„Thanks, King“

Ab dem 10. August finden in Moskau die Leichtathletik-Weltmeisterschaften statt. Bereits im Vorfeld wurden mehrere Sprintstars wegen Dopingvergehen aus dem Verkehr gezogen. Man darf aber getrost davon ausgehen, dass auch der Rest der noch verbliebenen Medaillenaspiranten zu unerlaubten Mitteln greift. Anlass genug also, auf einen längst vergessenen Sportler zurück zu blicken, der auch ohne Doping fähig war, in völlig unterschiedlichen Disziplinen Höchstleistungen abzuliefern: Jim Thorpe, der wahre König der Leichtathleten

Wenn heutzutage darüber gerätselt wird, wer wohl zu den erfolgreichsten Sportlern des 20. Jahrhunderts zu zählen sei, dann fallen unter anderem Namen wie Muhammad Ali, Jesse Owens, Toni Sailer, Pele, Sergej Bubka, Carl Lewis, Matti Nykänen, Michael Phelps oder Usain Bolt. Von Jim Thorpe (1888 – 1953) wird wohl kaum die Rede sein. Aber er hat es allemal verdient, in die Reihe der ganz Großen aufgenommen zu werden.

Jim Thorpe kam in einem Indianer-Reservat in Oklahoma zur Welt, seine Mutter gehörte zum Stamm der Sauk-Fox. Bereits in jungen Jahren war er ein talentierter Football-Spieler, die Schule interessierte ihn herzlich wenig. Sein Ausnahmetalent als Allround-Sportler soll 1907 entdeckt worden sein. Angeblich, so das Gerücht, sei Thorpe an einer Leichtathletikanlage vorbei gekommen und habe den Hochspringern zugeschaut. Plötzlich soll er die Anlage betreten haben und in normaler Straßenkleidung über 1,75 Meter gesprungen sein. So hoch wie kein anderer.

1911, Thorpe war gerade 23 Jahre alt, zählte er zu den besten Football-Spielern des Landes. Der spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der in seiner Jugend öfter gegen Thorpe gespielt hatte, sagte später über ihn: „Er trainierte nie in seinem Leben und er konnte alles besser als irgendein anderer Football-Spieler, den ich jemals gesehen habe.“ An Leichtathletik-Wettkämpfen nahm Thorpe nur gelegentlich teil, konnte sich aber locker für die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm qualifizieren.

Dort hatte er seine größten Erfolge und verblüffte die Fachwelt durch seine außerordentlichen Fähigkeiten. Er gewann scheinbar mühelos die Goldmedaillen im Fünf- und Zehnkampf mit sattem Vorsprung vor all seinen Konkurrenten. Nebenbei wurde er Dritter im Speerwurf, obwohl er sich an diesem Gerät noch nie versucht hatte. Im Vorbeigehen qualifizierte er sich noch für das Weitsprungfinale, in dem er den siebten Platz belegte. Und da er sich nicht ausgelastet fühlte, startete er auch im Hochsprung und wurde dort Vierter. Zwischen den Leichtathletik-Wettkämpfen verstärkte er die amerikanische Baseball-Mannschaft und bestritt einige Spiele. Als ihm der schwedische König Gustav V. seine Goldmedaillen überreichte, soll der Halbindianer Thorpe lächelnd gesagt haben: „Thanks, King“.

Man kann davon ausgehen, dass Thorpe die kommenden Jahre der absolute Leichtathletik-Star geworden wäre. Mit einem halbwegs ernsthaften Training, so die Auffassung vieler, hätte auf lange Zeit kein anderer eine Chance gegen dieses Jahrhunderttalent gehabt. Aber es kam anders. Etwa sechs Monate nach den Triumphen in Stockholm wurden Thorpe seine Goldmedaillen aberkannt, da er als Baseball-Spieler kleinere Geldbeträge erhalten und somit gegen den Amateurstatus verstossen hatte. Später stellte sich heraus, dass diese Entscheidung nicht dem damals gültigen Regelwerk entsprach, denn Proteste gegen Thorpes olympische Erfolge hätten spätestens 30 Tage nach den Wettkämpfen eingereicht werden müssen.

Thorpe akzeptierte die Entscheidung schweren Herzens, spielte weiter Baseball in der Profiliga und ging mit seiner Mannschaft auf Welttournee. Wo er auch auftrat, wurde er frenetisch gefeiert. Die Stadien waren voll, alle wollten diesen Ausnahmesportler live sehen. Im Alter von 41 Jahren beendete er seine Karriere und damit begann auch sein Abstieg. Er verfiel dem Alkohol und hielt sich in Hollywood als Statist in billigen Indianerfilmen mühsam über Wasser. In seiner Not arbeitete er auch als Türsteher oder auf dem Bau. Zwei Ehen scheiterten, Jim Thorpe wurde krank und galt ab 1950 als Sozialfall. 1953 erlitt er einen Herzinfarkt und starb im Alter von 64 Jahren. Zwei Jahre vor seinem Tod wurde sein Leben verfilmt, Burt Lancaster spielte die Hauptrolle.

Bei einer Umfrage unter Sportjournalisten wurde Thorpe zum „herausragendsten Leichtathleten und Football-Spieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ geehrt. Kurz vor seinem Tod benannte sich das Städtchen Mauch Chunk in „Jim Thorpe“ um, eine Ehre, die keinem anderen Sportler der Neuzeit je widerfahren ist. 1982 reagierte endlich auch das Olympische Exekutivkomitee, rehabilitierte Thorpe und überreichte seinen Kindern Nachbildungen der Goldmedaillen von 1912.

Autor: hr/Archiv