Streiken für gute Arbeit und Mobilitätswende

Etwas fehlte am vergangenen Dienstag im Konstanzer Stadtbild. Ganztägig nämlich blieben die sonst unübersehbaren roten Busse der Stadtwerke im Depot. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hatte die Beschäftigten des städtischen Nahverkehrsunternehmens zum Warnstreik aufgerufen, auch die Fährschiffe legten nicht ab. Der Ausstand war eine Reaktion auf die Weigerung der Arbeitgeber, in der laufenden ÖPNV-Tarifrunde mit ver.di über einheitliche Verbesserungsforderungen zu verhandeln. Bundesweit wehrten sich dagegen an ausgewählten Orten am 29.9. ÖPNV-Beschäftigte, in Südbaden war die Wahl auf Freiburg und Konstanz gefallen.

Fast schon gespenstisch das Bild, das am Dienstag die Zubringerspuren am Fähranleger in Staad um 14 Uhr bieten. Gähnende Leere statt der sonst üblichen Warteschlangen, nur vereinzelt haben sich Autos auf den Fährplatz verirrt. Hier fährt heute kein Schiff nach Meersburg oder zurück. An der Schranke demonstriert eine Gruppe von Streikenden Präsenz und steht bei Nachfragen Rede und Antwort. Einer von ihnen ist Schiffsführer Alexander Boos, der heute gleichzeitig als ver.di-Kampagnenbotschafter agiert. „Wir streiken dafür, dass wir einen für ganz Deutschland einheitlichen Tarifvertrag bekommen“, erklärt er. Es sei überfällig, „dass die Kollegen endlich unter gleichen Bedingungen arbeiten können“. Je nach Bundesland gewähren die kommunalen Unternehmen den Beschäftigten etwa nur 26 statt 30 Tage Urlaub, vergüten Überstunden weniger oder mehr, garantieren Azubis nach der Ausbildung die Übernahme oder nicht. Ob aber in Konstanz, Köln oder Leipzig, konstatiert Boos: „Wir machen alle die gleichen Jobs, also sollten wir auch die gleichen Voraussetzungen haben.“

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Auch Gabriele Fieback, in Südbaden für den ÖPNV verantwortliche ver.di-Fachsekretärin, hält bundesweit vereinheitlichte Tarifregelungen für überfällig. „Elementare Standards“ wie die Zahl der Urlaubstage oder Sonderzahlungen müssten zukünftig vereinheitlicht werden, „denn die Unterschiede zwischen den Regionen sind groß“. Sie nennt die Arbeitszeit als weiteres Beispiel: „In Thüringen gibt es schon die 38-Stunden-Woche, andernorts sind weiterhin 39 Stunden die Regel.“ Zugleich gelte es, Ungleichbehandlungen innerhalb der Belegschaften abzustellen, so Fieback: „Die Beschäftigten in den Werksstätten erhalten für den belastenden Schichtdienst Zuschläge, Bus- und Bahnfahrerinnen und -fahrer jedoch sind trotz regelmäßiger Schichtarbeit davon ausgenommen.“

Ruinöser Wettbewerb

Ursache für den tariflichen Flickenteppich im kommunalen Nahverkehr: In allen 16 Bundesländern muss die Gewerkschaft gesondert über die jeweiligen Tarifverträge für die rund 130 ÖPNV-Unternehmen verhandeln. Die damit einhergehende Auseinanderentwicklung ist eine Folge der Privatisierungswelle im öffentlichen Verkehrswesen, die eine kapitalismusgeile Politik (der Kanzler hieß Schröder, sein Vize Fischer) Anfang der 2000er Jahre durchgesetzt hat. In ganz Deutschland ist seither der kommunale Nahverkehr dem EU-Wettbewerb unterworfen. Viele Betreiber nutzten die neue Lage, um den Rotstift anzusetzen und die Leistungen für Beschäftigte zusammenzustreichen. Seitdem wurde vielerorts Personal ausgegliedert – ohne oder mit schlechteren Tarifverträgen. Parallel baute man auch in Kernbereichen massiv Stellen ab und kürzte Löhne.

Teile und verschlechtere

Rund 18 Prozent weniger Stellen gibt es, der Gewerkschaft zufolge, gegenüber 2000 bundesweit heute im öffentlichen Nahverkehr, bei einer Zunahme der beförderten Fahrgäste im gleichen Zeitraum um 25 Prozent. Eine Entwicklung, die mit mehr Arbeitshetze und Stress für die ÖPNV-Beschäftigten erkauft wurde. Nicht umsonst vermelden viele Verkehrsbetriebe hohe Krankenstände. Dazu beigetragen hat die tarifpolitische Zersplitterung, die 2005 ihren Anfang nahm, als der ÖPNV aus dem bundesweiten Tarifgerüst des Öffentlichen Dienstes ausgegliedert wurde. Argument damals, dem auch ver.di eher zähneknirschend zugestimmt hatte: Sicherung von Arbeitsplätzen. Tatsächlicher Effekt aber: Das jetzt zu beklagende Auseinanderklaffen von Leistungen.

