Und plötzlich war wieder Stuttgart 21 in aller Munde

Es ging um Mindestlohn und Elterngeld, um die Bilanz der Regierungspolitik und die Reform der Gewerbesteuer. Aber letztlich war nur Stuttgart 21 das Thema, das die 50 Zuhörer der attac-Diskussion im Konstanzer Kulturzentrum aufregte – „wo Milliarden verpulvert werden, während um 5 Euro mehr für Hartz-IV-Empfänger monatelang gestritten wird.“ Und die Politiker auf dem Podium wussten dem Wähler-Frust wenig entgegen zu setzen – von der Denkzettelwahl im nächsten Frühjahr war nur im Publikum die Rede.

Dabei hatte Moderator Hendrik Auhagen von attac gleich zu Beginn der Veranstaltung darauf verwiesen, dass die Diskussion eben keine Wahlkampf-Veranstaltung zur Landtagswahl, sondern eine Bilanz nach einem Jahr schwarz-gelber Regierungspolitik werden sollte. Doch solche feinsinnige Differenzierung fünf Monate vor der Ba-Wü-Wahl konnten Publikum wie Politiker nicht nachvollziehen.

Die nämlich zogen in bewährter Manier übereinander her: Till Seiler von den Grünen geißelte die soziale wie ökologische Schieflage der Merkel-Mannschaft und nannte als Beispiele den Ausstieg aus dem Atomausstieg und die ungerechte Mehrwertsteuer-Verteilung nicht nur bei Hoteliers, Bernhard Hanke von der Linken wetterte gegen das vermeintliche Job-Wunder und belegte zahlenreich, dass die neuen Arbeitsplätze in der überwiegenden Mehrzahl prekäre Beschäftigungsverhältnisse seien, wodurch das Problem der Arbeitslosigkeit nicht behoben, sondern nur verschoben würde; der Biberacher SPD-Bundestagsabgeordnete Martin Gerster, kurzfristig für den erkrankten Konstanzer Abgeordneten Friedrich eingesprungen, kritisierte ebenfalls die schwarz-gelbe Arbeitsmarktpolitik und forderte einen bundesweiten Mindestlohn von 8,50.

Der Konstanzer CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Jung, nach wiederholter Absage von FDP-Politikern einziger Regierungsvertreter auf dem Podium, hatte es da schwer. Doch wortgewandter und kenntnisreicher als zu seinen Kandidatenzeiten vor noch wenigen Jahren stimmte er einem Mindestlohn wenigstens für Leiharbeiter zu und verteidigte die Atompolitik der Regierung. Fast mochte man meinen, die „besseren Ökologen“ seien CDU-Politiker.

Auf kommunalpolitische Sorgen kam Margrit Zepf zu sprechen, die als ver.di-Sprecherin die mit veranstaltende Dienstleistungsgewerkschaft vertrat. Sie kritisierte die Regierungspläne, die Gewerbesteuer und „damit eine der wichtigsten Einnahmequellen der Gemeinden“ abschaffen oder zumindest abändern zu wollen: „Einmal mehr soll die Wirtschaft entlastet und Bürgerinnen und Bürger zusätzlich belastet werden.“ Mit Ausnahme von CDU-Jung stimmten die Parteien-Vertreter auf dem Podium dieser Einschätzung zu, die Bernhard Hanke noch verschärfte, indem er eine Einbeziehung aller Freiberufler in diese Steuerart forderte.

Und dann natürlich Stuttgart 21. Vom Moderator nur als Einstieg in eine Diskussion über die Vergeudung von Steuer-Milliarden gedacht, überlagerte das beliebteste Protestthema der letzten Monate alsbald die Debatte. Von der Unaufrichtigkeit mancher Politiker war die Rede und vom unverhältnismäßigen Knüppeleinsatz der Polizei, von unsinnigen Prestigeprojekten und vom Argwohn der Bürger gegen Zahlen und Informationen aus Politikermund. Aber auch die Benachteiligung anderer Bahn-Bauvorhaben – wie die Schienenverbindung Konstanz-Stuttgart – zugunsten des Stuttgarter Wühltriebs wurde angesprochen. Und immer wieder geisterte das Wort von der Denkzettelwahl durch die Publikumsreihen.

Veranstalter solcher Diskussionsrunden sollten sich bis zur Landtagswahl am 27. März 2011 darauf einstellen, dass Stuttgart 21 das alles beherrschende Thema bleiben wird. Wobei Politiker, die darunter immer nur Bahnhof verstehen, ihre Vorurteile wohl neu ordnen müssen. Längst nämlich ist Stuttgart 21 zum Sammelbegriff für jede Form von Bürger-Wut und Wähler-Frust geworden, der jede Auseinandersetzung über andere politische Themen überwuchert. Das mussten sich auch die Veranstalter der Konstanzer Diskussionsrunde bedauernd eingestehen.

Autor: hpk