Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am Mittwochabend fand eine Kundgebung auf der Marktstätte statt, unterstützt von mehreren Konstanzer und Kreuzlinger Gruppen. Über 200 Menschen forderten offene Grenzen und sofortige Hilfe für Flüchtlinge. RednerInnen erinnerten an Konstanz als „sicheren Hafen“. Verlesen wurde auch ein Brief von Aktivistinnen auf Lesbos. Sie schilderten die „abgefuckte Situation“ vor Ort, die auch eine Ärztin im Telefongespräch mit seemoz bestätigte.

„Wir wollen eine Quotenregelung“, machte sich eine Rednerin des Konstanzer Vereins Save Me am Mittwochabend für eine gesamteuropäische Lösung der aktuellen Flüchtlingskrise stark. Die Menschen, die momentan auf den Inseln im griechischen Mittelmeer und zwischen der türkischen und griechischen Grenze in unwürdigen Bedingungen ausharren müssen, sollten schnellstmöglich versorgt und verteilt werden. Ihr dringender Appell gegen Abschottung und Hass sprach den Teilnehmenden der Kundgebung aus den Herzen, um so mehr, da der Bundestag am selben Tag mit 117 von 495 Stimmen gegen den Antrag der Grünen stimmte, 5000 unbegleitete Kinder, Schwangere, allein reisende Frauen oder schwer Traumatisierte aus Griechenland aufzunehmen.

Wut, Trauer und Empörung

Wenn der Bund nicht will, müssen die Menschen vor Ort eben auf eigene Faust handeln, befand deswegen ein Sprecher des Rojava Soli-Bündnisses Konstanz. „Lasst uns dafür kämpfen, dass Konstanz Flüchtlinge aufnimmt“, erinnerte er an den Konstanzer Beitritt zum Bündnis „Städte Sicherer Häfen“. Angesichts menschenverachtender Politik sprach sich ein Vertreter des Offenen Antifaschistischen Treffens für direkte Aktion vor Ort aus. „Ich habe es satt! Organisiert euch! Arbeitet an einem europäischen Paradigmenwechsel“, sagte er. Heftige Kritik äusserten die RednerInnen an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens Rhetorik (sie hatte Griechenland das „europäische Schild“ genannt), an den Verstössen Griechenlands gegen geltendes Recht, am Flüchtlingsdeal mit der Türkei generell oder an der Tatsache, dass die EU bewaffnete Militärs schickt, um die Grenzen zu „schützen“. Als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete ein Sprecher die Zustände. „Die EU hat diese Demonstration und keinen Friedensnobelpreis verdient“, so eine Rednerin.

Besonders eindrücklich waren die Schilderungen zweier Augenzeuginnen auf Lesbos, welche von einer Teilnehmerin verlesen wurde. Auf der drittgrössten Insel Griechenlands sei „ein undenkbarer Ausnahmezustand zur Normalität“ geworden.

Angriffe auf NGOs und Flüchtlinge

Diese Berichte bestätigte eine Helferin gegenüber seemoz. „Wir wurden am Sonntag von einem Mob angegriffen“, berichtet Lara (Name der Redaktion bekannt). Die Ärztin aus einer deutschen Großstadt hat in den vergangenen drei Jahren Einsätze auf Lesbos geleistet und ist seit mehreren Wochen auf der Insel. „Dass AnwohnerInnen und Faschisten uns Freiwillige angreifen, ist eine Eskalation der ohnehin schon schlimmen Zustände hier. Und ich fürchte, es könnte noch ernster werden“, beschreibt sie die Stimmung als Pulverfass. Hilfsbereitschaft sei bei einigen EinwohnerInnen in Wut auf die Mitarbeitenden von NGOs umgeschlagen, denen sie vorwerfen, mit ihrer Arbeit erst Flüchtlinge auf die Insel zu locken und dann an ihnen Geld zu verdienen. Ihren Namen will Lara nicht nennen; auch nicht die Organisation, für die sie arbeitet – denn sie befürchtet Repressalien.