Dem so entstandenen Wildwuchs zu Lasten vieler Beschäftigten will ver.di jetzt mit der Forderung nach bundesweit verbindlichen Tarifregelungen Einhalt gebieten. In der im März begonnenen, nach corona-bedingter Unterbrechung im Juli wieder aufgenommenen ÖPNV-Tarifrunde beißt die Gewerkschaft bisher bei den Chefs indes auf Granit. „Nach einer fast dreimonatigen Bedenkzeit hat die Vereinigung kommunaler Arbeitgeber VKA am 19. September entschieden, nicht mit ver.di zu verhandeln“, berichtet ver.di-Sekretärin Fieback am Dienstag in Konstanz über den Stand der Dinge. Auch zu den in einzelnen Bundesländern zusätzlich erhobenen Forderungen gibt es von den kommunalen Arbeitgebern bislang kein Angebot, so Fieback. Für Baden-Württemberg etwa wollen die GewerkschafterInnen zusätzlich Entlastungstage, bessere Überstundenbezahlungen und mehr Urlaubsgeld für die vielfach unter schwierigen Bedingungen arbeitenden Beschäftigten, die sich durch die Pandemie zusätzlich verschärft haben.

Wie nötig die Verbesserungsanliegen sind, illustriert die Gewerkschafterin am Beispiel von BusfahrerInnen. Ihre Schichten können zu jeder Tages- und Nachtzeit beginnen und mit Unterbrechungen bis zu 14 Stunden dauern, überdies seien in der Regel nur 15 Sonntage im Jahr frei. Die Mindestruhezeiten betragen teilweise nur 10 Stunden, in vielen Städten sorgen zudem auf Kante genähte Fahrpläne für das „Verschwinden der Pausen“, wobei oft nicht einmal Zeit für einen Toilettengang bleibe.

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Trendwende klimapolitisch nötig

Die streikenden Beschäftigten haben daneben auch gute Argumente auf ihrer Seite, die über den Tellerrand der eigenen Branche hinausgehen. Denn für das überlebenswichtige Eindämmen der Klimakatastrophe ist eine Mobilitätswende unverzichtbar. Ohne massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs jedoch sind sinkende CO2-Emissionen im Verkehr nicht zu machen. Gute Bus- und Bahnanbindung mit kurzen Wartezeiten, verlässlichen Anschlüssen, dichterer Taktung, neuen Haltestellen und Linien sind Voraussetzung für das Gelingen der Mobilitätswende. Die Zeichen dafür stehen allerdings denkbar schlecht. Schon heute fehlen bundesweit 15.000 Beschäftigte im ÖPNV. Bis 2030 wird sich, den klimapolitischen Hintergrund eingerechnet, Expertenprognosen zu Folge der Fehlbetrag auf über 100.000 beziffern. Neben mehr staatlichen Mitteln sind für eine Trendwende deutlich bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen ein Schlüsselelement.

Den nötigen Schritten in diese Richtung verweigert sich die Arbeitgeberseite bislang so konsequent wie kurzsichtig. Deshalb „bleibt einer Gewerkschaft nur das Mittel des Arbeitskampfs“, sagt Gewerkschafterin Fieback, vermutlich auch mit Blick auf verärgerte Fahrgäste. „Ver.di hofft, dass die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch kommen und ein Angebot zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorlegen.“

Auf Unterstützung kann die Dienstleistungsgewerkschaft jedenfalls im Lager der Klimaschutzbewegung rechnen. Im Juli haben ver.di und die Fridays-for-Future-Bewegung eine Allianz für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und für den Klimaschutz gebildet. „Als Fridays for Future stellen wir uns solidarisch hinter die Beschäftigten im ÖPNV und werden gemeinsam streiten für eine dringend nötige klimagerechte Verkehrswende und gute Arbeitsbedingungen in den Jobs der Zukunft“, erklärte dazu die FfF-Vertreterin Helena Marschall. Und wie sah es an der Fähre mit Reaktionen auf den Streik aus? „Wir hatten heute nur zwei, die nicht so glücklich waren“, berichtet Alexander Boos über seine Gespräche mit Leuten, die vor geschlossener Fähreschranke standen. „Zu 90 Prozent verstehen sie das und wünschen uns Erfolg“.

J. Geiger (Text und Foto)