„Und Herr Fuchtel reist durch Griechenland und privatisiert das Land“

20131010-001505.jpgMit Giorgos Chondros (s. Foto) kam ein Mann nach Konstanz, der wie kaum ein anderer die Probleme Griechenlands erläutern kann: Als Bürgermeister einer Berggemeinde, Führungsmitglied einer Linkspartei und Koordinator des Projekts „Solidarität für alle“ erlebt er die Auswirkungen der Knebelpolitik in seinem Land hautnah mit. Vor seinem ungemein kenntnisreichen Vortrag gab er Seemoz dieses Interview, das zeigt: „Griechenland ist überall“

Als Bürgermeister von Mesochora, einem Gebirgsort unweit von Trikala, dem Verwaltungssitz der griechischen Provinz Thessalien, bekommen Sie die Auswirkungen der Sparpolitik hautnah mit...

Das kann man wohl sagen: Seit zwei Jahren kriege ich kein Gehalt mehr – ohnehin nur 300 Euro. Mehr noch: Seit zwei Jahren sind sämtliche Zuschüsse für die Gemeinden von der Zentralregierung gestrichen. Dazu muss man wissen, dass Gemeinden in Griechenland keine eigenen Steuern oder auch nur Abgaben erheben können, sie bekommen nur Subventionen aus dem großen Steuertopf, den Athen verwaltet. Und dieser Hahn ist jetzt zugedreht. Unsere Büromittel für die Stadtverwaltung zum Beispiel zahlen wir aus eigener Tasche.

Das heißt: Die Menschen auf dem Land leiden unter der Sparpolitik mindestens genauso wie die Einwohner in den Metropolen Athen oder Saloniki?

Die Probleme sind die selben: Lohnabstriche, Arbeitslosigkeit (die Quote liegt landesweit bei 27 Prozent, für 2015 rechnet man mit 36 Prozent), Schulen werden geschlossen, Krankenhäuser sind nicht mehr bezahlbar (Schwangere dürfen nur noch entbinden, wenn sie vorab die Krankenhaus-Rechnung bezahlen können). Aber eine Entwicklung ist für die Landbevölkerung noch bedrohlicher: Herr Fuchtel reist übers Land und privatisiert die Wasser- oder Stromversorgung zunächst nur in den kleinen Gemeinden. Aber das ist der Anfang einer großen Privatisierungswelle, die über das ganze Land schwappt.

Zur Erinnerung: Hans-Joachim Fuchtel, schwäbischer Bundestagsabgeordneter und seit 2009 parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Soziales – in unserer Region bekannt als einstiger OB-Kandidat in Singen – ist Merkels Sonderbeauftragter für Griechenland. In dieser Funktion treibt er die Privatisierung öffentlicher Dienste voran. Man kann sagen: Herr Fuchtel verbreitet Angst und Schrecken in Griechenland…

Tatsächlich. Er ist zum lebenden Kennzeichen für die Verarmung unseres Landes geworden. Ein Beispiel: Im letzten Winter blieben über 100 000 Wohnungen ohne Strom und Wasser, die Menschen konnten schlicht die Rechnungen nicht mehr zahlen. Vier Millionen Griechen sind aktuell armutsgefährdet, drei Millionen haben den Zugang zur Sozialversicherung verloren. Wir befinden uns derzeit nach der Deregulierung der Arbeitsgesetze und der Einschränkung des Sozialstaates in der dritten Phase des Staatsumbaus: Der flächendeckenden Privatisierung. Das ist Neoliberalismus in Reinkultur, der sich im armen Griechenland noch verheerender auswirkt als anderswo in Europa.

Nach dem jüngsten Wahlsieg von Angela Merkel geht auch hierzulande die Angst vor neuen sozialen Einschnitten, zusätzlichen Privatisierungen, vor griechischen Verhältnissen, um. Ist solche Furcht berechtigt?

