Solidarität mit der Karstadt-Belegschaft

Am kommenden Donnerstag diskutiert der Konstanzer Gemeinderat in nichtöffentlicher Sitzung über Karstadt. Aus diesem Anlass dokumentiert Seemoz die 1.-Mai-Rede von Ulrike Wuhrer, Betriebsratsvorsitzende von Karstadt Konstanz und führendes Mitglied im Karstadt-Gesamtbetriebsrat.„Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Seit Ende letzten Jahres steht die Immobilie, in der Woolworth war, leer. Und es könnte durchaus passieren, dass bald eine zweite Immobilie in Konstanz leer steht. Dies müssen wir mit aller Macht verhindern.

In 120 Städten in Deutschland machen heute Karstadt-Betriebsräte auf die Situation unserer Kolleginnen und Kollegen aufmerksam. Ich freue mich, dass ich die Gelegenheit habe, die Situation der Belegschaften von Karstadt darzustellen.
Hier in Konstanz arbeiten 200 Beschäftigte. Insgesamt sind bei Karstadt  25000 Menschen beschäftigt, die in der Mehrzahl gewerkschaftlich organisiert sind. Heute ist ein kleiner Teil hier in anwesend, der weitaus größere Teil ist auf der Kundgebung in Singen. Die überwiegende Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen wohnt in Singen, sie können sich die teuren Mieten in Konstanz nicht leisten.

Seit elf Monaten arbeiten und leben wir unter den Bedingungen einer Insolvenz. Wir stehen morgens auf und schlafen abends ein mit dem Gedanken und den Sorgen: Wie geht es weiter? Geht es überhaupt weiter und wie lange noch? Seit 2004 reiht sich bei Karstadt Krise an Krise. Seit 2004 leben meine Kolleginnen und Kollegen mit der ständigen Sorge um den Arbeitsplatz.

Ich brauche euch nicht zu sagen, wie sich dies auf die Gesundheit auswirkt. Arbeitswissenschaftler beobachten und analysieren seit Jahren, dass unter kaum etwas anderem die Gesundheit mehr leidet als unter der ständigen Angst um den Arbeitsplatz. Und gleichzeitig geben meine Kolleginnen und Kollegen jeden Tag gegenüber den Kundinnen und Kunden ihr Bestes.

Doch vielen fällt es zunehmend schwerer, diesen Spagat zwischen den eigenen Existenzängsten und der freundlichen und kompetenten Verkäuferin hinzubekommen.
Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass Karstadt eine Zukunft hat. Ich möchte heute ein paar Zusammenhänge aufzeigen, die ihr kennen solltet.

1. Wir haben seit 2004 einen extremen Personalabbau und eine damit verbundene Leistungsverdichtung hinnehmen müssen.

2. Wir haben seit 2005 auf insgesamt über 480 Millionen Euro verzichtet, dabei insbesondere auf das tariflich zugesicherte Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Bei einem monatlichen Nettogehalt einer vollzeitbeschäftigten Verkäuferin von knapp 1300 Euro wisst ihr, was das bedeutet. Und trotzdem sind wir in der Insolvenz gelandet.

3. Das beweist, dass ein dauerhafter Verzicht der Beschäftigten oder das permanente Drehen an der Personalkostenschraube eine Firma nicht rettet.

4. Seit vielen Jahren fordern wir eine Umkehr der Unternehmensstrategie und eine Mitsprache bei der Sortimentspolitik. Wir haben Konzepte erarbeitet, wie man Karstadt nach vorne bringen kann. Das Management wusste es aber scheinbar immer besser und hat auf die Menschen, die im Verkauf stehen und die die Kundenwünsche kennen, nicht gehört.

5. Der Investor, der Karstadt nun kaufen will, stellt wiederum Bedingungen, die mit einem weiteren großen Verzicht der Belegschaft verbunden sind: Dauerhafter Verzicht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld; weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit; flexible Leistungsentlohnung; Verzicht auf Beschäftigungssicherung und Standortsicherung – sowie ein weiterer Personalabbau: 5000 Arbeitsplätze, das heißt jede fünfte Stelle, sind in Gefahr.

Das, Kolleginnen und Kollegen, lassen wir aber nicht zu! Gegen diese Angriffe stehen Belegschaften und Betriebsräte eng zusammen. Wir wissen aber, wie schwierig es ist, jeden Tag aufs Neue die Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen zu organisieren. Denn dass dagegen Stimmung gemacht wird, könnt ihr euch sicherlich vorstellen. Im Moment sind wir auf einem guten Weg, der Widerstand gegen die Parole „Rette sich wer kann“ funktioniert bislang hervorragend.
Aber es ist auch immens wichtig, dass wir Eure Unterstützung erhalten.

