Vereint in Sorge und Hoffnung

Die Proteste in Chile ebben nicht ab: Seit Oktober kämpfen die Menschen gegen die korrupte Regierung und für soziale Gerechtigkeit. Exil-Chilenen aus Konstanz und Kreuzlingen zeigen ihre Solidarität und organisieren ein Konzert für verletzte Demonstranten.

Als Veronica Troncoso eine der Sprachnachrichten abspielt, fliessen beinahe Tränen. „Gustavo nos escucha“, Gustavo kann uns hören, lautet der Titel der Homepage, die sie den anderen gerade zeigt. „Menschen können Geburtstagsglückwünsche für Gustavo Gattica hinterlassen“, erklärt sie den Hintergrund des Projektes. „Er erblindete vollständig, nachdem er von Polizeikugeln getroffen wurde“ – eines von vielen Beispielen, wie in Chile den Opfern staatlicher Gewalt gedacht wird.

Unbeteiligte werden verletzt

Coco Cespedes, Veronica Troncoso, Nina Klösel (v. l.)

In den Räumlichkeiten des Konstanzer Sprachendiensts treffen sich die „Chilenxs en el Bodensee“ mindestens alle zwei Wochen. Troncoso lebt seit zweieinhalb Jahren in Konstanz. Sie hält Vorlesungen an der Universität Konstanz über Chile während der Zeit der Diktatur. Sie berichtet von Fabiola Campillay, einer Mutter, die auf dem Weg zur Arbeit von Tränengas getroffen wurde und ebenfalls vollständig erblindete. „Die Carabineros schiessen mit Schrotflinten absichtlich auf die Augen, sogar Unbeteiligte werden verletzt. Ich habe Angst um meinen Sohn, er hat sich den Protesten angeschlossen“, sagt sie. Auch die anderen in der Gruppe haben Freunde und Verwandte in Chile. „Ich mache mir grosse Sorgen, ich kann nachts nicht mehr schlafen“, bestätigt Fernanda Barrientos, die ebenfalls an der Uni Konstanz arbeitet.

Seit 18. Oktober wird in Chile fast täglich protestiert. Der ursprüngliche Grund war eine Preiserhöhung der Fahrkarten für den Nahverkehr, aber das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Kritisiert werden die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, das ungerechte Bildungs-, Renten- und Gesundheitssystem, hohe Wohnungspreise und korrupte Politiker – alles Folgen des neoliberalen Gesellschaftssystems nach der Zerschlagung von Pinochets Diktatur. In Chile ist sogar die Wasserversorgung privatisiert.

Die soziale Bewegung breitete sich schnell über das ganze Land aus.

„Ich habe Angst um mein Leben gehabt“

Álvaro Peña

Vor allem Ältere zeigen sich entsetzt über die heftigen Zusammenstösse. Wie ist es möglich, nach solchen Geschehnissen wieder friedlich zusammenzuleben, fragen sie sich. „Ich habe Tränengas abbekommen, es war wie im Krieg“, sagt Álvaro Peña. Der bekannte Musiker flüchtete in den 80er Jahren vor der Militärdiktatur und lebt schon viele Jahre in Konstanz. Im Oktober und November war er in Santiago de Chile, um Konzerte zu spielen und seine neue, in Kreuzlingen aufgenommene Platte vorzustellen. Doch die Termine mussten abgesagt werden. Er habe sich in seinem Hotel im Stadtteil San Isidor im wahrsten Sinne des Wortes verschanzt. „Es war gefährlich, nur das Gebäude zu verlassen“, sagt er. „Einige hundert Meter weiter wurden Häuser angezündet, ein Supermarkt geplündert. Ich habe Angst um mein Leben gehabt.“

Peña verliess das Land wie damals: als Flüchtling.

Es hat sich eine Menge Wut angestaut, geben Gruppenmitglieder zu. Ausschreitungen liessen sich deswegen kaum vermeiden. „Aber die Gewalttätigen bilden nur einen kleinen Prozentsatz. Die Sozialproteste sind mehrheitlich friedlich und werden von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragen“, so die einhellige Meinung der Gruppe. Was in Chile falsch läuft, haben sie teils selbst erfahren: „Ich musste drei Jobs gleichzeitig haben, um über die Runden zu kommen“, berichtet die Lehrerin Nina Klösel. Sie wanderte darum nach Konstanz aus und bringt die Forderungen der Demonstranten auf eine einfache Formel. „Sie kämpfen für das Recht, zu leben und glücklich zu sein.“

Die Berichterstattung des Fernsehens lege den Fokus allerdings auf Sachbeschädigung und Plünderungen, was die Regierung als Anlass nehme, mit aller Härte gegen die Demonstrationen vorzugehen. „Präsident Piñera will die Proteste auf diese Weise delegitimieren“, erklärt Ulrike Capdepon dieses Vorgehen. „Dazu benutzt er Kriegsrhetorik und imaginiert einen grossen, gemeinsamen Feind, den es zu bekämpfen gilt.“

Die traurigen Auswirkungen dieser Taktik: Seit Oktober gab es 22 Tote, über 2000 Verletzte, mehr als 7000 Verhaftungen. Laut Amnesty International erhielten über 270 Menschen Augenverletzung durch Geschosse der Polizei, mehrere Personen erblindeten (Stand: Ende November). Human Rights Watch dokumentierte, wie Polizisten systematisch Menschenrechte verletzten, etwa Frauen und Kinder zwangen, sich nackt auszuziehen. Auch Vergewaltigungen werden der Polizei und dem Militär vorgeworfen.

