schon genannten, wenig schreibenden und publizierenden Niels Zubler oder das poetische Langgedicht «Notizen vom Rand her» der Arbonerin Ruth Erat. Hinzuweisen wäre auch auf die Prosa der in Irland lebenden Schweizerin Gabriel Alioth, den Romanauszug der als Jugendbuchautorin bekannt gewordenen Christa Ludwig oder auf den Text «Mann ohne Eigenschaften» des im Ruhrgebiet (!) lebenden Thomas Kade.

Trouvaillen sind wieder die beiden Texte von Stefan Keller. Bei ihnen handelt es sich weder um Belletristik oder Erfindungen. Es sind vielmehr wieder ans Licht gehobene historische Dokumente. Das eine fördert ein umständlich betiteltes Buch aus dem Jahr 1776 mit allerlei neuen Erfindungen und Gerätschaften zutage, das andere handelt von einem Vorfahren des Autors, der 1798 im Thurgauer Dorf Andwil die Helvetische Republik repräsentierte. Es ging um die Emanzipation der Juden. Die Gemeinde Andwil lehnte ihre Gleichstellung einstimmig ab (ob es im Dorf überhaupt Juden gab und wenn ja, wie viele, wird nicht berichtet).

Die Herausgeber haben sich bei der Gestaltung des Hefts alle Mühe gegeben. Erwähnt seien die farbigen und schwarzweißen Fotografien der Gestalterin Eva Hocke oder die Landkarte, die in etwa die Wohnorte der Beiträger/innen zeigt. Sogar das Thema der nächsten Ausgabe «Spiele / Spiegelungen» wird erläutert. Nur die bio-bibliographischen Autorenangaben sind viel zu lang, ganze Lebensläufe, die früher von der Redaktion radikal gekürzt wurden. Eine Autorin fehlt dagegen ganz: Chandal Nasser, von der im Heft ein wunderbares Gedicht (sogar auch auf der Heftrückseite) und eine ebenso gute Kurzprosa abgedruckt sind.

Mauerläufer Nr. 9 (2023), Ankünfte Auskünfte Zukünfte, Euro 15.-, FR 17.-, ISBN 978-3-9819985-4-2, im Buchhandel erhältlich.

Text: Jochen Kelter, Symbolbild: O. Pugliese