Tourismus: Erfahrungen – Trends – Perspektiven

Corona prägt derzeit nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Freizeit und nicht zuletzt unser Reiseverhalten. Viele in der Tourismus-Branche träumen zwar noch davon, dass nach Corona alles wieder genauso wird, wie es vor Corona war, aber darin könnten sie sich täuschen. Die derzeitige Situation sollte vielmehr als Gelegenheit verstanden werden, gründlich über die Zukunft des Tourismus auch in der Bodenseeregion nachzudenken und sich neu zu positionieren, meint Thomas Willauer.

Nachdem die deutsche Bodenseeseite, trotz vorhandener Probleme, in ganz Baden-Württemberg die geringsten Rückgänge an Gästen zu verzeichnen hat, der Landkreis Konstanz (mit MTK und Regio) liegt hier auf Platz 1 (-18%, Landesdurchschnitt -36%), sollte dies am Bodensee als Impuls verstanden werden, eine gründliche Debatte über Herausforderungen und Chancen des Tourismus „nach Corona“ zu führen. Seemoz bietet dafür eine Plattform.

Zum Einstieg baten wir Thomas Willauer um ein ausführliches Statement. Willauer war 25 Jahre lang in verschiedenen Positionen und Funktionen in der internationalen Bodenseeregion und auch darüber hinaus tätig. Seit zwei Jahren ist er unabhängiger Privatier. Die folgenden Ausführungen basieren auf seinen persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen, niedergeschrieben ausschließlich in seinem eigenen Namen. Manche von Willauers Aussagen mögen überspitzt erscheinen – dies hat der Autor bewusst in Kauf genommen, um die jeweilige Problematik deutlich herauszuarbeiten. Wer sich dabei nicht angesprochen fühlt, weil in seinem eigenen Arbeitsbereich alles super läuft, soll sich auch nicht angesprochen fühlen.

Teil I

Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen

Das Coronavirus und die erneut beschlossenen Maßnahmen zu dessen Eindämmung haben große Auswirkungen auf die Tourismus- und Freizeitwirtschaft. Versprochene oder auch gewährte Finanzhilfen können die krisenhaften Auswirkungen auf die Branche, wenn überhaupt, nur wenig mildern.

In vielen Branchen hat eine Debatte begonnen, wie es „nach Corona“ weiter gehen soll. Eine solche Debatte ist auch in der Tourismuswirtschaft notwendig. Die Coronakrise bietet bei allen Erschwernissen die Gelegenheit, ausgetretene Pfade im Tourismus am Bodensee zu verlassen, wenn man denn bereit ist, „altes Tourismusdenken“ zu überwinden.

Noch allerdings besteht die vorherrschende Denke darin, einfach wieder zurück zu „Vor-Corona-Zeiten“ zu kommen, dann kann man so weitermachen wie bisher. Veränderungswille ist dabei nicht festzustellen.

Es gibt aber auch Touristiker, die die Krise aktiver wahrnehmen: Als Möglichkeit, endlich Veränderungen im Tourismus zu erreichen, die diese Branche zukunftsfähig machen – und Zukunft meint hier mehr als ständig steigende Übernachtungszahlen. „Im Grunde hat diese Krise uns gezeigt, dass es am Ende wir selbst sind, die die Zukunft machen,“ so Matthias Horx, „als Individuen, als Gesellschaft, als Kultur. Zukunft ist eine Entscheidung, sie kommt nicht auf uns zu, wie ein Zug aus einem Tunnel, sondern sie ist eine Entscheidung für den Wandel, für das Andere und das Bessere.“ Und um besser zu werden, müsste man sich über einige Grundlagen und Rahmenbedingungen der touristischen Arbeit verständigen.

Tourismus ist Gesellschaftspolitik

Verständigen wir uns zunächst darüber, was Tourismus eigentlich ist: Alle, die für und mit Gästen etwas tun, erfüllen eine Aufgabe, die gesellschaftlich bedeutsam ist. Es geht darum, den Menschen Erholung von all den Belastungen, denen sie in der Arbeits- und Lebenswelt ausgesetzt sind, zu ermöglichen.

