„Sorgen Sie für Aufklärung, Herr Ministerpräsident“
Reger Briefverkehr mit Stuttgart. Doch dieses Mal erreicht den Ministerpräsidenten kein denunziatorischer Schmähbrief aus Konstanz, sondern ein „Offener Brief“ in eigener Sache. Jochen Kelter, Schriftsteller aus Ermatingen, erinnert an die Bespitzelungen aus gar nicht so fernen Zeiten der Berufsverbote und fordert Aufklärung von einer Regierung, die Offenheit und Bürgernähe verspricht. Wir veröffentlichen den Brief exklusiv und ohne redaktionelle Änderungen.
„Offener Brief an den Ministerpräsidenten von Baden – Württemberg
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident
lieber Herr Kretschmann
Sie waren als Student AStA – Vorsitzender an der Universität Hohenheim und als junger Mann Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW), oder Sie haben mit ihm sympathisiert. Als neuer Ministerpräsident nach achtundfünfzig Jahren Regierungsverantwortung der CDU haben Sie angekündigt, einen neuen Stil in die Landespolitik einführen zu wollen, der sich durch Transparenz, Offenheit und Bürgernähe auszeichnen soll. Vor allem Letzteres ist der Grund, warum ich mich mit meinem Anliegen an Sie wende.
Auch ich war, vermutlich ein wenig früher als Sie, nämlich im Jahr 1969, Mitglied eines Allgemeinen Studentenausschusses, jenem an der damals jungen Universität Konstanz. Unser AStA wurde von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und linken Mitgliedern des Sozialdemokratischen Hochschulbunds (SHB) gebildet. Vorsitzende gab es bei uns nicht. Die hatten wir nach dem etwas vorschnellen Motto „Keine Macht für niemand“ abgeschafft – aber Hierarchien können ja bekanntlich auch informell entstehen. Ich war in Vietnam – Komitees und später in Chile – Komitees aktiv. Für die Nachgeborenen muss man vielleicht hinzufügen, dass die USA in den sechziger und siebziger Jahren einen gnadenlosen Krieg gegen das vietnamesische Volk führten und dass die demokratisch gewählte Regierung Allende in Chile im September 1973 vom Militär mit Unterstützung der USA weggeputscht wurde. Ich habe zudem in Lehrlings- und in Schülergruppen mitgearbeitet, wir wollten ja unsere zugegebenermassen unfertigen Vorstellungen von einem libertinären Sozialismus, der auf keinem Fall jenem staatssozialistischen in der DDR gleichen sollte, aus den Universitäten hinaus unter die Leute, nicht zuletzt unsere Altersgenossen tragen.
Wir fühlten uns bei all diesen Aktivitäten im Recht und auf dem Boden des Rechts. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, die Verfassung untersage etwa, was ich tat. Es wäre ganz einfach die falsche Verfassung gewesen. Nach dem Verfall der Studentenbewegung mit ihren informellen Strukturen habe auch ich eine Zeit lang einer jener Aufbauorganisationen für eine bessere Welt angehört, die sich rasch abkapselten und sektiererische Züge annahmen.
Aber ausgerechnet nachdem in der alten Bundesrepublik zum ersten Mal die SPD zusammen mit den Liberalen die Bundesregierung stellte und die von Nazis durchsetzte, verknöcherte Adenauer – Republik überwinden sollte, wurde der „Radikalen – Erlass“ aus der Taufe gehoben. Die Überprüfung meiner „Verfassungstreue“ begann im März 1974. Ich musste einen Vordruck ausfüllen, der kam aus Stuttgart und wurde von der Universität Konstanz, an deren Sprachlehrinstitut ich unterdessen als Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Angestellter beschäftigt, war, an das Innenministerium zurückgeschickt.
Der Bescheid des Kultusministeriums, den ich erhielt, war in Stuttgart am 4. Oktober 1974 datiert und trug einen Eingangsvermerk der Universität Konstanz vom 14. Oktober. Dazwischen waren sechs Monate verstrichen, in denen ich, obwohl ich keiner verbotenen Organisation angehört hatte, nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war und bis heute nie einer politischen Partei angehört habe, kaum noch daran zweifelte, dass das Damoklesschwert fallen würde. Es war dafür aufgehängt worden. Das Schreiben führte das Aktenzeichen H 0388 1/27, war gezeichnet mit: Szotowski und trug weder Unterschrift noch Dienstrang des Zeichnenden. „Betr.: Durchführung des Beschlusses der Landesregierung über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst; … Bezug: Anfrage der Universität Konstanz an das Innenministerium vom 19.4.1974“. Den Universitäten wurde der schwarze Peter zugeschoben, indem man tat, als hätten sie Auskunft über ihre Bediensteten verlangt. Auch so eine Schmierenkomödie.