Präsident Piñera räumte unterdessen ein, dass es Polizeigewalt gegeben habe. Er kündigte an, Gummigeschosse zu verbieten. Geändert habe sich fast nichts: „Wer das Haus verlässt, lebt gefährlich“, beschreibt die junge Hebamme Gloria Espinoza die nach wie vor chaotische Situation in Chile.

Choreographie gegen Vergewaltigungen

Coco Cespedes aus Kreuzlingen gehört zu den Gründerinnen der Gruppe. „Es ist ganz wichtig, dass wir Einheit demonstrieren, wenn die ganze Welt auf unser Land schaut“, findet sie. Als Beispiel für eindrückliche, friedliche Proteste nennt sie die Choreographie von Las Tesis, einer Gruppe von Frauen aus Valparaíso, die sexualisierte Gewalt mit einer Performance anprangerte. Die Choreographie fand in Grosstädten wie Berlin oder Madrid Nachahmer und erregte grosse Aufmerksamkeit. „El Violador eres tú“, der Vergewaltiger bist du, riefen Tausende Frauen an Piñera gerichtet. „Darum gehen wir auch hier auf die Strasse“, sagt Cespedes, die ausserdem im grenzübergreifenden Aktionsbündnis „Ciclo“ aktiv ist, welches die Gruppe unterstützt. Bisher haben sie im Konstanzer Stadtgarten und auf dem Münsterplatz Kundgebungen organisiert. Weitere sollen folgen.

Cespedes setzt ihre Hoffnung in die von Piñera angekündigten Reformen. Die Bevölkerung soll zudem mehr Mitsprache erhalten und im April über eine neue Verfassung entscheiden. Die Volksabstimmung soll auch festlegen, wie sich das die Verfassung ausarbeitende Gremium zusammensetzt. „Wir haben das Vertrauen in die Politiker verloren“, plädiert die Spanischlehrerin für eine vollständig aus dem Volk kommende Verfassungsversammlung.

Andrés Urquiza

Die Vereinigung „Unidad Social“ sammelte im Vorfeld Inputs von verschiedenen Gruppen in Chile und im Ausland. Über 155 sogenannte „Cabildos“ wurden mittlerweile durch sie angehört. Auch die „Chilenen vom Bodensee“ folgten dem Aufruf der „Sozialen Einheit“ und äusserten sich, sagt Gründungsmitglied Andrés Urquiza. „Unter anderem verlangen wir einen neuen Sozialpakt und fordern die Regierung darin auf, mit der Protestbewegung in Dialog zu treten, statt die Demonstrationen zu zerschlagen.“

Der Architekt aus Konstanz kämpfte schon als Student gegen Pinochet. Die Bilder von den Protesten haben bei ihm schlimme Erinnerungen an damals geweckt.

Juan Veas

An ein baldiges Ende der Proteste glauben die „Chilenen vom Bodensee“ nicht. Sie planen weitere Aktionen, um die Menschen in ihrem Heimatland zu unterstützen – beispielsweise „Musik für Chile“, ein Anlass, den Juan Veas aus Kreuzlingen auf die Beine gestellt hat. Als Musiker hat er gute Kontakte in der Szene. „Mit den Einnahmen wollen wir den verletzten Demonstranten helfen, speziell den Menschen, deren Augen verletzt wurden. Mittlerweile ist die Zahl auf 352 gestiegen“, sagt er. Verbandsmaterial, Atemschutzmasken, Schutzbrillen und Medikamente werden gebraucht. Die Mitglieder der Gruppe haben bereits Geld gesammelt für Ärzte oder Krankenschwestern, die als freiwilligen Nothelfer auf den Strassen tätig sind. Veronica Troncoso wird noch im Dezember nach Chile reisen und vor Ort schauen, wo das Geld tatsächlich zu brauchen ist.

„In Chile findet gerade eine Revolution statt und wir müssen diese unterstützen“, fasst Veas die Meinung aller abschliessend zusammen.

Stefan Böker (Fotos: Stefan Böker, Daniel Oblitas)


Konzert und Spendensammlung

Am 18. Januar findet ein Solidaritäts-Konzert für Chile im Kreuzlinger Kult-X statt. Die Veranstaltung beginnt um 15.30 Uhr mit einem lateinamerikanischen Nachmittag. „Son Trés“ und Raul Ficá machen Musik, Carmen Ramos zeigt mit ihrer Tanzgruppe eine Flamenco-Aufführung. Ab 20 Uhr beginnt das Rock-Konzert mit Auftritten von „Parachute“ aus Konstanz, dem chilenischen Musiker Álvaro Peña und seiner Kreuzlinger Band sowie der Berliner 60s-Gruppe „The Recalls“. Alle Einnahmen gehen an Menschen, die bei den Demonstrationen verletzt wurden.

Die „Chilenxs en el Bodensee“ haben eine Facebookgruppe gegründet: Chilenxs en el Bodensee

Wer die Bewegung in Chile finanziell unterstützen möchte, kann sich an Juan Veas wenden, juan.veas@gmail.com.

Hier geht’s zur Veranstaltung: Musik für Chile