Toll, Kreuzlingen ist jetzt Weltstadt
Je kleinräumiger und enger – besser engstirniger – die Provinz, desto aufgeblasener, so scheint es hierzulande, die Selbstdarstellung. Sah sich Konstanz erst jüngst, wir erinnern uns, mit seiner Goldkiste auf der Stadtmiste auf einer Ebene mit international renommierten Festspielstädten wie Luzern oder Mailand, so setzt jetzt Kreuzlingen noch einen drauf. Das Grenzstädtchen werde nun „in einem Atemzug genannt“ mit Paris, Barcelona oder Berlin, verkündete Stadtammann Andreas Netzle. Wie das denn?
Ganz einfach: Kreuzlingen hat jetzt einen „Boulevard“, das ist französisch und bedeutet „Prachtstrasse“. Und diese Kreuzlinger „Prachtstrasse“ sei durchaus gleichzusetzen etwa mit den Champs-Elysées in Paris, den Ramblas in Barcelona oder dem Berliner Ku`damm. Kleiner hat er`s nicht, der Verwaltungschef, schon ein Vergleich etwa mit der Zürcher Bahnhofsstrasse wäre ihm zu popelig.
Also vergessen wir künftig Paris, Berlin, Barcelona, ist eh alles weit weg. Schließlich haben wir ja Kreuzlingen. Und seinen “Boulevard“. Bis vor kurzem noch hieß das schlicht Hauptstrasse, jetzt aber, nach einjährigem Umbau, ist aus den rund 500 Metern zwischen Helvetia-Platz und Löwenkreisel eine „Prachtstrasse“ geworden, was sich die Stadt immerhin 3,85 Millionen Franken kosten ließ.
Tempo 20?
Ein Projekt übrigens, das seit Jahren schwelt, immer wieder umgeplant wurde und mehrere Volksabstimmungen benötigte, bis herauskam, was jetzt fertig gestellt und mit vielen wohlwollenden Worten eröffnet wurde. So ist von „Einkaufs- und Flaniermeile“ die Rede, auch von der „größten Begegnungszone im Thurgau“, wo Autos und Busse, Radfahrer und Fußgänger „friedlich nebeneinander“ existieren. Im Klartext heißt das: Man ist dem Einzelhandel und seinen Forderungen entgegengekommen. Denn statt der ursprünglich mal geplanten autofreien Zone fließt der Verkehr weiter durch den „Boulevard“ wie einst zu Zeiten der Hauptstraße, wenn auch angeblich nur mit Tempo 20. Es gibt auch weiterhin Parkplätze am Straßenrand, wenn auch etwas weniger als früher, hinzugekommen ist ein bisschen „Möblierung“, also Bäume, Blumenkübel, ein paar Bänke.
Und auch sonst hat die Hauptstraße ihr Gesicht nicht verändert, seit sie „Boulevard“ heißt. Im Angebot der Prachtstraße dominieren weiterhin die Banken und Immobilienhändler, daneben und dazwischen die kleinen Geschäfte mit dem üblichen Waren-Mix einer Kleinstadt, das eine oder andere Straßencafé, aber auch so einige leer stehende Ladenflächen. Die chicen Boutiquen jedoch, die man in einer solch internationale herausragenden „Prachtstraße“ eigentlich vermuten würde, sie sucht man vergebens.
Start am 1. Juni
Am 1. Juni wird die alte Kreuzlinger Hauptstraße auch offiziell zum „Boulevard“. Und da offenbar noch nicht allen so ganz geläufig ist, wie man sich auf einer solch weltstädtischen „Prachtstraße“ zu verhalten hat, gibt es eine Info-Kampagne, mit der über die Regeln im „Boulevard-Verkehr“ aufgeklärt wird. Das heißt zum Beispiel: Fußgänger haben immer Vorrang, für Fahrzeuge gilt generell Tempo 20, LkWs dürfen nur noch zum Be-und Entladen reinfahren und Radfahrer haben auf dem Gehweg nichts zu suchen. Na dann.
Apropos Einkaufsmeile: Ganz ohne Eröffnungsrummel und „Boulevard“-Flair ist in Kreuzlingen auf der grünen Wiese direkt an der Grenze ein neues großes Shopping-Center entstanden. Drei Supermärkte, Aldi, Denner und Landi, reihen sich aneinander, davor ein großer Parkplatz. Und das, obwohl die Schweizer immer mehr in Deutschland einkaufen, die Deutschen wegen des ungünstigen Franken-Kurses allenfalls noch zum Tanken über die Grenze fahren. Da wird es auch der neue „Boulevard“ schwer haben, in jeder Hinsicht.
Autorin: Regine Klett