Ver.di gegen Amazon-Verteilzentrum in Trossingen

Zu den großen Gewinnern der Corona-Krise gehört Amazon. Der mächtige Internet-Versand­händler expandiert weltweit und streckt seine Arme nun auch in den baden-württem­bergischen Süden aus. Die Kleinstadt Trossingen im Landkreis Tuttlingen hat sich der Konzern als Standort für ein neues Verteilzentrum im Südwesten ausgeschaut. Der Gemeinderat hat im Dezember mehrheitlich grünes Licht für die Amazon-Pläne gegeben. Für die in nicht­öffent­licher Sitzung getroffene Entscheidung erntet er jetzt scharfe Kritik von der Dienst­leistungs­gewerkschaft ver.di.

Allein schon, dass eine „für die Stadt Trossingen derart zukunftsweisende Entscheidung“ unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefallen sei, ruft bei der Gewerkschaft „großes Unverständnis“ hervor, erklärt Markus Klemt, für den Fachbereich Handel verantwortlicher Sekretär im ver.di-Bezirk Südbaden laut einer Medienmitteilung. Die für Beschäftigte im Einzel- und Großhandel zuständige Gewerkschaft lehnt das Vorhaben strikt ab, sagt Klemt: Amazon gefährde „die guten Arbeitsplätze im Handel in Trossingen“.

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In der Stadt und ihrem Umland seien Lebensmittelkonzerne wie Edeka, Netto, Rewe/Penny, Aldi, Lidl und Kaufland an den Tarifvertrag des baden-württembergischen Einzelhandels gebunden. Andere orientierten sich wenigstens an diesen Werten, um motiviertes und qualifiziertes Personal anwerben zu können. „Alle diese auch für die Kommunen bezüglich des Steueraufkommens wertvollen Arbeitsplätze geraten durch die zunehmende Konkurrenz von Amazon unter massiven Druck“, fürchtet Klemt.

Der Grund: Handelsriesen wie Amazon oder Zalando ordnen sich der Logistik-Branche zu, weil sie damit ihre Beschäftigten deutlich schlechter bezahlen dürfen als die Konkurrenz im örtlichen Handel. Seit Jahren läuft ver.di gegen diesen Etikettenschwindel Sturm. Nach Rechtsauffassung der Gewerkschaft müssten auch im Geltungsbereich von Internet-Händlern die Bedingungen des Einzel- und Versandhandels gelten (siehe Kasten).

Das ist indes nicht der einzige Einwand der Gewerkschaft gegen die Amazon-Pläne in Trossingen. Bewusst zieht der Internetgigant derzeit kleinere Lager in ländlichen Regionen hoch, um durch größere Kundennähe noch schneller liefern zu können. Die gefragtesten Waren können so – dank modernster Logistik – in kurzer Zeit bereitgestellt und in Trossingen innerhalb einer Fahrzeit von fünf bis zehn Minuten angeliefert werden, Tag und Nacht. Diesen Wettbewerbsvorsprung können nach den Erfahrungen des Branchenkenners Klemt „die regional ansässigen Verkaufsläden niemals ausgleichen“.

Auch mit Blick auf neue Arbeitsplätze – die Rede ist von bis zu 190 –, die in der 16.000-Einwohner-Stadt entstehen würden, winkt ver.di ab. „Mit Ausnahme der Lagerleitung und einiger Teamleiter*innen ist für die meisten Arbeitsplätze wenig Qualifikation erforderlich. Es bedarf keiner Ausbildung oder diese wird kaum angeboten. Die Arbeitsplätze sind überwiegend zunächst befristet, Leiharbeit und niedrige Entlohnung prägen das Einkommensniveau“. Dazu kommen Tarifflucht und die Überwachung der Beschäftigten, so die Gewerkschaft unter Verweis auf Erfahrungen, die sie an anderen Amazon-Standorten machen musste. Der erfahrungsgemäß sehr heterogen zusammengesetzten Belegschaften wegen sei es überdies sehr schwer, Betriebsräte zu gründen. So arbeiteten an einem von ver.di betreuten Lagerstandort Menschen aus über 70 Nationen, schwierig denen das deutsche Betriebsverfassungsgesetz und die damit verbundenen Rechte zu vermitteln. Für die schlecht entlohnten Beschäftigten fehlt überdies oft ein angemessenes Angebot an bezahlbarem Wohnraum, ebenso wie Betreuungsmöglichkeiten für Kinder aus unterschiedlichen Kulturkreisen.

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Die Gewerkschaft verweist dazu auf das Beispiel Bad Oldesloe in Schleswig-Holstein. Zahlreiche Amazon-Beschäftigte müssen dort ihre miesen Einkommen mit Grundsicherung aufbessern, die Gemeinde war gezwungen, die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau aufzustocken. Dagegen bewegten sich die von Amazon gezahlten Steuern „auf dem Niveau eines kleinen mittelständigen Handwerksbetriebes“, wird Bad Oldesloes Bürgermeister Jörg Lembke zitiert. „Amazon liegt uns auf der Tasche, der Zuzug des Onlinehändlers ist unterm Strich kein Grund zur Freude.“ Das sieht man beim südbadischen ver.di-Bezirk mit Blick auf Trossingen ebenso und ermuntert deshalb alle Kritiker und Gegner der Ansiedlung von Amazon in Trossingen, „ihren Widerstand aufrecht zu erhalten“.

MM/jüg (Bild: LavaBaron, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Tarifbindung erodiert

Bis ins Jahr 2000 galten die Tarifverträge des Handels als allgemeinverbindlich und damit zwingend für alle Unternehmen der Branche. Dazu zählten in der Zeit vor dem Internet unter anderem die damaligen Katalogversandhändler wie Neckermann oder Quelle. Das erschwerte den Unternehmern, den Wettbewerb auf dem Rücken des Verkaufspersonals auszutragen. „Wir erleben in den letzten zwei Jahrzehnten eine Erosion bei der Tarifbindung“, beklagt Markus Klemt. Der Einzelhandelsverband weigert sich, gemeinsam mit dem Tarifpartner ver.di die Allgemeinverbindlichkeit beim Arbeitsministerium zu beantragen – was Voraussetzung für eine entsprechende Regelung nach dem Tarifvertragsgesetz wäre. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften möchten diese Forderung auch mit Blick auf das aktuelle Wahljahr als eines der wichtigen Themen bei der Arbeitsmarktpolitik behandelt wissen.