Allen ist klar: Man kann auch ohne Karstadt einkaufen und es entstehen auch keine Versorgungsengpässe. Aber ohne Karstadt werden die Innenstädte weniger attraktiv und verlieren an Anziehungskraft. Die Schließung von vielen Hertie- und Woolworth-Filialen haben das sehr deutlich gemacht.
In vielen Innenstädten stehen nicht nur diese Immobilien leer. Die Folge davon ist, dass der umliegende Einzelhandel leidet und dadurch immer mehr leerstehende Einzelhandelsflächen entstehen. Ohne Handel stirbt aber die Innenstadt. Eine weitere Folge ist, dass der Kostendruck in den verbleibenden Geschäften noch gnadenloser wird.

Die Arbeitsbedingungen und Arbeitslöhne sind heute schon in vielen Einzelhandelsgeschäften weit unter dem, was der Tarif vorsieht: Arbeit auf Abruf, Gehälter in vielen Fällen unter dem geforderten gesetzlichen Mindestlohn (und da ist ja die gewerkschaftliche Forderung schon viel zu niedrig!) – all das ist gängige Praxis. Es gibt im Einzelhandel kaum noch Menschen, die nach Tarif arbeiten.

Und es gibt noch weniger Einzelhandelsunternehmen mit Betriebsräten. Ausser bei Karstadt gibt es in Konstanz meines Wissens nur in einer Buchhandlung und einem Modegeschäft einen Betriebsrat – und das, obwohl die meisten Geschäfte betriebsratsfähig wären! Wenn nun bei uns der Angriff auf den Tarifvertrag gefahren wird, dann deshalb, weil bei uns die Personalkosten dem Markt angepasst werden sollen.
Gelingt dieser Angriff, dann will ich nicht wissen, wie sich dies auf die Branche und somit auf alle Einzelhandelsbeschäftigten auswirkt. Bei einer Teilzeitquote von fünfzig Prozent haben bereits heute viele Verkäuferinnen und Verkäufer einen zweiten oder dritten Job – oder sie müssen zusätzlich Sozialhilfe beziehen, weil sie von ihrem Einkommen nicht leben können. Klar ist, dass der Druck auf alle Beschäftigten noch gnadenloser wird.

In dieser Situation brauchen wir dringend die Unterstützung von Gemeinderäten und Oberbürgermeistern, von Landtags- und Bundestagsabgeordneten. Wir fordern heute alle Politikerinnen und Politiker auf, sich mit der Situation im Einzelhandel und mit der Situation bei Karstadt zu beschäftigen.
Kolleginnen und Kollegen,
wer die Banken mit Hunderten von Milliarden unterstützt, von dem erwarten wir, dass er sich zumindest an Lösungen zur Rettung von mindestens 40 000 Arbeitsplätzen aktiv beteiligt. Denn es geht nicht nur um 25 000 Karstadt-Arbeitsplätze, es geht auch um mindestens 15 000 Stellen bei Lieferanten, Dienstleistern, Logistikbetrieben. Die hängen ebenfalls mit dran.
Vor einem Jahr haben die Beschäftigten von Karstadt und Quelle um eine Staatsbürgschaft gekämpft. Es ging dabei um 950 Millionen Euro. Wir wollten kein Geschenk, keinen Kredit. Nur eine Bürgschaft. Diese wurde uns verwehrt mit dem Hinweis, dass Karstadt selbst schuld sei an der Krise, außerdem würde es der Markt schon richten. Heute wissen wir, dass die Insolvenz von Karstadt die öffentliche Hand 650 Millionen Euro gekostet hat (jawohl: 650 Millionen Euro!) – unter anderem durch Steuerausfälle. Darüber hinaus haben viele tausende Menschen – insbesondere bei Quelle – ihren Arbeitsplatz verloren. Die Politik hat deshalb nicht nur die Aufgabe, sondern die Pflicht, darauf zu achten, dass nun die Arbeitsplätze gerettet werden.

Noch eine Information: Dass die Regierung mit dem Argument „der Markt wird es schon richten“, den Antrag auf Staatsbürgschaft abgelehnt hat, hängt auch mit dem Herrn Cordes vom Metro-Konzern zusammen, der immer wieder – und zwar stets genau zu dem Zeitpunkt, an dem es uns am meisten geschadet hat – davon sprach, dass er 60 oder 50 (irgendwann waren es nur noch 30) Filialen von Karstadt übernehmen würde. Mittlerweile will er selbst Kaufhof verkaufen. Wen wundert es, dass dieser Herr Cordes von Frau Merkel in den Wirtschaftsrat der CDU berufen wurde? Übrigens verlangt er gerade von seinen Leuten – und zwar an Verdi und den Betriebsräten vorbei – dass sie die 42 Stunden ohne Lohnausgleich akzeptieren müssen, wenn sie bis 2013 ihren Arbeitsplatz behalten wollen.