Natürlich. Griechenland, Spanien, Portugal sind nur die Übungsfelder für einen europaweiten Feldzug des Neoliberalismus mit dem Abbau staatlicher Vor- und Fürsorge im Gesundheitswesen, in der Bildung, bei der Versorgung mit Wasser und Strom. Dort überall wollen die europäischen Eliten in Politik und Medien den Einfluss des Staates zurückdrängen, um selber den Reibach machen zu können. Allerdings zu höheren Preisen, schlechterem Service und auf Kosten der Bevölkerung.

Als einer der Initiatoren von „Solidarität für alle“ versuchen Sie, Gegenwehr zu organisieren.

„Solidarity4all“ kann man als Koordinierungsstelle unzähliger Initiativen in Griechenland verstehen. Da werden soziale Kliniken eingerichtet, in denen Ärzte stundenweise und kostenlos die Armen behandeln. Da wird Schulunterricht gratis angeboten, Kleidersammlungen, aber auch Demonstrationen und Streiks werden organisiert. Wir begleiten zum Beispiel zu Hunderten die Frauen in die staatlichen Krankenhäuser, um ihre Behandlung zu erzwingen. Oder unterstützen wie vor drei Wochen einen Lehrerstreik, der gegen die drohende Entlassung von 12 000 Lehrern protestierte. Dazu muss man wissen: Bei uns gibt es keine Streikkasse der Gewerkschaften – die streikenden Lehrer, die ohnehin nur zwischen 600 und 1000 Euro im Monat verdienen, werden im nächsten Monat keinen Cent auf ihrem Konto haben. Aber sie wehren sich.

Auch als Führungsmitglied der linken Einheitspartei Syriza, die sich erst im Juli gegründet hat, arbeiten Sie an Alternativen zur gegenwärtigen Regierungspolitik. Mit welchen Chancen?

Griechenland wehrt sich vehement gegen die offizielle Politik, der Druck ist gewaltig – in den letzten zwei Jahren wurden zwei Regierungen zum Rücktritt gezwungen. Wir arbeiten an einem Bündnis aller fortschrittlichen Kräfte in unserem Land – dazu gehört auch die kommunistische Partei trotz einiger sektierischen Tendenzen, dazu gehört aber nicht die sozialdemokratische PASOK, die als Regierungspartei viele der heutigen Ungerechtigkeiten mit zu verantworten hat. Derzeit liegt unser Bündnis in Umfragen bei knapp 30 Prozent – wir sind zuversichtlich, in einer neuen Regierung unseren Beitrag zur Gesundung Griechenlands leisten zu können.

Und wie sieht dieser Beitrag konkret aus?

Wir haben ein Fünf-, ein Zehn- und ein 100-Tage-Programm. Zuerst sollte mit staatlicher Hilfe die Wirtschaftskatastrophe verhindert werden, aus staatlichen Hilfsprogrammen wird für Essen, Kleidung, Bildung und Gesundheit gesorgt. Dann aber müssen ganz schnell die Verträge mit der EZB und dem IWF annuliert und Kredite neu verhandelt werden. Ein Schuldenschnitt muss her. Denken Sie daran: Auch Deutschland hätte ohne den Schuldenerlass auf der Londoner Konferenz 1953, an der übrigens Griechenland beteiligt war, nie zu seiner heutigen Wirtschaftskraft gefunden. Und letztlich müssen wir Mittel und Zeit für eine Wachstumspolitik bekommen, die unsere Abhängigkeit von Importen aus dem europäischen Ausland verringert und Griechenlands Wirtschaftskraft stärkt. Ein radikaler Politikwechsel also ist nötig.

Dazu fällt mir ein…in diesen Tagen wurde der ehemalige Verteidigungsminister der Korruption überführt und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt…

Richtig. Es hat sich schmieren lassen für den Ankauf von Panzern und U-Booten. Aber woher kamen die Panzer, woher das Geld für diese überflüssigen Importe? Richtig, aus Deutschland. Und wer zieht die dafür verantwortlichen Manager aus Deutschland zur Rechenschaft?

Autor: hpk

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