„Das Innenministerium“ hatte mitgeteilt, dass „folgende Erkenntnisse vorliegen“ (woher sie stammten, blieb ein Geheimnis des Ministeriums), und auf deren Grundlage „bestehen erhebliche Zweifel, ob sich Herr Kelter jederzeit zur freiheitlich demokratischen Grundordnung … bekennt.“ Es gab Zweifel und „erhebliche Zweifel“. Ob es darüber noch eine Steigerung gab, weiss ich nicht. „Erhebliche Zweifel“ aber schlossen einen von einem weiteren Arbeitsverhältnis aus. Der Protest meines akademischen Lehrers, die Forderung des Instituts nach meiner Wiedereinstellung blieben ohne Antwort. Das Ersuchen um Rechtsschutz konterte die örtliche ÖTV mit der Drohung, ich möge meine Verfassungstreue beweisen, andernfalls ich den Ausschluss aus der Gewerkschaft zu gewärtigen hätte. Die politisch Herrschenden hatten eine Phalanx gebildet.
„Erkenntnisse“ lagen vor, keine juristisch verwertbaren Beweise. Der Staatsapparat masste sich die Rechtssprechung an. Man liess einfach „Erkenntnisse“ in den Himmel steigen. Papier ist geduldig. Als ob die am Wegesrand wüchsen. Da hatte es im Telefon geknackt, da lehnte schon mal ein Unbekannter an einer Gasthaustür, da sassen ein paar unpassende Gestalten in Versammlungen, die jedermann zugänglich waren. Da hatte man den Pressereferenten des Rektorats bei einer Veranstaltung mit einem Tonband hinter einer Säule erwischt. Aber natürlich verhalfen der Vietcong, die „Volksfront“ in Chile und die Forderung nach Mitbestimmung in den Universitäten, ein paar Go – ins und Institutsbesetzungen den „Erkenntnissen“ zur gewünschten Durchschlagskraft und Akzeptanz in der Öffentlichkeit.
Mein Fall war vergleichsweise schwerwiegend. Ich hatte nicht sympathisiert, war nicht einfach Mitglied gewesen, sondern „Mitglied und Funktionär“. In Organisationen, die weder Mitglieder kannten, geschweige denn Funktionäre. In Organisationen, die weder verboten waren noch als Vereine oder Körperschaften im juristischen Sinn überhaupt existierten. Das überstieg entweder die Vorstellungskraft des Beamtenapparats oder wurde von ihm nach der Devise unterlaufen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Wir nahmen zu dritt einen Anwalt, der, wenn ich mich recht erinnere, der CDU nahestand. Der ging die unvertraute Materie mit formaljuristischen Einwänden und über die Arbeitsgerichte an. Ich schrieb eidesstattliche Erklärungen, Briefe und wieder Erklärungen. Denen und den anwaltlichen Einwänden wurde nicht stattgegeben, weil man beschlossen hatte, ihnen nicht stattzugeben. Unsere Fälle eigneten sich nicht, die Gegenpartei mit juristischen Winkelzügen aufs Kreuz zu legen. Nach zwei Jahren und zwei Instanzen standen wir wieder am Anfang. Es hätte ein neuer Instanzenweg mit einer Klage gegen das Land angestanden. Ich resignierte und schrieb unter juristisch prüfendem Auge einen äusserst merkwürdigen Brief, eine Camouflage, halb Zugeständnis, halb Beharrung. Bei seinem Anblick schauderte es meinen akademischen Lehrer, der dem meinem ein Schriftstück von seiner Hand hinzufügte. Unter dem Aktenzeichen H 0388 1/371 erreichte mich, datiert am 6.12, 1976 und mit dem Eingangsvermerk der Universität vom16.12.1976 versehen, ein zweizeiliges Schriftstück des Inhalts: “Aufgrund der schriftlichen Stellungnahme von Herrn Kelter vom 13.10.1976 erhebt das Kultusministerium gegen dessen Beschäftigung keine Einwendungen.“ Der unterzeichnende Herr Szotowski gab sich diesmal als Ministerialdirigent zu erkennen.
Von „Beschäftigung“ konnte natürlich Rede nicht sein. Wir mussten unseren Lebensunterhalt verdienen und waren in verschiedene Richtungen verstoben. Ich beschloss, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, sondern in der Schweiz zu bleiben, wo ich damals schon lebte und bis heute lebe. Obwohl ich auch hier wie 700.000 andere Bürger vom Staatsschutz überwacht worden bin: Das politische System im überschaubaren Land scheint mir sehr viel zuträglicher als die oftmals scheinheilige, verlogene, den Bürger für dumm verkaufende parlamentarische Demokratie in Deutschland.