Gleichzeitig muss der Tourismus Antworten auf gesellschaftliche Trends und Bedürfnisse finden, mit denen sich Menschen in ihrem Alltag befassen und die vielen bei Urlaub und Freizeit wichtig sind. Dies betrifft Fragen des Klimaschutzes, der Ökologie ganz allgemein, der Mobilität, der Teilhabe an Kultur bis hin zu Alternativen zum digitalen Effizienzwahnsinn (gerade im Tourismus).

Der Tourismus dient dem Kennenlernen unterschiedlicher Kulturen, erweitert Wissen und geistige Horizonte. Tourismus schafft regionale Infrastruktur, gestaltet Umwelt und Lebensqualität, auch für die Einheimischen.

Großer Wirtschaftsfaktor – trotzdem mangelnde Wertschätzung

Tourismus ist ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor, gerade in der Bodenseeregion: 17,6 Millionen Übernachtungen, 70 Millionen Tagesreisen im Jahr, ein Bruttoumsatz von knapp 4 Milliarden Euro in allen vier Ländern, über 60.000 Arbeitsplätze und allein über 350 Millionen Euro Mehrwertsteuer für die öffentlichen Kassen sind eindrucksvolle Fakten über die Wirtschaftskraft des Tourismus. Die Studie stammt aus dem Jahr 2014. Seitdem verzeichnete der Bodenseetourismus jährlich ein deutliches Wachstum, 5% Wachstum wurden allein im Jahr 2019, dem vierten Rekordjahr in Folge, verzeichnet. Und dennoch, so der SÜDKURIER, „der Tourismus genießt in der politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung keineswegs die Wertschätzung, die ihm zusteht“. Im „Autoland“ Baden-Württemberg arbeiten mehr Menschen im Tourismus als in der Automobilindustrie, dies sei hier nur mal kurz erwähnt, auch um die soziale Problematik des Lockdowns deutlich zu machen.

Tourismus und Einheimische – Tourismus muss kommunale Pflichtaufgabe werden

Der Tourismus wird so lange immer wieder um Wertschätzung kämpfen müssen, wie er lediglich als freiwillige Aufgabe des Staates angesehen wird. Dabei ist Tourismus eigentlich ein wesentlicher Bestandteil der Kommunal- und lokalen bzw. regionalen Wirtschaftspolitik. Bisher wurde das nur in Vorarlberg begriffen und zur gesetzlichen und operativen Realität.

Aktuelle Studien der Tourismusforschung beschäftigen sich intensiv mit dem Verhältnis von Tourismus, Standortentwicklung, Lebensqualität und dem Verhältnis der einheimischen Bevölkerung zum touristischen Angebot und seinen Konsequenzen für den eigenen Lebens- und Freizeitbereich. Auf den Punkt bringt es auch hier das Zukunftsinstitut von Mathias Horx: „Die Menschen vor Ort tragen das Reiseerlebnis. Sie erfüllen den Standort mit Leben, machen ihn authentisch und vermitteln dem Gast jenes Gefühl, nach dem er in der globalisierten Gesellschaft sucht: temporäre Heimat. Ein Standort lebt von seinen Einwohnern und von seinen Akteuren, die dies begriffen haben.“ Damit dem Gast Achtsamkeit entgegengebracht wird, muss zuerst der Bewohner der Destination Achtsamkeit erfahren, es geht also ganz direkt um politische Weichenstellungen vor Ort.

Angesichts seiner Bedeutung ist es absurd, den Tourismus als Querschnittsbranche mit seiner vielfältigen Wertschöpfungskette (bis „hinunter“ zum Bäcker oder Winzer) und seinen offensichtlichen Infrastrukturleistungen nur als freiwillige Leistung und nicht als kommunale Pflichtaufgabe, also als unverzichtbare Daseinsvorsorge für die Menschen, zu sehen.

Text: Thomas Willauer (Bild: Achim Mende, Internationale Bodensee Tourismus GmbH)