Streik im öffentlichen Dienst: „Wir sind die Guten“
Rund sechshundert Streikende demonstrierten gestern vom Treffpunkt Petershausen durch die Konstanzer Innenstadt – und untermauerten damit ihre Forderung nach einem halbwegs fairen Lohn im öffentlichen Dienst. Aber sie gingen nicht nur aus eigenem Interesse auf die Straße.
Es waren Beschäftigte aus allen Bereichen und aus verschiedenen Städten und Dörfern, die sich am Mittwochvormittag vor dem Treffpunkt Petershausen versammelten: Zöllner, Busfahrerinnen, Müllwerker, Kita-Angestellte, Stadtgärtnerinnen, Straßenreiniger, Krankenhauspersonal vom westlichen Bodensee, aber auch aus Schwennigen, Rottweil oder Tuttlingen. Viele hatten ihre gelben Streikwesten dabei und nahmen gern die Transparente und Fahnen der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in die Hand. Denn es geht ja auch um einiges: Um eine deutliche Anhebung des Lohns besonders für die unteren Tarifgruppen. Und gegen das unverschämt magere Angebot des Bundesverbands der kommunalen Arbeitgeber und des von der SPD geführten Innenministeriums.
Und so zogen sie mit ihren Parolen („Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag“, oder „Wir sind es wert“) von Petershausen über die alte Rheinbrücke und durch die Innenstadt zur Marktstätte. Dort betonte Klaus Hauser von den Technischen Betrieben Konstanz die Bedeutung der diesjährigen Lohnforderung: Wichtiger als die verlangten 10,5 Prozent sei die „soziale Komponente“ in Form von 500 Euro für alle, da sie die unteren Lohngruppen begünstige. Bei einer linear-prozentualen Erhöhung bekommt der Abteilungsleiter eben mehr als eine städtische Schreinerin.
Wie tief die Löhne im öffentlichen Dienst sein können, veranschaulichte auch Hanna Binder, stellvertretende ver.di-Landesbezirksleiterin von Baden-Württemberg. Ihren Angaben zufolge gibt es Entgeltgruppen, die unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegen (weshalb der Staat gegen die eigenen Gesetze verstossen darf, erläuterte sie leider nicht).
„Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen“
Hier in Auszügen die Rede von Andreas Gallus, Personalratsvorsitzender und ver.di-Vertrauensleute-Sprecher beim Hauptzollamt Singen:
„Liebe Kolleginnen und Kollegen. Was haben wir uns in den letzten Tagen nicht alles anhören müssen: Dass wir nicht abwarten können, bis die letzte Verhandlungsrunde vorbei ist. Dass es realitätsfern ist, 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro und 200 für die Auszubildenden zu fordern. Dass dies für den öffentlichen Dienst nicht zu leisten ist. (…) Dabei wurde uns über Monate hinweg immer wieder sagt, wie gut und wie toll wir sind, und dass man wisse, wie hoch die Belastung im öffentlichen Dienst ist und dass ohne uns überhaupt nichts geht.
Das sagten sie uns während der letzten Jahre und Monate, während Corona und anderen Krisen auf der Welt und in Deutschland. Wir brauchen den öffentlichen Dienst, sagten sie. (…) Aber vom Lob können wir uns nichts kaufen [großer Beifall]. (…) Das [aktuelle] Angebot von fünf Prozent auf 27 Monate bei einer jährlichen Inflation von acht Prozent bedeutet im Jahr ein Minus von fünf Prozent. Wenn man sich das dann in Ruhe überlegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann kann man sich als Beschäftigter im öffentlichen Denst, und zwar egal wo, von diesem Verhandlungspartner in den Arsch getreten fühlen. (…) Wir lassen uns von euch nicht erniedrigen und für dumm verkaufen! [Großer Beifall.]
Besonders traurig ist es, wenn die kommunalen Arbeitgeber so tun, als wäre es vollkommen unverständlich, dass der tolle öffentliche Dienst nicht genug Nachwuchs bekommt. Dass potenzielle Bewerber nicht zum öffentlichen Dienst kommen – zu einer in vielen Fällen vollkommen zurückgebliebenen IT-Infrastruktur, zu Arbeitsbedingungen, die zum großen Teil sehr belastend sind wie etwa im Krankenhaus und überall da, wo Arbeit von Menschen an Menschen geleistet wird, zu widrigen Arbeitszeiten und das bei Wind und Wetter. (…)
Die neuen Kollegen und Kolleginnen, die wir in nächster Zeit brauchen werden, bekommen wir nicht, wenn wir zulassen, dass diese Leute den öffentlichen Dienst kaputtsparen. Also müssen wir von ver.di uns um den guten Weiterbestand des öffentlichen Dienstes kümmern, und das tun wir mit unseren Forderungen.
Damit alles gut wird, stehen wir heute hier, mit voller Kraft, mit Mut und voll zu Recht. Denn wir sind die Guten“ [großer Beifall].
Bleibt abzuwarten, ob die ver.di-Unterhändler*innen (darunter Hanna Binder) diesmal wirklich hart bleiben. Oder ob sie wie in früheren Jahren (oder kürzlich bei der Posttarifrunde) vorzeitig einknicken. Die Verhandlungen werden am kommenden Montag fortgesetzt.
Text und Fotos: Pit Wuhrer
„Es geht um viel mehr als ein paar Euros
Riesige Renten-Demos in Frankreich, Streiks in Großbritannien und Deutschland: In Europa ist ein Kampf um die Demokratisierung der Arbeitswelt ausgebrochen.“
„..Die Streiks und Demos werden, wenn sie überhaupt Aufmerksamkeit bekommen, gerade nicht als Auseinandersetzung um demokratische Verhältnisse in einem der wichtigsten Lebensbereiche gedeutet, sondern (vor allem im französischen Fall) als gestrige Folklore, bestenfalls noch als partikularistische Interessenkämpfe um Geld.
Ist das nicht merkwürdig? Man sorgt sich ständig darum, wie demokratisch die Welt ist, aber jener Bereich, in dem Erwachsene einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen, wird dabei meist ausgespart: Die Arbeitswelt ist der blinde Fleck der Demokratie.
Arbeitgeber als „private Regierung“
„Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“ lautet der Untertitel eines Buches der US-amerikanischen Philosophin Elizabeth Anderson aus dem Jahr 2017. Anderson räumt darin mit der Vorstellung auf, dass schon ein liberaler Arbeitsmarkt, auf dem jede und jeder seine oder ihre Arbeitskraft frei verkaufen kann, die Selbstbestimmung der Menschen garantiere: „Man erzählt uns, dass wir die Wahl haben zwischen freien Märkten und staatlicher Kontrolle, während die meisten Erwachsenen ihr Arbeitsleben gänzlich unter etwas Drittem verbringen: der privaten Regierung.“ Privat heißt hier: Die Regeln, die die Firma setzt, sind der demokratischen Verhandlung gar nicht zugänglich, sie sind nicht Teil der öffentlichen Sphäre, sondern Privatsache des Unternehmens. So werden freie Bürgerinnen und Bürger, wenn sie die Fabrik oder das Büro betreten, zu Beherrschten..“
https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-02/streiks-frankreich-lufthansa-grossbritannien-arbeitsmarkt