Seither ist viel Zeit ins Land gegangen. Ich habe es in den achtziger Jahren sogar zum Literaturpreis der Stadt Stuttgart gebracht und hatte beruflich hin und wieder sogar mit einem Ministerium zu tun. Nur aus jenem des Inneren und dem für Kultus (was für ein abstossendes Wort) habe ich nie etwas gehört, ein Wort des Bedauerns etwa, geschweige eine Entschuldigung.
Nun schreibe ich Ihnen keineswegs, um eine Entschuldigung von Ihnen zu fordern. Es käme mir albern vor, von Ihnen zu verlangen, sich für die Borniertheit einer Vorgängerregierung zu entschuldigen. Aber ich fordere Sie und Ihre Regierung doch auf, sich und der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen über die politische Bespitzelung, die paranoide Hexenjagd und die völlig inakzeptable Entfernung von politisch Andersdenkenden aus dem Staatsdienst in jenen Jahren. Distanzieren Sie sich von diesen Praktiken. Die Vorgänge von damals aufzuarbeiten, heißt ja immer auch mit zuhelfen, sie in Zukunft zu verhindern.
Seinerzeit sind ja auch Zukunftsaussichten zerstört und Existenzen verbogen worden (ich etwa wäre dazumal gerne Hochschullehrer geworden). Ich weiß nicht, wie viele Personen damals von Maßnahmen wie jenen gegen mich betroffen waren. Alleine schon ihre Zahl zu kennen, würde ein Zeichen für Transparenz und Offenheit setzen. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Repression nach den Jahren der Studentenbewegung ihr Teil dazu beigetragen hat, Menschen, die vielleicht moralischer waren als ich, radikaler oder auch einfach verblendeter, in den Untergrund zu treiben, der dann im „deutschen Herbst“ kulminierte. Die Politiker, nicht nur eine Handvoll Terroristen, waren durchaus mit Schuld an den „bleiernen Jahren“, an der Entfremdung der Intellektuellen vom Staat, an der Kluft zwischen Politik und Zivilgesellschaft, die sich nun wieder auftut.
Ich bedanke mich für die ernsthafte Prüfung des von mir vorgebrachten Anliegens. Mit guten Wünschen für Sie und freundlichen Grüßen“
Jochen Kelter
Auch andere Betroffene haben sich mit diesem Anliegen an den Ministerpräsidenten und den Landtag von Baden-Württemberg gewandt, siehe http://www.berufsverbote.de. Bisher mit ähnlich enttäuschendem Ergebnis wie damals bei Jochen Kelter. Aber da müssen wir dran bleiben. Herzlichen Dank für diese frühe Unterstützung!
Für den schönen offenen Brief von Jochen Kelter an Ministerpräsident Kretschmann danke ich sehr. Er erinnert zu Recht an eine ungute Zeit. Auch über mich gab es diese finsteren “Erkenntnisse”. Dem drohenden Berufsverbot habe ich mich aber durch eine elegante Schau der Verstellung im Oberschulamt zu Freiburg entzogen. Es gab auch eine komische Seite. Solange das Verfahren lief, durfte ich meine Schule in Tuttlingen nicht mehr betreten. Die Aufsatzhefte der Schüler und meine Noten als Deutschlehrer mußte ich dem Direktor und stellvertretenden Direktor des Gymnasiums im Bahnhofsrestaurant von Stockach überreichen. Auf halber Strecke zwischen Tuttlingen und Konstanz, wo ich wohnte. Es war ein Entgegenkommen der um Fairneß bemühten Schulleitung.
Danke für diesen einfühlsamen und mich anrührenden offenen Brief. Das ist auch Teil meiner Geschichte.
Meine Ehefrau bekam 1977 keine Anstellung im Schuldienst, da gegen ihren Ehemann -also mich- Erkentnisse vorlagen. Und wer sich mit einen solchen Kerl einlässt, kann auch nicht besser sein. Der Schulleiter der Sonderschule, an der Sie sich beworben hatte, intervenierte dann sogar beim Oberschulamt in Freiburg. Er hätte sie sehr gerne beschäftigt, da sie im Anerkennungsjahr an dieser Schule hervorragende Arbeit geleistet hatte.
Er kam dann total erbost von Freiburg zurück und stellte sie wutentbrannt zur Rede. Er war nicht sauer auf das Oberschulamt, sondern auf meine Frau, wieso sie ihm nicht gesagt hatte, dass sie ein aktives DKP-Mitglied geheiratet hatte.
Er hätte sich jetzt gründlich beim Oberschulamt blamiert. Wie kommt er dazu, sich für Kommunisten und deren Grundrechte einzusetzen. Bei den Nazis nannte man das Sippenhaft.