Kolleginnen und Kollegen,
noch ein Thema will ich hier kurz ansprechen: die Insolvenzordnung. Am Beispiel von Quelle mussten wir erfahren, wie brutal eine Insolvenz ist und wie brutal das für die Menschen ist. Da hieß es an einem Sonntag im Oktober noch, dass vier Investoren im Rennen sind, am nächsten Tag haben die Menschen aus der Tagesschau erfahren, dass Quelle abgewickelt wird. Ein Schock nicht nur für die Quelle-Beschäftigten, sondern auch für uns. Wir ziehen folgendes Fazit:
Die Politik – und das ist Aufgabe unserer Gewerkschaften – muss dringend aufgefordert werden, die Insolvenzordnung zu überarbeiten. Jährlich gibt es 40 000 Insolvenzen in Deutschland, mit steigender Tendenz und immer, immer sind die Beschäftigten die Verlierer dabei.

Die Insolvenzordnung schreibt dem Insolvenzverwalter vor, dass die Befriedigung der Gläubiger sein oberstes Gebot ist. Das bedeutet: Er muss darauf achten, dass kein Geld verbrannt wird, denn stellvertretend für die Gläubiger besteht seine Aufgabe darin, so viel Geld wie möglich für sie zu retten.
Banken und Lieferanten können aber entstehende Verluste steuerlich abschreiben. Wenn wir darüber unsere Arbeitsplätze verlieren, geht es um Existenzen und nicht um Abschreibemöglichkeiten!

Das, Kolleginnen und Kollegen muss sich dringend ändern. Wir brauchen dazu in diesen Krisenzeiten eine politische Diskussion. Die Beschäftigen, die von einer Insolvenz betroffen sind, bleiben immer auf der Strecke. Entweder weil sei bei einer Weiterführung des Unternehmens viele Zugeständnisse machen sollen oder weil die Firma geschlossen wird. Und dabei ist es völlig gleichgültig, ob es um 200, 2000 oder 20 000 Menschen geht. Gleichzeitig wird an Insolvenzen viel Geld verdient und die Verursacher von Insolvenzen – das Management – kommt immer ungeschoren davon.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir werden um unsere Arbeitsplätze und um unsere Tarifverträge  kämpfen. Flächendeckend, in allen 120 Karstadt Filialen, finden nächste Woche zeitgleich Betriebsversammlungen statt. Das kann unter Umständen der Beginn einer langen Auseinandersetzung sein.
Wir freuen uns über jede Unterstützung und Solidarität aus möglichst vielen Betrieben und Dienststellen. Und unsere Kolleginnen und Kollegen im Verkauf freuen sich über verständnisvolle Kundinnen und Kunden und über jedes aufmunternde Wort. Und wenn euch mal eine Verkäuferin begegnet, die nicht lächelt und nicht so freundlich ist, dann kann es sein, dass sie wieder ein Gespräch mit ihrem Vermieter hatte, der wissen will, wie lange sie noch ihren Arbeitsplatz hat. Oder sie hatte einen Brief von der Bank im Briefkasten mit der Ankündigung, dass ihr Dispokredit gekürzt wurde, weil ihr Arbeitgeber in der Insolvenz ist.

Noch eine Bitte: Ihr alle seid Kundinnen und Kunden. Bitte achtet darauf, wo ihr euer Geld ausgebt. Wer bei Backwerk oder Mr. Baker sein Brot kauft, sorgt dafür, dass das Bäckerhandwerk ausstirbt. Wer bei Schlecker, Lidl und Konsorten einkauft, sorgt dafür, dass der Kostendruck überall noch grösser wird. Informiert euch darüber, welche Arbeitsbedingungen in den Geschäften herrschen. Es gibt zu viele Geschäfte, in denen die Beschäftigten Angst haben, auch nur ein Verdi-Flugblatt in die Hand zu nehmen.
Wir kämpfen darum, dass das bei Karstadt nicht so wird. Wir wollen, dass Nachhaltigkeit und Tarifverträge weiterhin Basis unseres Geschäfts sind. Und das hoffentlich noch sehr lange.“

Autor: Ulrike Wuhrer