Ihr Vertrauen in die örtlichen Behörden ist geschwunden: „Auf dem Rückweg vom Camp Moria hat der Mob unseren Autokonvoi angehalten und bei mehreren Wagen die Scheiben eingeschlagen. Wir mussten umdrehen und fliehen. Die Polizei kam zwar, schaute aber nur zu. Erst in den Morgenstunden konnten wir zurück in die Stadt.“ Das habe Erinnerungen an den April 2018 geweckt, als die Polizei in der Hauptstadt Mytilini mit Tränengas gegen protestierende Flüchtlinge vorging, während Rechtsradikale, die teilweise vom Festland kamen, wüten durften.

Die junge Frau hilft bei der medizinischen Grundversorgung der rund 20.000 Menschen, die im berüchtigten Flüchtlingscamp, teilweise schon mehrere Jahre lang, eingepfercht sind. Husten, Heiserkeit, grippale Infekte behandeln die Freiwilligen dort in Schichtarbeit und geben Medikamente ab. „Viele Menschen sind verstört von der Flucht, dabei sind die Bedingungen im Camp an sich schon traumatisierend“, berichtet sie. „Aber darauf weisen Ärzte ohne Grenzen schon seit Jahren hin!“ Es müsste bessere Betreuung u.a. für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Kinder im allgemeinen und Menschen mit chronischen Erkrankungen geben. Am Montag jedoch ging erst mal nichts mehr. Rechte Bürgerwehren blockierten die Zufahrt zum Camp. Aus Sicherheitsbedenken zogen die Hilfsorganisationen ihre Leute ab, ein Grossteil verliess die Insel.

HelferInnen arbeiten wieder

Mittlerweile hat sich die Situation etwas entspannt, so die Ärztin am Donnerstagmorgen. Die Blockaden sind verschwunden, die Arbeit im Camp wurde wieder aufgenommen. Doch es fehlt an Mitarbeitenden, um den „normalen“ Klinikbetrieb aufrechtzuerhalten. Der Müll stapelt sich nach wie vor, während am Hafen von Mytilini laut Medienberichten chaotische Zustände herrschen: Flüchtlinge sind in einem kleinen Areal eingegittert, müssen unter freiem Himmel übernachten und sollen baldmöglichst ohne Anhörung abgeschoben werden.

„Es kursierten Gerüchte, dass man die Insel per Fähre verlassen könne. Darum haben sich Dienstag und Mittwoch viele aus dem Camp auf in den Hafen gemacht.“ Dass ihnen auf dem Festland geholfen wird, bezweifelt Lara aber. „Viele wissen nicht, dass sie damit gegen Restriktionen verstossen. Sie werden aufgegriffen und abgeschoben.“

Zudem seien rund 500 Neuankömmlinge auf der Insel auf einem Marineschiff interniert worden. Dort sollen sie verbleiben, bis ein neues, geschlossenes Camp aufgebaut ist, wo sie dann im Schnellverfahren wegen illegalem Grenzübertritt verurteilt und in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. „Damit hebelt Griechenland die Genfer Flüchtlingskonvention aus und verstösst massivst gegen das internationale Recht eines jeden Menschen, um Asyl anzusuchen. Und Europa schaut tatenlos zu!“ Sie befürchtet zudem Schwierigkeiten, den Menschen in einem geschlossenen Camp Rechtsbeistand zukommen zu lassen.

„Ich bin wütend über das, was hier, auf den anderen Inseln und an der griechisch-türkischen Grenze passiert“, sagt sie abschließend. Sie fühle sich ohnmächtig und erschöpft und fordert die sofortige Evakuierung der Flüchtlinge von Lesbos: „Lasst die Menschen gehen, wohin sie wollen. Europa hat die Kapazität, Menschen aufzunehmen.“

Stefan Böker (Text und Fotos)